# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 12: Der Vorhang fällt | |
> Es geht dem Ende zu: Im Herbst 1944 suchen Mütterchen und Sandy Zuflucht | |
> in der Vergeistigung. | |
Bild: Ende 1944 gehen in Deutschland langsam die Lichter aus. | |
Im Herbst 1944 überstürzten sich die Ereignisse. Zuerst ging es Mütterchen | |
richtig beschissen. Im Rahmen eines „totalen Kriegseinsatzes der | |
Kulturschaffenden“ hatte Goebbels zum 1. September die Theater schließen | |
lassen. Alle Theater. Sämtliche Künstler des Landes wurden hinter ihren | |
Schreibtischen vor-, aus den Orchestergräben raus- und von der Bühne | |
runtergeholt und zu „kriegswichtigen Tätigkeiten“ verdonnert. | |
Das Gubener Theaterstarlet Ellis Heiden (Rollenfach: erste Salondame, Femme | |
fatale) wurde in die Offertenabteilung des Rüstungsunternehmens | |
Rheinmetall-Borsig AG verfrachtet. Offertenabteilung bedeutet so viel wie | |
Angebotserstellung und -kalkulation. Excel-Tabellen, Filterkaffee, | |
Ärmelschoner wären die aktuelle Entsprechung. Borsig produzierte in Guben | |
Maschinengewehre, Kanonen und Flugzeugkomponenten für den Bombenabwurf. | |
Mütterchen wird als Tippse angestellt gewesen sein und die Arbeit | |
boykottiert haben. In den Notizen, die ich vor 20 Jahren gemacht habe, | |
steht: „Bei Borsig im Büro Liebesbriefe an Sandy geschrieben.“ Das glaube | |
ich gern. Außerdem steht da, sie habe eine Krampfadernoperation gehabt, als | |
Goebbels die Theater schließen ließ. Das kann ich mir nun wieder gar nicht | |
vorstellen. Zumal in Sandys Briefen davon keine Rede ist. Das hätte er doch | |
gewusst. Von einem Gerstenkorn ist die Rede, das sie vor lauter Stress | |
gekriegt hat, im linken Auge. Da küsst er einige Briefe lang drauf zur | |
Genesung. Von Krampfadern keine Spur. | |
Mütterchen ist todunglücklich, das kann man deutlich lesen zwischen den | |
Zeilen. „Ick dachte, jetz dürfte ick nie wieder Theater spielen“, hat sie | |
gesagt. Und Theater war ihr doch immer das Wichtigste. Steht auch in meinen | |
Notizen. | |
Sandys Briefe schlagen ab dem 5. 9. 44 einen völlig neuen Ton an. Er | |
wechselt vom Rollenfach jugendlicher Liebhaber zum klassischen Helden. | |
Versucht es wenigstens. Und wie immer, wenn ihm was ernst ist, zitiert er | |
Heidegger: | |
„Die Wandlung unserer Beziehung stammt nicht aus einem Negativen, etwa dem | |
Herausgerissensein aus deinem Beruf, der sinnlosen Arbeit oder dem | |
’Ausgesetztsein in die bevölkerte Verlassenheit‘ der Offertenabteilung“, | |
schreibt er, „sondern sie kommt aus einem Positiven: aus dem in mir | |
erwachsenden Gefühl der Verantwortung für uns beide, aus dem Ausruhen in | |
deiner Liebe, der philosophischen Produktivität – wie du willst.“ | |
In der Folgezeit häufen sich die Heidegger-Zitate in Sandys Briefen. Es | |
ist, als ob sie beide Zuflucht in der Vergeistigung suchen. | |
Auch in Goldberg brechen harte Zeiten an. Mein Großvater verliert seine | |
Stelle im Labor bei Loewe Radio. Keine Ahnung, warum. Am 12. 10. muss er in | |
Goldberg aufs Arbeitsamt. „Die Situation ist der scheußlichsten eine“, | |
schreibt er an Mütterchen. „Der Leiter des hiesigen Arbeitsamtes übertraf | |
an Letztes-Stück-Dreck-Behandlung alles mir bisher Bekannte und hätte mich | |
am liebsten noch heute in einen Steinbruch gesteckt.“ Das hätte Sandy | |
keinen Monat überlebt, kurzsichtig, schwachbrüstig, kränklich, wie er war. | |
Zum Glück gerät mein Großvater dann an einen netteren Beamten, der die | |
Sache abzuwenden verspricht. Sandy solle am besten jeden Tag nachfragen. | |
Hoffnung keimt, nach Berlin zurückversetzt zu werden. Zur Familie, zu den | |
Eltern, dann könnte er seine Juschka nachholen und endlich richtig für sie | |
da sein. Sie könnten endlich heiraten. Ihr Leben könnte beginnen. | |
Einen Tag später der Schock. Am 13. Oktober 1944 sieht Sandy auf dem Tisch | |
des Sachbearbeiters im Goldberger Arbeitsamt ein Papier liegen. Der Schweiß | |
bricht ihm aus, die Knie werden ihm weich. Er bringt den Termin hinter | |
sich. Dann geht er umgehend aufs Postamt und meldet zwei Telefongespräche | |
an. Eins nach Guben, das andere nach Berlin. Er hat seinen Liebsten etwas | |
mitzuteilen. Während er auf die Verbindung wartet, beginnt er zu schreiben. | |
Es ist ein Brief nach Berlin, an seine Eltern und seine Schwester. Ein | |
Abschiedsbrief. | |
„Falls mich nichts mehr losreißen kann“, schreibt er, „wird dies für | |
längere Zeit der letzte Brief sein. Ich muss morgen nach Breslau zum | |
Arbeitsamt und ersah aus einem auf dem Tisch liegenden Zettel, dass ich der | |
OT überwiesen werde. Ich bin so unglücklich bei dem Gedanken daran wie | |
gestern bei der Vorstellung, irgendwohin als Hilfsarbeiter gesteckt zu | |
werden.“ | |
OT ist die Abkürzung für die nach dem Autobahnbaumeister Fritz Todt | |
benannte Organisation Todt. Sie war der kriegswichtigste Verein der Nazis | |
außerhalb von Wehrmacht und SS. Vor allem Freiwillige aus den | |
westeuropäischen Ländern haben dort im Auftrag Hitlers Straßen und Städte | |
gebaut. Auch der Westwall geht auf die Rechnung der OT. Es war besser als | |
Kriegsgefangenschaft, hat mir mal jemand erzählt. „Ab 1943 mussten auch | |
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene unter schwersten Bedingungen auf den | |
OT-Baustellen arbeiten“, heißt es auf der Internetseite des Deutschen | |
Historischen Museums. „Gegen Ende 1944 verfügte die OT über rund 1.360.000 | |
Arbeitskräfte, von denen nur etwa 60.000 Deutsche waren.“ Einer von ihnen | |
wurde mein Großvater. | |
20 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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