| # taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 1: Auf der Suche nach Mütterchen | |
| > Sie hieß Hildegard Lücke, nannte sich Ellis Heiden, war Schauspielerin | |
| > und ungemein praktisch veranlagt. Nur: Wie schreibt man ihr Leben auf, | |
| > wenn man ihre Enkelin ist? | |
| Bild: Ellis Heiden 1939. | |
| Die Vorstellung war miserabel. Hilde wusste es in dem Augenblick, als die | |
| Vorhänge über die Bretter der kleinen Bühne wischten und in der Mitte | |
| zusammenschlugen. Sie wusste es, während sie sich aus der Rolle der Eve | |
| herausschälte und nach Ludwigs Hand griff, der im Kostüm des Dorfrichters | |
| Adam neben ihr stand. Sie wusste es, ehe der Applaus einsetzte, der | |
| verriet, dass die Damen und Herren, die da im Zuschauerraum ihre | |
| Handflächen gegeneinander schlugen, mit den Gedanken schon ganz woanders | |
| waren. In der Kneipe nebenan, im Bett mit dem Sitznachbarn. Einige | |
| klatschten so gelangweilt, die waren im Kopf vermutlich schon wieder im | |
| Büro am nächsten Morgen. | |
| „Kommste noch mit“, fragte Ludwig auf dem Weg zur Garderobe, „einen Krug | |
| auf die Scherben vom ’Zerbrochenen Krug‘ trinken?“ Hilde schüttelte den | |
| Kopf. „Heute nicht“, sagte sie, „bin noch verabredet.“ Sie warf die | |
| Garderobentür zu. Draußen grummelte Ludwig: „Im eigenen Theater die Tür vor | |
| der Nase zugeschlagen. Bin immerhin der Direktor dieses Etablissements!“ | |
| Eilig streifte Hilde Eves Kleid ab und schlüpfte in den Hosenanzug, tunkte | |
| hastig ein Tuch in die Vaseline, rieb die Schminke ab, wusch das Gesicht, | |
| zog Augenbrauen und Lidstrich nach, tuschte die Wimpern und trug Rouge auf. | |
| Noch etwas Puder. Fertig. | |
| Jetzt war sie wieder sie selbst: Die Schauspielerin Ellis Heiden auf dem | |
| Weg zu ihrem Verlobten Dr. med. Erich Goldschmidt. | |
| Er wartete am Hinterausgang. Sie sank in seine Arme. Er küsste sie. „Du | |
| warst bezaubernd“, sagte er. „Blödsinn“, sagte sie und richtete sich auf, | |
| „grottenschlecht war ich. Zweimal hab ich meinen Einsatz verpasst und | |
| einmal wär ich fast gestolpert, weil Ludwig seinen Umhang hat liegen | |
| lassen. Aber du weißt ja: Der Lappen muss hoch! Hast du ’ne Zigarette?“ | |
| Erich zog das Etui aus der Manteltasche. „Hast du Hunger?“, fragte er. Sie | |
| nahm die Zigarette, er gab ihr Feuer. „Ich könnte einen Ochsen verdrücken�… | |
| sagte sie, blies den Rauch in die Nacht und hakte sich bei ihm unter. Sie | |
| liefen die regennasse Straße entlang. | |
| „Wie war dein Tag?“, fragte Hilde. „Ach, normal“, sagte Erich, „paar | |
| Beschimpfungen, ein paar Behandlungen. Das Übliche.“ – „Was’n passiert… | |
| fragte Hilde. – „Willst du das wirklich wissen?“ – „Solln die Frage? … | |
| bin deine zukünftige Ehefrau. Natürlich will ich das wirklich wissen!“ | |
| Erich seufzte, zog im Gehen eine Zigarette hervor, zündete sie an. „Max, | |
| der Sohn von der Gemüsehändlerin, erinnerst du dich?“ – „Der kleene | |
| Blonde?“ – „Ehmderselbige. Der hat mich heute gefragt, warum ich gar keine | |
| jüdische Nase habe.“ | |
| Aus einer Kneipe am Mainufer hallte Gesang: „Die Fahne hoch! Die Reihen | |
| fest geschlossen …“ | |
| Die Nase. Ausgerechnet! Entnervt stoße ich mich vom Tisch ab und drehe mich | |
| zum Fenster. „Sie sank in seine Arme. Er küsste sie.“ Klingt einwandfrei | |
| nach Groschenroman. Mütterchen würde sich totlachen. Fehlt eigentlich nur | |
| noch, dass sie ohnmächtig wird und er sie wiederbeleben muss. „Seine | |
| starken Arme hielten sie fest. Der Geruch seines Rasierwassers war das | |
| Letzte, woran sie sich erinnerte.“ Nee! „… war das Letzte, was sie | |
| wahrnahm, bevor ihr die Sinne schwanden.“ Großartig! Das ist Literatur! | |
| „Mistkacke!“, sage ich laut und gehe in die Küche. Kaffee aufsetzen. | |
| Wäschewaschen müsste ich mal wieder. Gehe stattdessen aufs Klo. Muss aber | |
| gar nicht. Stelle mich vor den Spiegel und untersuche mein Gesicht. Da! | |
| Eine verirrte Augenbraue. Meine Pinzette ist erbarmungslos. Der kurze | |
| Schmerz verschafft mir Genugtuung. Wenn schon nichts geschafft, so doch | |
| wenigstens gelitten. | |
| Mütterchen hatte die Augenbrauen so ganz hoch oben. Wie Jean Harlow. Die | |
| war nur ein Jahr älter als meine Oma und schon ein Star 1936, als | |
| Mütterchen bei der Wanderbühne Frankfurt am Main war. Genau gesagt war sie | |
| da schon fast wieder tot. Harlow starb 1937. Meine Großmutter starb 2005. | |
| Geboren als Hildegard Lücke, legte sie sich noch auf der Schauspielschule | |
| den Künstlernamen Ellis Heiden zu, „damit, falls ick ma berühmt werde, denn | |
| nicht irgendson Schreiberling kommt und in sein Käseblatt kritzelt: ’Eine | |
| Lücke hat sich aufgetan auf den Brettern, die die Welt bedeuten.‘“ Sie war | |
| eben Zeit ihres Lebens eine ungemein praktisch denkende Frau, meine | |
| Großmutter. Für uns hieß sie Mütterchen. | |
| Ich gucke in den Spiegel. Hatten die überhaupt Einzelgarderoben bei der | |
| Wanderbühne? Die hatten doch nicht mal Requisiten, richtige. Ich schmeiße | |
| die Pinzette ins Waschbecken und gehe zurück zum Schreibtisch. So geht das | |
| alles nicht! | |
| 28 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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