# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 9: Wenn Philosophen verliebt sind | |
> Mein Großvater war mir bestensfalls egal - bis ich anfing, seine Briefe | |
> zu lesen. | |
Bild: Sie war Adressatin der Liebesbriefe: Mütterchen, hier 1942. | |
Heute erzähle ich von meinem Großvater. Das heißt, ich will es versuchen. | |
Schließlich habe ich den Mann nie kennengelernt. Bis vor einem Jahr hatte | |
ich nicht mal eine hohe Meinung von ihm. Er war der Typ, der meine Oma | |
verließ, nachdem sie ihm das Leben gerettet hatte. Der in der DDR Kariere | |
machte und sich dabei nicht nur mit Ruhm bekleckerte. Er war mir | |
bestenfalls egal. | |
Dann habe ich angefangen, die Briefe zu lesen. Am 16. Mai 1944 schreibt er | |
aus Goldberg, wo er als Zwangsarbeiter bei Loewe Radio im Labor steht. | |
„Große Liebe, | |
es ist doch alles viel zu viel und ich werde damit nicht fertig. Gewiss, es | |
ist nicht dazu da, dass ich damit „fertig werde“, und leben ist ja – wie | |
ich durch dich lerne – das, was grösser ist als der, der es fühlt, | |
auszuhalten. Aber dass Liebe so schwer ist – das habe ich mir doch nicht | |
gedacht. Trotzdem man’s als Rilke-Leser wissen müsste.“ | |
Wenn Philosophen verliebt sind. Mein Großvater zitiert immer wieder Rilke | |
in seinen Liebesbriefen. Auch Hölderlin, Kant, Nietzsche und sogar | |
Heidegger. Am 5. Juni 44 schreibt er einen fünfseitigen Brief an | |
Mütterchen, in dem er folgende Themen abhandelt: | |
1. Die Liebe im Allgemeinen und im Besonderen | |
2. Die „Idee Theater“ | |
3. Das Wesen der Philosophie | |
Mütterchen hat den Brief kommentiert und eine Erwiderung auf Ränder, | |
Rückseiten und zwischen die Zeilen geschrieben. Ihre Schrift sieht aus wie | |
hingeworfen. Schnell, ausladend, ein bisschen verärgert manchmal. Die | |
Buchstaben sind dreimal so groß wie seine. Ich hab nachgemessen. Manchmal | |
streiten sie sich richtig. | |
Auf Seite drei schreibt er: „Übrigens: Heidegger, wie alle wirklichen | |
Philosophen, meint, es gäbe keine ’als‘-freie Erfahrung.“ | |
Mütterchen hat die Stelle angestrichen und unten auf der Seite kommentiert: | |
„Verstehe ich natürlich mal wieder kein Wort von.“ | |
Darunter wieder seine Minischrift: „Dann gib dir Mühe!“ | |
Seine Buchstaben sehen aus wie kleine, strenge Soldaten. | |
Mein Großvater war Berliner. Wie Mütterchen. Der reine Inzest eigentlich. | |
Sein Vater führte eine Buchhandlung, später ein wissenschaftliches | |
Antiquariat in der Rankestraße am Kurfürstendamm. In seinen | |
Lebenserinnerungen schreibt mein Uropa: „Zu meinen frühesten Kunden gehörte | |
auch der damals in der Marburger Straße wohnende Rilke, der | |
aussergewöhnlich schweigsam war.“ Bescheidenheit war nie eine Stärke in | |
dieser Familie. | |
In der Pogromnacht wurde das Geschäft zerstört. Mein Urgroßvater wurde | |
gezwungen, alle seine Bücher für zehn Pfennig pro Stück zu verkaufen, da er | |
„als Jude unfähig sei, deutsche kulturelle Interessen zu vertreten“, so | |
zitiert er die Verfügung der Reichsschrifttumskammer vom Februar 1939. | |
„Inmitten von Glasscherben und Bücherfetzen stellten wir eine notdürftige | |
Ordnung her, und so im Halbdunkel, hinter herabgelassenen Jalousien, | |
fristete ich ein halbverborgenes Dasein.“ Nur zwei Koffer behielt er | |
