# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 17: Lesen lernen | |
> Post von Großvater: Die gelben A5-Papiere mit winziger | |
> Ameisenkacke-Schrift sind in vielerlei Hinsicht eine Zumutung. Aber dann | |
> dieser Absatz, voller Zärtlichkeit. | |
Bild: "Wenn ich die Briefe heute sehe, denke ich: 'Wattn? Geht doch!'“ | |
Jeder Staat will beschissen werden. Hat Mütterchen immer gesagt. Die war | |
ganz anders als ihre Schwiegereltern. Die hat sich niemals von irgendwem | |
irgendwas vorschreiben lassen. Und recht hat sie gehabt damit. Frisch auf | |
der Schauspielschule, 1928, hat sie sich mitschleifen lassen von einer | |
Freundin auf eine Kundgebung der NSDAP. Die Freundin war nämlich total | |
verknallt in den Mann, der aussah wie Charlie Chaplin, nur in scheiße. (Ich | |
soll nicht immer so ordinäre Kraftausdrücke benutzen, sagt Tante Erna. | |
Recht hat sie, sagt Paul.) Jedenfalls hat Mütterchen gesagt, sie hätte | |
dieses tobende Männlein auf dem Rednerpult dermaßen lächerlich gefunden, | |
dass das Thema Nazis für sie von da an geklärt war. | |
Früher dachte ich, Mütterchen hätte das aus Koketterie gesagt. Mittlerweile | |
glaube ich ihr. | |
Mütterchen hat immer ihr eigenes Ding gemacht. Ein Brief fällt mir ein, | |
maschinengeschrieben, datiert auf den 7. 11. 44, adressiert an Marta | |
Scholz, Goldberg, Horst Wessel Platz 8: | |
„Sehr geehrtes Fräulein Heiden! | |
Wie Sie ja wohl wissen, ist Herr Streisand nun auch zur Wehrmacht | |
eingezogen worden. Die Firma Opta, bei der er beschäftigt war, verlangt von | |
mir, dass ich sein Zimmer anderen Werksangehörigen zur Verfügung stelle. | |
Ich muss Sie also bitten, schnellstens nach hier zu kommen, um Ihre zwei | |
großen Koffer abzuholen, da ich diese sonst nirgends unterbringen kann. Ich | |
nehme an, dass Sie in Folge Ihrer neuen Beschäftigung jetzt nur am | |
Wochenende Zeit haben und erwarte Sie also am kommenden Samstag.“ | |
Freundlicher Gruß, gekrakelte Unterschrift. Darunter steht mit Bleistift in | |
Mütterchens ausladender Künstlerinnenschrift: „Gefälschter Brief, mit dem | |
ich eine Reisebescheinigung bekam, um nach Goldberg zu fahren. Fahrt am 11. | |
11. 44.“ Ihr letztes ruhiges Wochenende. Danach kam Berlin. Und dann war | |
Sandy in Jena. Im Lager. | |
Die Briefe ab dem 3. Dezember 1944 waren die ersten, die ich je von ihm | |
gelesen habe. Darin stehen Sachen wie: „Der 60jährige Kapellmeister aus | |
unserer Stube ist philosophisch toll gebildet, wirft mit Plato und | |
Nietzsche bloss so um sich – gemeinsame Bekannte haben wir auch schon | |
entdeckt.“ | |
Ach du Schreck, dachte ich damals, vor über einem Jahr, als ich die gelben | |
A5-Papiere mit der winzigen Ameisenkacke-Schrift das erste Mal in den | |
Händen hielt. Wer sollte das entziffern? Stunden- und tagelang saß ich | |
gesenkten Hauptes über den Blättern und starrte die Minibuchstaben an, bis | |
meine Nackenmuskeln versteinerten und ich Sternchen sah, sobald ich den | |
Kopf hob. | |
Wenn ich die Briefe heute sehe, denke ich: „Wattn? Geht doch!“ Damals | |
musste ich erst mal das „h“ und „k“ und „l“ voneinander unterscheid… | |
lernen, das „B“ vom „R“ und die „g“ von den „p“ und den „q“… | |
Beim ersten Hinsehen hielt ich die Zeilen für Linien. Nur langsam erhoben | |
sich Lettern daraus. Und erst nach langer Hypnose gewannen sie so was | |
Ähnliches wie Bedeutung. | |
Dem Zitat oben folgt eine Klammer. Als ich den Text das erste Mal las, | |
verstand ich ungefähr Folgendes: „(Suraune Rerckhott, das hysterische | |
maclibeu mit denn Roman su ’sehr enter Srbbnis‘ und cleu durih | |
Kinderkriegen zelepentlich unlerbrohenen dhilaroplutschen Rcmeihungen).“ | |
Heute, ein Jahr später, sehe ich schon beim Überfliegen, was da steht. | |
Nämlich: „(Susanne Kirchhoff, das hysterische Mädchen mit dem Roman zu ’i… | |
erstes Erlebnis‘ und den durch Kinderkriegen gelegentlich unterbrochenen | |
philosophischen Bemühungen).“ | |
Gott, war der Mann mir unsympathisch! Was für ein arrogantes Gelaber, | |
dachte ich, als ich die Schrift endlich lesen konnte. Wie ist der denn | |
drauf? | |
Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, was Mütterchen, mein Mütterchen, | |
die coolste Oma der Welt, von so einem Klugscheißer gewollt haben sollte. | |
Worüber redete der da? Außerdem fühlte ich mich von seiner Schrift | |
verarscht. Es war, als würden die Zeilen sich biegen und mich spöttisch | |
anlächeln. „Geh mal ins Bett, Mädchen“, schienen sie zu sagen, „Das hier | |
ist nichts für dich. Das verstehst du nicht.“ | |
Heute sehe ich seine Einsamkeit, das Geworfensein, wie sein geliebter | |
Heidegger es genannt hätte (der solche wie meinen Großvater wiederum gar | |
nicht liebte, wie sich dieser Tage deutlich zeigt). Ich sehe, wie er sich | |
festklammert an der Philosophie, während er auf Post aus Berlin und Guben | |
wartet. Offensichtlich sind mindestens zwei Briefe von ihm nicht bei | |
Mütterchen angekommen. | |
Auf der vierten Seite schreibt er endlich: „Ich lebe in der unbedingten und | |
mich fest haltenden Gewissheit unserer Liebe, freue mich auf die ersten | |
Briefe von Dir (hoffentlich mit viel Gubener Kleinkram!), und freue mich | |
aufs nächste Weihnachten mit meiner Frau – heute hast du hoffentlich | |
kräftig geschlafen, Dich mit Norli unterhalten, gelesen, Deinen Pudding | |
alleine aufgefuttert, und schon die ersten beruhigenden Nachrichten | |
bekommen, die Dich von der Liebe und dem Wohlergehen Deines Erwählten | |
überzeugt haben.“ | |
Der Absatz versöhnte und erstaunte mich. So viel Zärtlichkeit hatte ich dem | |
berühmten Mann mit der Hornbrille, der er später wurde, gar nicht | |
zugetraut. | |
Heute kenne ich ihn besser. Er ist kein alter Mann mehr für mich, sondern | |
ein Jüngling von 24 Jahren, der das erste Mal verliebt ist, während er | |
gleichzeitig die schlimmste Zeit seines Lebens vor sich hat. | |
## Am 8. April liest Lea Streisand im taz-Café! | |
31 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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