Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 7: Wunderzug nach Guben
> Wie hat meine Großmutter ihren künftigen Mann kennengelernt? Das ist eine
> gute Frage.
Bild: Mütterchen in ihrer Zeit am Stadttheater in Guben.
Sollte ich über diesem Kapitel meinen Verstand verlieren und in vielen
Jahren alt und einsam in einem Armenstift für bekloppte Schriftstellerinnen
den Löffel abgeben, seid so gut und schreibt auf meinem Grabstein: Killed
by chapter seven.
Ich hab die Geschichte, wie meine Großeltern sich kennenlernten, schon mal
erzählt. Aber sie stimmt nicht. Dabei ist sie wirklich passiert. Hat
Mütterchen gesagt. Sie selber war aber gar nicht dabei.
Ihr findet das verwirrend? Willkommen in meinem Leben!
Also.
Mütterchen war von 1940 bis 44 im Engagement am Gubener Stadttheater. Guben
ist heute Grenzstadt zu Polen, damals nicht, weil es kein Polen gab.
Hilde Born war die allerbeste Freundin meiner Großmutter. Eine zierliche
Frau mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen; genau das Gegenteil von
Mütterchen. Früher dachte ich, die beiden seien schon in Oranienburg
zusammen zur Schule gegangen, aber das stimmt nicht. Das war noch eine
andere Hilde. Kein Wunder, dass sich Mütterchen den Künstlernamen Ellis
zulegte. Hildegard war vor hundert Jahren so was wie Lea heute. Eine
Sammelbezeichnung. Diese Hilde war verheiratet mit Walter Born, einem Maler
und Grafiker.
Die beiden Freundinnen hatten eine Verabredung, dass die kleine Hilde sich
die große Hilde in jeder Spielzeit einmal auf der Bühne ansah, egal ob
meine Oma bei der Wanderbühne Frankfurt am Main spielte oder die Nazis
einen „totalen Krieg“ verloren. Mütterchen spielte, Hilde kam. Deshalb saß
Hilde Born im Frühjahr 1944 in dem Zug, den die beiden den „Wunderzug nach
Guben“ nannten, weil der aus unerfindlichen Gründen immer halbleer war.
Hilde Born saß wieder fast allein im Abteil. Außer ihr war in Berlin am Zoo
nur ein junger Mann zugestiegen. Der hatte dunkles Haar, einen großen Mund
und eine Brille.
Moment. Vielleicht saß er auch schon im Abteil und sie stieg später zu. Ich
hab keine Ahnung, wo Hilde Born zu der Zeit wohnte.
Vielleicht war es auch so:
Ein junger Mann mit Brille sitzt allein im Abteil und liest in einem Buch.
Draußen im Gang schieben sich einzelne Gestalten vorbei. Hilde Born sieht
den Mann durch die Scheibe, befindet ihn für sympathisch und öffnet die
Schiebetür. Der Mann blickt auf, sieht die Frau und lächelt. „Tag“, sagt …
schüchtern. „Guten Tag“, grüßt sie erleichtert zurück, „ist hier noch
frei?“ – „Bitte sehr!“, sagt er, zeigt auf die leeren Plätze und lacht.
„Alles zu Ihrer Verfügung.“ Hilde dankt und setzt sich. Der Mann nickt ihr
kurz zu, dann vertieft er sich wieder in seine Lektüre. Ein schmales
Bändchen. Den Einband hält er mit der Hand verdeckt.
Oder noch anders:
Sie sitzt im Zug, nur ein oder zwei Fahrgäste im selben Abteil. Er steigt
zu. Er öffnet die Coupétür. „Tag!“, sagt er. „Guten Tag“, sagt sie. …
Hitler“, murmeln die andern beiden.
Er setzt sich neben sie. „Stört es Sie, wenn ich lese?“, fragt er. „Nee�…
sagt sie, „Woher denn?“
Daraufhin kramt er das schmale Bändchen aus der Tasche, schlägt es auf und
beginnt zu lesen. Manchmal kichert er verhalten. Sie, neugierig geworden,
schielt hinüber in das Buch:
„Lieber Herr Rowohlt“, liest Hilde Born, „Dank für Ihren Brief vom 8. 6.
