| # taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 20: Genug der Abschiedsbriefe | |
| > Der Krieg geht zu Ende, die sowjetische Armee steht an der Oder. Und was | |
| > ist mit Mütterchen und Sandy? Wo sie sich wiedersehen werden, ist völlig | |
| > unklar. | |
| Bild: Die Russen sind da! | |
| Ende Januar 1945 wurde Guben evakuiert. Spätestens. Im großen Ploetz ist | |
| schon der 12. Januar 1945 fett gedruckt. Daneben steht was von | |
| „Großoffensive gegen die von allen Reserven entblößte deutsche Ostfront, | |
| die sich in wenigen Tagen auf den gesamten Raum zwischen Memel und Karpaten | |
| ausdehnt.“ Die Wehrmacht ist im Westen beschäftigt. Nichts Neues. | |
| Für die Bewohner der Ostgebiete, Mütterchen zum Beispiel, wird der | |
| russische Angriff zur Katastrophe, steht da. „Sie versuchen, sich in Trecks | |
| nach Westen durchzuschlagen oder die Ostseebrückenköpfe zu erreichen, von | |
| denen aus die deutsche Kriegsmarine eine groß angelegte Rettungsaktion | |
| durchführt. Für diejenigen, die von der Roten Armee eingeholt oder | |
| überrollt werden, bedeutet dies in den meisten Fällen Verschleppung, | |
| Vergewaltigung oder Tod.“ | |
| Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich das lese. Mütterchen hat sich | |
| nämlich nicht evakuieren lassen. Die wollte dableiben. In Guben. Wo hätte | |
| sie auch hin sollen? Der Mann, den sie liebte, war in Jena im Arbeitslager. | |
| In dem Haus ihrer Eltern in Oranienburg wohnte jetzt die zweite Frau ihres | |
| verstorbenen Vaters, eine dämliche Ziege, wie Mütterchen sagt. Und in | |
| Charlottenburg wartete eine Schwiegermutter in spe, die sie nicht leiden | |
| konnte. | |
| Die Wohnung in der Kurmärkischen Straße 37 ist das einzige Zuhause, das | |
| Mütterchen noch hat. In diesem Bett hat sie das erste Mal mit ihrem | |
| Geliebten geschlafen, an diesem Fenster hat sie gesessen und jeden seiner | |
| Briefe gelesen. Immer und immer und immer wieder. | |
| Und außerdem war sie einfach eine unglaublich renitente Person, meine | |
| Großmutter. | |
| „Die haben alle einen Uffriss jemacht!“, sagt sie, als wir Jahrzehnte | |
| später in ihrer Wohnung am Tierpark sitzen in Berlin-Lichtenberg, | |
| Erich-Kurz-Str. 7. Sie hat das Strickzeug vor sich auf dem Schoß, ich habe | |
| Eierkuchen im Bauch bis zum Anschlag und das Schreibzeug auf den Knien. | |
| „Hattest du keine Angst?“, frage ich. Dass die Ankunft der Roten Armee kein | |
| Freudentanz war, hatte ich sogar mit meinen 16 Jahren schon mitgekriegt. | |
| „Nee, woher denn!“, sagt Mütterchen, „Was sollten die mir denn tun, dach… | |
| ick, ick war doch Anti-Nazi. Immer jewesen.“ Es gruselt mich, wenn ich das | |
| schreibe. | |
| Im Ploetz steht, am schnellsten war die Invasion in der Mitte der Front: | |
| „Warschau wird am 17. Januar erobert. Am 30. Januar hat die Rote Armee bei | |
| Küstrin schon einen Brückenkopf über die Oder gewonnen und bedroht | |
| unmittelbar Berlin.“ | |
| Wieder studiere ich die Landkarten. Küstrin liegt nicht mal hundert | |
| Kilometer nördlich von Guben an der Oder. Frankfurt (Oder) liegt genau in | |
| der Mitte. Am 15. Januar ist Mütterchen aus Jena zurückgekommen. Am 19. | |
| schreibt mein Großvater folgenden Monstersatz: | |
| „In der allgemeinen Nervosität – die halbe Stube hat ja leichten | |
| Lagerkoller, alles faucht sich an, und ich kann v. a. über Peter und Werner | |
| nur staunen: dass man einen unsympathischen Menschen ernst nimmt, kommt mir | |
| dabei so komisch vor ( – Deine göttliche Heiterkeit ist mir so lebendig: | |
| aus der heraus lebe ich doch, und zu ihr gehört doch auch, dass unangenehme | |
