| # taz.de -- Robert Harris' neuer Krimi: Ein Offizier und Gentleman | |
| > Den Geheimdiensten zu misstrauen war auch im Frankreich des 19. | |
| > Jahrhunderts angebracht. „Intrige“ befasst sich mit der komplexen | |
| > Dreyfus-Affäre. | |
| Bild: Gefangen unter Palmen: Die Teufelsinsel, auf die Alfred Dreyfus verbannt … | |
| Mit den Beschäftigten der NSA und vergleichbarer Dienstleister, deren | |
| Aufgabe es ist, in der digitalen Datenflut nach den wenigen verwertbaren | |
| Informationen zu fischen, sollte man Mitleid haben. Wenn die derzeitige | |
| Generation von Spionen in Rente geht, wird es darunter womöglich nicht | |
| wenige hochbezahlte Spezialisten geben, die ihr ganzes Berufsleben lang vor | |
| einem Bildschirm verbracht und keine einzige relevante Entdeckung gemacht | |
| haben. | |
| Wie aufregend, ja, sinnlich-romantisch war dagegen das Agentenleben noch im | |
| späten 19. Jahrhundert! Mitteilungen wurden auf Zettel geschrieben und in | |
| Fetzen entsorgt. Putzfrauen konnten sich ein Zubrot verdienen, indem sie | |
| den Inhalt von Papierkörben bei den einschlägigen Stellen ablieferten. | |
| Fingerfertige Geheimpolizisten setzten in stundenlanger Puzzlearbeit | |
| zerrissene Botschaften wieder zusammen. | |
| Um andere Menschen abzuhören, musste man sich in deren unmittelbare Nähe | |
| begeben, technisch höchstens unterstützt durch ein schwer zu versteckendes | |
| Hörrohr. Die Fotografie existierte schon, war aber eine brandneue und noch | |
| unglaublich teure Technologie. | |
| Es ist selbstverständlich, dass einer wie Robert Harris diese Details | |
| akribisch recherchiert hat, bevor er sich hinsetzt und einen Roman schreibt | |
| über einen der spektakulärsten Geheimdienst- beziehungsweise Justizskandale | |
| der europäischen Geschichte – die Dreyfus-Affäre. Sie spaltete Frankreich | |
| Ende des 19. Jahrhunderts in zwei politische Lager. | |
| ## Die Entdeckung der gefälschten Beweise | |
| Nicht der zu Unrecht wegen Landesverrat verurteilte jüdische Offizier | |
| Alfred Dreyfus ist der Protagonist von Harris’ Roman, sondern Marie-Georges | |
| Picquart, ein hoher Offizier, der später Kriegsminister von Frankreich | |
| werden sollte. Picquart, der zunächst von Dreyfus’ Schuld überzeugt ist, | |
| übernimmt 1895, nachdem Dreyfus verurteilt und auf die Teufelsinsel | |
| verbannt wurde, eine Abteilung des militärischen Geheimdienstes. | |
| Beauftragt, nach weiteren Beweisen für die Schuld des Verurteilten zu | |
| suchen, findet Picquart im Gegenteil heraus, dass Beweisstücke gefälscht | |
| wurden und der wahre Schuldige in der Dreyfus-Affäre in Wirklichkeit ein | |
| anderer ist. Doch seine Bemühungen, den Fall wieder aufzurollen, stoßen bei | |
| seinen Vorgesetzten nicht auf Gegenliebe: Picquart wird seines Amtes | |
| enthoben und nach Nordafrika versetzt. | |
| Picquart als Ich-Erzähler in den Mittelpunkt eines Dreyfus-Romans zu | |
| stellen, ist ein genialer Schachzug. Eigentlich ist es erstaunlich, dass | |
| Harris offenbar als Erster auf die Idee kam. Die charakterliche Entwicklung | |
| dieses überaus korrekten Offiziers von einem lediglich gewissenhaften | |
| Soldaten, der Dreyfus für schuldig hält und im Übrigen, genau wie das Gros | |
| der Gesellschaft, einen latenten Antisemitismus pflegt, hin zu einem | |
| aufrechten Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit, ist bereits ein ungemein | |
| dankbarer Stoff für einen Roman. | |
| Zudem wird dieser Entwicklungsroman begleitet von einer fesselnden Agenten- | |
| beziehungsweise Detektivgeschichte, gekrönt von einem Justizdrama inklusive | |
| haarsträubender politischer Intrige. | |
| ## Alle Voraussetzungen für eine Verfilmung | |
| Für den Fall, dass irgendwann jemand auf die Idee kommen sollte, seinen | |
| Roman zu verfilmen, hat der Autor im Übrigen auch bereits eine | |
| Liebesgeschichte mit hineingeschrieben, die im Unterschied zu allen anderen | |
| Teilen der Handlung vermutlich nicht hundertprozentig auf historischer | |
| Genauigkeit fußt. | |
| Alles zusammengenommen ergibt eine ganz große Oper. Die Dreistigkeit, mit | |
| der im Fall Dreyfus Beweise gefälscht, die Öffentlichkeit manipuliert und | |
| schließlich von höchsten Stellen die Wahrheit mit allen Mitteln vertuscht | |
| wurde, ist unfassbar. Man müsste Harris’ Roman für übertrieben halten, wenn | |
| man nicht wüsste, dass der Autor sich ausschließlich an den Fakten | |
| entlanggearbeitet hat. | |
| Ohne viel Text an feinsinnige Charakterisierungen zu verschwenden, zeichnet | |
| er mit wenigen Strichen solide Figuren; ohne ein großer Sprachzauberer zu | |
| sein, findet er immer den richtigen Ton. Und die sehr komplexe, um nicht zu | |
| sagen verworrene Geschichte der politischen Intrige gegen Dreyfus, und in | |
| der Folge gegen dessen Unterstützer, wird im Laufe der in | |
| Picquart-Perspektive erlebten Handlung so detailliert aufgedröselt, dass | |
| man das Buch schließlich mit dem ganz und gar nicht unangenehmen Gefühl | |
| zuklappt, unglaublich viel erfahren zu haben und dabei noch gut unterhalten | |
| worden zu sein. | |
| Wer will, kann auch politische Parallelen seiner Wahl zur Gegenwart ziehen. | |
| Zu den Stärken von Harris-Romanen gehört jedoch auch, dass aktuelle | |
| politische Lesarten oft möglich, aber stets fakultativ sind. Den | |
| Geheimdiensten zu misstrauen kann jedenfalls zu allen Zeiten nicht schaden. | |
| 16 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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| Fortsetzungsroman | |
| Alice Munro | |
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