Ja, eine Liebesgeschichte? lieber Meister, wie denken Sie sich das? In der
heutigen Zeit Liebe? Lieben Sie? Wer liebt denn heute noch?“
Hilde Born stutzt, liest noch mal, sieht den Mann an, räuspert sich und
sagt: „Sagen Sie mal, das is doch ’Schloss Gripsholm‘, oder?“
Und er hört auf zu lesen, blickt auf, sieht sie an und sagt: „Ja. Haben Sie
was dagegen?“
Und sie sagt: „Nein, ganz im Gegenteil!“
Augenblick. Noch mal zurück. Erst müssen wir die anderen Fahrgäste
aussteigen lassen. Schließlich haben die vorhin den Hitlergruß gemurmelt.
Man kann nie wissen, wie ernst die Leute das meinen und ob sie wissen, dass
„Gripsholm“ von Tucholsky ist, dessen Werk sie verbrannt haben auf dem
Bebelplatz, der in der Emigration gestorben ist, vor neun Jahren schon,
nee, vor acht.
„Damit“, sagt Mütterchen, „war die politische Frage jeklärt. Man setzte
sich ja damals nich hin und las Tucholsky, wenn man kein Antinazi war.“ –
„Aber er war doch Jude“, hab ich mich gewundert, „das war doch klar, dass
er kein Nazi war.“ – „Wie sollte Hilde denn sehen, dass er Jude war?“ �…
durch den Stern!“ – „Dein Großvater war ein Mischling, ein sogenannter, …
hatten keine Sterne.“ – „Nicht?“ – „Nein.“ – „Ach so.“
Jedenfalls ist der junge Mann dann nicht mehr zum Lesen gekommen, sondern
hat sich sehr nett unterhalten. Bis der Wunderzug dort ankam, wo, wie es in
’Schloss Gripsholm‘ heißt, „alle bessern Geschichten anfangen: am Bahnho…
Er wusste es nicht besser, der Tucholsky, er starb rechtzeitig. Aber in dem
Fall sollte er recht behalten.
Guben. Hauptbahnhof. Gleis eins. Mütterchen wartet schon. Der Zug hält an,
die Türen öffnen sich und aus einer der Türen heraus stürmt mit roten
Wangen und glänzenden Augen Hilde Born, die ihrer besten Freundin um den
Hals fällt und keucht: „Da links ... aus dem Abteil ... da guckt ein junger
Mann raus ... Lad’ den ma’ zu dir zum Kaffee ein!“
Wozu hat man allerbeste Freundinnen?
Meine Großmutter geht hin, besieht sich den Mann kurz, dann sagt sie: „Also
gut. Von mir aus. Nächsten Samstag. 15 Uhr. Kurmärkische Straße 37. Aufgang
drei. Bei Kaufmann klingeln.“
Der Mann grinst. Der Zug fährt an. Ein Jahr später haben sie geheiratet.
16 Jan 2014
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Fortsetzungsroman
Theater
Berlin
Porträt
Familiengeschichte
Fortsetzungsroman Der Lappen muss hoch
Fortsetzungsroman
Fortsetzungsroman
Fortsetzungsroman
Fortsetzungsroman
Fortsetzungsroman
Familiengeschichte
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 10: Brillenmarke Mütterchen
Gegen meine Oma war Daniel Düsentrieb ein Anfänger. Ich glaube, es hat
damit zu tun, dass sie Hausarbeit verabscheute.
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 9: Wenn Philosophen verliebt sind
Mein Großvater war mir bestensfalls egal - bis ich anfing, seine Briefe zu
lesen.
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 8: Ficken gegen den Endsieg
Der Brief vom 15. 5. 1944 ist der älteste, den ich von meinem Großvater
habe. Die Schrift ist ameisenklein und schnurgerade. Und der Brief ein
Zeugnis der Liebe.
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 6: Hundert Seiten Liebesbriefe
Manchmal grabe ich in den alten Dokumenten meiner Großmutter. Sie riechen
nach Dachboden, das Papier ist brüchig.
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 5: „Komm vor, mach Faxen!“
Meine Großmutter war eine leidenschaftliche Schneiderin. Über ihr Talent
herrschten allerdings geteilte Ansichten.
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 4: Der traurige Leopard
Zelterlebnisse, oder: Wie Mütterchen zu Mütterchen wurde.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.