| Menschen einfach mit verzeihender Liebe angesehen werden, und man sie sich | |
| gerade mit dieser Liebe vielleicht auch fernhält – ) – in der allgemeinen | |
| Nervosität also habe ich einen Gegenstand philosophischen Nachdenkens | |
| gefunden: dass nämlich Not [eingefügt: „-> soweit man bei uns davon reden | |
| kann“ Fußnote: „eingebildete Not, oder wenigstens Unbefriedigtheit – und | |
| Unzufriedenheit über sich selbst. Not ist falsch: Unbefriedigtheit muss da | |
| stehen“] den Menschen schlecht macht.“ | |
| Wie bitte? | |
| „Unglück verhärtet, oder macht zum mindesten gleichgültig gegen andere | |
| Menschen.“ | |
| Ach so! | |
| Sandy macht sich wahnsinnige Sorgen um seine Zukünftige. Ich kann es sehen | |
| an der verwirrten Verschwurbeltheit seiner Sätze. Am Anfang in Jena, als es | |
| ihm selber schlecht ging, sind seine Briefe immer länger geworden und immer | |
| verkopfter. Als wollte er seinen Körper und all seine Bedürfnisse, seine | |
| Schmerzen und sein Verlangen ausschalten. Ich kenne das. Wie nervig, wenn | |
| der Körper einem ständig dazwischenfunkt; essen will, trinken, schlafen, | |
| aufs Klo muss. Anstrengend ist das. Von den Begierden gar nicht zu reden. | |
| Ich muss an das Gedicht „Der Engel“ denken von Jewgeni Jewtuschenko. | |
| „Ich wiege nichts mehr. Ich bin reiner Geist. Ich schwebe überm Pflaster | |
| wie ein Hauch. Ich schwebe, schwebe. Niemand dreht sich um. Was können die | |
| Frauen schon an mir sehen. | |
| Ich bin ein Engel.“ | |
| Mein Großvater ist dazu erzogen worden, nicht zu klagen, egal, wie | |
| beschissen es ihm geht. Deshalb schwurbelt er. Als aber die Angst um seine | |
| Juschka größer wird als die um ihn selber, da verlassen ihn die Worte. | |
| Eigentlich herrscht im Lager Nachrichtensperre, aber natürlich dringen die | |
| OKW-Berichte doch zu den Häftlingen durch. Was nicht mehr durchdringt, ist | |
| Post. Ihre Briefe kommen nicht mehr an, seine werden immer kürzer. | |
| Am 22. schreibt er eine Seite, dann eine Woche gar nichts. Das gab es | |
| überhaupt noch nie. Am Dienstag, den 30. 1. ist Post von ihr angekommen, | |
| ein Einschreibebrief vom vorigen Mittwoch. Er antwortet: „Vielleicht sind | |
| dies schon die letzten Briefe für längere Zeit, ich habe ein schlechtes | |
| Gewissen wegen meines Schweigens – aber es geht nicht. Heute ist die Lage | |
| insofern geklärt, als Peter, Egon und Schlundchen als erste von allen | |
| abgereist sind und ich – von ihrer verfrühten Psychose angesteckt – fast | |
| ein Stück mitgestottert und zu dir gekommen wäre. Aber deine weisen | |
| Mahnungen, und die Überlegung, dass ich wenig nütze, aber dich, die Familie | |
| und mich nur belaste und gefährde, siegten eine Stunde vor Abfahrt doch | |
| noch. Mir wird immer klarer, was für einen Irrsinn ich da fast begangen | |
| hätte. Geduld, Liebes – sagen wir uns beiden, nicht wahr? – | |
| Wo wir uns nun sehen werden, weis ich noch nicht, aber ich bin unbedingt. | |
| Nur dies eine Ziel: mit Dir zusammen zu leben. Abschiedsbriefe haben wir | |
| uns ja wirklich schon genug für ein ganzes Ehevierteljahrhundert | |
| geschrieben, aber mit noch etwas mehr Feierlichkeit als sonst soll – falls | |
| Du wirklich in Guben bleiben willst und wir dann getrennt werden könnten – | |
| meine Jungfrau, Mutter, Königin und Göttin es hören: | |
| Ich liebe Dich. | |
| Ewig | |
| Dein Sandy“ | |
| 18 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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| sind in vielerlei Hinsicht eine Zumutung. Aber dann dieser Absatz, voller | |
| Zärtlichkeit. |