zurück. Zwei Schrankkoffer voll mit Erstausgaben, mit denen er das Geschäft | |
nach 45 wiederaufbaute. | |
Die Firma Loewe Radio kam eigentlich auch aus Berlin, hatte ihre Produktion | |
jedoch zu Kriegsbeginn nach Osten ausgelagert, das war damals schon | |
billiger. Erst recht, wenn man die Arbeit von jüdischen Zwangsarbeitern wie | |
meinem Großvater verrichten ließ. Ironischerweise waren die Gründer | |
Siegmund und David Loewe selbst Juden. Sie wurden 1938 im Rahmen der | |
„Arisierung“ enteignet und in die Emigration getrieben. | |
Im selben Jahr trat mein Großvater sein Philosophiestudium an der Uni | |
Rostock an. Er hatte sein Abitur mit Auszeichnung bestanden, sprach | |
Englisch, Französisch und Latein und hatte zweimal eine Schulklasse | |
übersprungen. | |
Meine Urgroßmutter war damals extra nach Rostock gefahren, um beim Dekan | |
vorzusprechen, damit ihr Sohn studieren durfte. Sie war eine sehr | |
autoritäre Person, meine Urgroßmutter. Wir nannten sie Mumi. Streng war | |
sie, preußisch, protestantisch. 1936 hatte sie beide Kinder taufen lassen. | |
Auf den letzten Drücker. Kluge Frau. Sie sah genauso aus wie die englische | |
Queen. Vom Scheitel bis zur Handtasche. Nur dass die Queen damals noch gar | |
nicht so aussah. Im Grunde hat die Queen meine Uroma kopiert. | |
Der Rostocker Dekan hatte wahrscheinlich einfach Angst vor ihr. | |
Mumi war auch eine jener „arischen“ Frauen, die im Frühjahr 1943 in der | |
Rosenstraße in Mitte für die Freilassung ihrer jüdischen Männer | |
demonstrierten. | |
SS und Gestapo hatten am 27. Februar 1943 mit der sogenannten Fabrikaktion | |
angefangen, die noch verbliebenen Berliner Juden – darunter meinen | |
Urgroßvater – in Sammellager zu sperren, um sie später nach Auschwitz zu | |
deportieren. Eines dieser Lager war das ehemalige Verwaltungsgebäude der | |
Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße am Hackeschen Markt. Bereits am Abend | |
des 27. Februar bildete sich vor dem Gebäude eine Menschenmenge von | |
mehreren hundert Personen, vorwiegend Frauen und Angehörige der | |
Inhaftierten, die ihre Männer zurückforderten. Und sie bekamen. Fast alle | |
2.000 in der Rosenstraße inhaftierten Juden wurden nach einer Woche wieder | |
freigelassen. Ob aufgrund der Proteste oder aus bürokratischen Gründen, ist | |
heute umstritten. Ich stelle mir trotzdem gerne vor, wie meine Urgroßmutter | |
Mumi mit festem Schritt und gezückter Handtasche auf den Obernazi | |
losgegangen ist und ihm die Leviten gelesen hat, was er sich eigentlich | |
einbilde, wer er denn bitte schön sei, hier anständige Bürger einzusperren, | |
ob er mal nachgedacht habe, was er hier eigentlich tue und ob eigentlich | |
seine Eltern wüssten, was für einen ausgemachten Blödsinn er hier | |
fabriziere. Der Obernazi wird Kopf und Schwanz eingezogen haben, betreten | |
genickt, „Jawohl, gnä’ Frau!“, gemurmelt und die ganze Fabrikaktion | |
abgeblasen haben. | |
Zu dem Brief vom 16. Mai gehört ein abgeschriebenes Rilke-Gedicht, datiert | |
auf den Juli 1914, Paris: | |
„ ’Man muss sterben weil man sie kennt.‘ Sterben | |
an der unsäglichen Blüte des Lächelns. Sterben | |
an ihren leichten Händen. Sterben | |
an Frauen.“ | |
30 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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