# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 5: „Komm vor, mach Faxen!“ | |
> Meine Großmutter war eine leidenschaftliche Schneiderin. Über ihr Talent | |
> herrschten allerdings geteilte Ansichten. | |
Bild: Mütterchen hatte viele Talente. | |
Das höchste Lob, das meine Großmutter zu vergeben hatte, hieß: „Eens ruff | |
mit Schulmappe und Stullntasche!“ Das gab es nur für außerordentliche | |
Leistungen. Oder solche, die sie für außerordentlich hielt. Wenn Onkel | |
Klaus ein besonders kniffliges Kreuzworträtsel gelöst hatte zum Beispiel. | |
In Schulnoten entspräche das einer Eins mit Sternchen und liegt noch über | |
der allgemeinen Berliner Höchstwertung „Kann man nich meckern!“ (1 bis 2). | |
Darauf folgten: „Is doch bildschön!“ (2) und „Is doch noch sehr anständ… | |
(3). Ab da ging es schon in die Kritik. Note vier: „Schon mehr jelacht!“ | |
Fünf: „Dein Wort in Jottes Jehörgang!“ Bis zur alles vernichtenden Note | |
sechs: „Euch hamse wohl mitm Klammerbeutel jepudert?!“ | |
Meine Tante Erna sagt, sie ertappe sich selber manchmal dabei, die Worte zu | |
benutzen. Neulich beim Kartoffelsuppekochen stand sie am Herd, tunkte den | |
Löffel in die Suppe, rührte, kostete und murmelte trocken: „Schon mehr | |
jelacht.“ | |
Ich fühle mich Mütterchen beim Fluchen besonders nah. „Himmel, Arsch und | |
Zwirn!“, hat sie immer gerufen, wenn sie an der Nähmaschine saß. Und da saß | |
sie oft. Die Worte waren mit den Jahren zu einem einzigen verschmolzen. | |
„Himmelarschundzwirn!“, brüllte Mütterchen und saugte sich einen | |
Blutstropfen vom Finger. Irgendeine Stecknadel wurde immer übersehen. Und | |
bei jedem Einfädeln hielt sie die Lupe über die Nadel und murmelte: „Komm | |
vor, mach Faxen!“ | |
Meine Großmutter war eine leidenschaftliche Schneiderin. Über ihr Talent | |
herrschten allerdings geteilte Ansichten. Vor allem zwischen ihr selber und | |
den potentiellen Nutznießern der Kunst – ihrer Familie. | |
„Mit Mütterchens Schneiderkünsten ist es wie mit den Gedichten von Johannes | |
R. Becher“, hat Tante Erna mal gesagt: „Jedes zehnte is richtich juut!“ | |
Einmal sollte Mütterchen Erna einen Pullover nachstricken. Erna hatte extra | |
sauteure Wolle ausm Westen besorgt und Mütterchen ihren Lieblingspullover | |
als Muster dagelassen. Aber meine Großmutter, die patente Frau, strickte | |
die Ärmel nicht so oversize-pluderig wie die Vorlage, sondern exakt bis zu | |
Ernas Handgelenk. „Sonst stippste doch ständig mit dem Ärmel in die Suppe�… | |
hat sie gesagt. | |
Ein anderes Mal hat Mütterchen bei einer Levi’s, die sie flicken sollte, | |
das Schild hinten abgetrennt, das Etikett, das wichtigste Detail an dem | |
ganzen Kleidungsstück! Bei der innerfamiliären Empörungswelle tippte sie | |
sich nur wieder verständnislos an die Stirn und murmelte: „Ick weeß janich, | |
watt ihr habt. Ditt is doch bildschön so!“ | |
Seitdem hab ich mich lieber selber an die Maschine gesetzt. | |
„Wenn ick man nich mehr bin, erbst du meine Nähmaschine“, verkündete | |
Mütterchen zufrieden, wenn ich eine meiner Second-Hand-Hosen flickte. Seit | |
ich Anfang der Neunziger in die Pubertät gekommen war, gab ich mein | |
gesamtes Taschengeld für Klamotten und Musik aus, die so alt waren wie | |
meine Eltern. „Könnt ihr euch keine eigene Jugendbewegung suchen?“, | |
schimpfte Tante Erna, wenn ich wieder alle ihre Beatles-Platten ins | |
Kinderzimmer verschleppt hatte. | |
Das Problem mit den alten Hosen war bloß, dass sie nicht lange hielten. Die | |
Stoffe waren morsch. Der erste Riss verlief stets am Hintern, zwischen | |
Mittelnaht und rechter hinterer Hosentasche. Der so genannte klassische | |
Unterarschriss. | |
Wenn man da einen Flicken draufsetzte, folgte der nächste Riss am Rand der | |
Flickennaht, weswegen der zweite Flicken den ersten leicht überlappen | |
musste. Dann riss die linke Poseite und dann waren Knie und Oberschenkel | |
dran. Mein Hintern sah aus wie die politische Landkarte der USA. Mit lauter | |
bunten Rechtecken auf unebenem Grund und Texas als größtem Fetzen in der | |
Mitte. Ich war nämlich Hippie, deshalb mussten die Flicken bunt sein. | |
Mütterchen hatte im Schlafzimmer eine Truhe stehen, groß wie ein Esstisch, | |
die war bis oben hin voll mit Stoffresten. Wegschmeißen konnte sie nicht so | |
gut, meine Großmutter. Mein Vorteil. | |
Fast jede Woche saß ich bei Mütterchen auf dem Sofa oder an der Nähmaschine | |
und stichelte an meinen Hosen herum. Währenddessen redeten wir über Männer. | |
Oder sie erzählte Geschichten. Und wenn ich fertig war, begutachtete meine | |
Großmutter das Ergebnis und sagte: „Brav, mein Mädchen! Eens ruff mit | |
Schulmappe und Stullntasche!“ | |
Dieses Jahr habe ich eine Nähmaschine zu Weihnachten bekommen. Hatte ich | |
mir gewünscht, weil Mütterchens alte Singer letzten Sommer implodiert ist. | |
Ich wollte eine Hose flicken. Wie eh und je. Die Maschine hat gehakt, dann | |
verknotete sich der Unterfaden und dann ist die Nadel gebrochen. | |
„Himmelarschundzwirn!“, hab ich gebrüllt, den Unterfaden aus der Maschine | |
gepopelt, die Nadel gewechselt, zweiter Versuch. Und plötzlich, puff!, | |
stieg ein Rauchwölkchen auf. | |
Zu Weihnachten haben sie alle zusammengelegt und mir eine neue geschenkt. | |
„Ach prima!“, hat Tante Erna gesagt, „dann kannst du ja jetzt alle meine | |
Sachen ausbessern!“ Ja genau, denke ich, ich freue mich schon auf die | |
Empörungswellen. | |
Gestern hab ich das erste Mal mit der neuen Maschine einen Flicken | |
aufgesetzt. Wieder eine Singer. Sie schnurrt wie ein Kätzchen. „Komm vor, | |
mach Faxen!“, hab ich beim Einfädeln gesagt. Und über das Ergebnis kann man | |
zumindest nicht meckern. | |
2 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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