# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 3: Der erste Kontakt | |
> Wie schafft man von Oranienburg den Sprung auf die Theaterbühnen? | |
Bild: Im Garten des Elternhauses. | |
In den Aufzeichnungen, die ich gemacht habe, während Mütterchen Geschichten | |
erzählte, steht drin, wegen Carsta Löck sei sie Schauspielerin geworden. | |
„Die hat mich unglaublich beeindruckt“, steht da, „so was wollte ich auch | |
machen.“ Meine Schrift ist groß und krakelig. Das Papier ist dick. Wie | |
Löschpapier. Der Stift schmiert. Ich bin 16 ungefähr. Mütterchen ist 83. | |
„Über deine Liebhaber könnste ooch ’n Roman schreiben“, sagt sie. Seit … | |
in die Pubertät gekommen bin, reden wir nur noch über Männer, meine Oma und | |
ich. „Quatsch“, sage ich, „über deine Liebhaber. Über dein Leben! Wills… | |
nich ma dein Leben aufschreiben, Omi?“ – „Um Jottes willen“, sagt | |
Mütterchen und ringt die Hände überm Kopf. Ihre Lieblingsgeste. | |
Als Mütterchen 16 war, 1928, kam sie auf die Schauspielschule. Einen | |
Versuch gab ihr der Vater, sonst hätte sie im Geschäft anfangen müssen. Die | |
Eltern hatten einen Gemischtwarenladen in Oranienburg, Mittelstraße 7. Den | |
hatte die Mutter eröffnet, als der Vater in Gefangenschaft war. In | |
Frankreich. Sechs Jahre war er weg, 1921 kam er zurück, da war Mütterchen | |
neun. „Mein Vater war der Mann, der mir meine Mutter wegnahm“, sagt sie. | |
Mütterchen hat immer erzählt, wie sie mit ihrer Mutter im Theater war als | |
Kind, wie glücklich sie war, da hinten in der letzten Reihe auf den | |
billigen Plätzen. Wie sie in der Pause die mitgebrachten Wurststullen | |
gegessen haben. | |
In welchem Theater werden sie gewesen sein? Im Deutschen? Bei Max | |
Reinhardt? Wie alt war sie? Zehn? Ich war zehn bei meinem ersten DT-Besuch. | |
Kein Wort hab ich verstanden. | |
Ich stelle mir vor, wie die kleine Hilde an der Hand ihrer Mutter in | |
Oranienburg in die S-Bahn steigt. Sie hat ihr bestes Sonntagskleid an. Es | |
kratzt entsetzlich. Aber Hilde ist so aufgeregt, es stört sie gar nicht. | |
Sie fahren bis Friedrichstraße, dann laufen sie über die Fußgängerbrücke | |
zum Schiffbauerdamm … | |
„Wie lange gibt es diese Brücke schon?“, hab ich Mütterchens Tochter Erna | |
gefragt. „Schon immer“, hat sie gesagt, „diese Brücke hat es schon immer | |
gegeben.“ – „Und seit wann fährt die S-Bahn von Oranienburg bis | |
Friedrichstraße durch?“ – „Pffft“, sagt Tante Erna, „weeß ick ooch … | |
Ich recherchiere. „Wie bistn jefahrn?“, wollte Mütterchen immer wissen. Von | |
jedem. Bei jeder Familienfeier. Sie bildete sich was ein auf ihr Talent, | |
stets die cleverste Fahrverbindung zu finden, sowohl in Ost- als auch in | |
Westberlin. Seit sie als Rentnerin reisen durfte, amüsierte sie die Familie | |
nach jedem Westausflug mit Beschreibungen ihrer Bus- und Bahnfahrten durch | |
jenen Teil der Stadt, der für den Rest der Familie lediglich ein weißer | |
Flecken auf der Landkarte war. „Und denn bin ick mitta eins bis | |
Kurfürstendamm und hab doch tatsächlich noch den Bus jekricht!“ – „Toll, | |
Mütterchen!“, murmelten Tante Erna und Tante Beate und hörten nicht hin, | |
weil sie in den Büchern blätterten, die Mütterchen geschmuggelt hatte. | |
Mütterchen hatte sich extra für ihre Westausflüge einen Schmugglermantel | |
genäht. Der sah von außen aus wie ein normaler Trenchcoat. Doch das | |
Innenfutter bestand ausschließlich aus Taschen. Manchmal hatte sie so viel | |
Zeug dabei, dass sie auf dem Rückweg drei Konfektionsgrößen mehr draufhatte | |
als auf dem Hinweg. Die Biermann-Platte hat sie sich mit einem Gürtel auf | |
den Rücken geschnallt. Später transportierte sie so die aktuellen Ausgaben | |
des Magazins Der Spiegel. Sie fand das lustig. Sportlich. Wie das mit den | |
Fahrplänen. „Ditt alte Mütterchen“, werden die Grenzer gedacht haben, „… | |
schmuggelt doch höchstens Kaffee.“ | |
Eigentlich wollte ich ja von Mütterchens erstem Theaterbesuch erzählen und | |
von meinen S-Bahn-Recherchen. Zuerst gucke ich im Internet. Man glaubt gar | |
nicht, wie viele Seiten es über die Berliner S-Bahn bei Wikipedia gibt. Und | |
jede Seite erzählt ein bisschen was anderes. Ich bin ratlos. Ich | |
telefoniere. Wer sollte hier kompetenter Auskunft geben können als das | |
S-Bahn-Museum Berlin? | |
„Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wie man 1922 mit der S-Bahn | |
von Oranienburg zur Friedrichstraße gekommen ist?“ – „Woher soll ick denn | |
dit wissen?!“, poltert der Museumsmitarbeiter. Schön, wenn sie den Charme | |
des Unternehmens in die Museumsarbeit integrieren. Das macht es | |
authentischer. „Wir sind doch keene Historikerhotline“, sagt er, „müssen… | |
mal im Internet gucken, www.wikipedia.de!“ | |
Wikipedia sagt auch, Carsta Löck habe erst 1930 ihr Debüt in Berlin | |
gegeben, da war Mütterchen mit ihrer Schauspielausbildung längst fertig und | |
in Beuten in Oberschlesien im Engagement. | |
Ich habe noch mal geguckt in meinen Aufzeichnungen von damals. Da steht | |
nichts vom Deutschen Theater. Da steht: | |
„– in Oranienburg kein Theater | |
– mit Mama zu Gastspielen in Lokalen aus Berlin | |
– Karsta Löck beeindruckt | |
wollte auch | |
– Mutter war nicht begeistert, aber Verständnis | |
brachte Max dazu, sie zur Schauspielschule zu lassen“ | |
Die waren nie im DT. Die haben in Oranienburg in der Kneipe gesessen, | |
Kleinkunst geguckt und ihre mitgebrachten Wurstbrote verzehrt! | |
Nächste Woche erzähle ich von Mütterchens Liebhabern. | |
12 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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