| # taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 22: Der lange Marsch nach Berlin | |
| > Irrungen und Wirrungen: Am Ende steht Mütterchen glücklich und erschöpft | |
| > vor der Wohnung mit dem Klingelschild "Streisand" in der Eislebener | |
| > Straße. | |
| Bild: Es war ein harter Kampf durch das tief verschneite Berliner Umland Anfang… | |
| Vier Hemden zog Mütterchen übereinander und fünf Hosen, denn „was man am | |
| Leib trägt, trägt man nicht“, hat sie gesagt, und oben drüber noch den | |
| Pelzmantel. Den hatte sie sich zu Kriegsbeginn erschlichen. Erspielt, muss | |
| man sagen. | |
| Was für ein Glück! Zu Beginn des Krieges gab es nämlich noch | |
| Entschädigungen für Bombenopfer. Hilfsarmee, Rotes Kreuz, irgendwie so was. | |
| Da ging Mütterchen hin, zusammen mit einer Freundin vom Theater, und | |
| gemeinsam spielten sie den Beamten dort die Seifenoper der ausgebombten | |
| Witwen vor. Wozu waren sie schließlich Schauspielerinnen. | |
| „Mein ganzes Porzellan!“, jammerte die Freundin (nennen wir sie Ilse, | |
| spaßeshalber). „Meine ganze Aussteuer!“, jammerte sie, „Es ist eine | |
| Katastrophe!“ Mütterchen stützt ihre Freundin. Sie ist voll des Mitgefühls. | |
| „Arme Ilse“, sagt sie und tätschelt ihr den Arm, „wissen Sie, Herr | |
| Wachtmeister...“, wendet sie sich an den zuständigen Beamten. „Gefreiter�… | |
| korrigiert er zaghaft. Mütterchen lächelt: „Ilse hat sich erst letzte Woche | |
| verlobt“, sagt sie und sieht dem Gefreiten tief in die Augen. Ilse | |
| schluchzt leise: „Werner!“ – „Zwei Tage später ist Ilses Werner eingez… | |
| worden“, erklärt Mütterchen unter dem bitteren Weinen ihrer Freundin, „und | |
| der Pelzmantel, den er ihr zum Abschied geschenkt hat, ist auch hin.“ Ilse | |
| weint markerschütternd. Sie war schon immer gut in den dramatischen Rollen. | |
| Der Beamte sieht ganz mitgenommen aus. | |
| So ungefähr. | |
| Mein Großvater erzählt in einem Brief aus Goldberg an seine Eltern von dem | |
| Mantel. Montag, der 30.10.44, nach seiner Umsetzung vom Labor auf den | |
| Sandplatz. Ein merkwürdig fröhlicher Brief, in dem er erzählt, dass | |
| Mütterchen ihn am Freitag besuchen kommt: | |
| „Ich stelle es mir herrlich vor, wenn sie im elegantesten schwarzen | |
| Pelzmantel ihres Inventars am Schuttabladeplatz auftaucht und die Herren | |
| Schütter (parallel zu Schipper) dann unterhält.“ | |
| Schauspieler mussten ihre Kostüme damals noch selbst mitbringen. Im | |
| Tarifvertrag des „Deutschen Bühnenvereins“ von 1908 heißt es: „§ 10 | |
| Kostüme: 1. Das Mitglied hat die seinem Geschlecht entsprechende moderne | |
| Kleidung auf eigene Kosten zu stellen, ebenso alle Hand- und | |
| Fußbekleidungen, Trikots und Leibwäsche, insofern hier nicht | |
| außergewöhnliche Anforderungen betreffs gleichartiger Kostümierung gestellt | |
| werden.“ Historische Trachten musste das Theater zur Verfügung stellen. | |
| Mütterchen war am Stadttheater in Guben angestellt. Vielleicht haben Ilse | |
| und Mütterchen dem Beamten auch einfach erzählt, dass ihr Fundus verbrannt | |
| sei. „Wir können so nicht arbeiten!“ Das wäre zwar immer noch gelogen, ab… | |
| näher an der Wahrheit. | |
| Auf der Flucht von Guben nach Berlin hat der Mantel meiner Großmutter | |
| jedenfalls gute Dienste geleistet. | |
| „In eisigen Schneestürmen verteidigen deutsche Grenadiere ihre | |
| Brückenköpfe“, bellt der Sprecher der Wochenschau vom 17.2.45 mit rollendem | |
| R, während Böen von weißem Pulver durchs Bild wehen und Männer, die bis zur | |
| Hüfte im Schnee stehen, über schwarze Augenringe hinweg ins Leere starren. | |
| Sie haben sich Tücher um den Kopf gebunden gegen die Kälte. | |
| Mütterchen hat erzählt, dass sie auf der Flucht die ganze Zeit neben dem | |
| Pferdewagen her gelaufen ist. Der sollte Papiere ins Potsdamer | |
| Militärarchiv bringen. 150 Kilometer bis Berlin. Im Spreewald haben sie | |
| Pause gemacht, da konnte Mütterchen nicht mehr. Sie hat geheult vor | |
| Erschöpfung, sagt sie. | |
| Meine Tante sagt, Mütterchen hätte erzählt, sie sei übers Haff gelaufen, | |
| übers zugefrorene Stettiner Haff. „Sie hat immer gesagt, so gefroren hat | |
| sie in ihrem ganzen Leben nie wieder.“ Ergibt das einen Sinn? Wieso soll | |
| sie denn an Berlin vorbei bis ganz nach Norden gelaufen sein? | |
| In meinen Aufzeichnungen steht drin, sie sei mit dem Transport bis | |
| S-Bahnhof Rangsdorf mit. Das kommt mir logischer vor. Dort haben die | |
| Soldaten das Fahrrad, das Federbett und den Koffer vom Wagen gehoben. | |
| Mütterchen hat alle ihre Habseligkeiten auf dem Fahrrad montiert. Dann ist | |
| sie mit dem Fahrrad mit der S-Bahn bis Friedrichstraße gefahren. Dort war | |
| sie zu erschöpft, um die Sachen einzeln die Treppen hochzutragen. Außerdem | |
| hätte sie dann ihr ganzes Zeug allein stehen lassen müssen. Wenn auch nur | |
| kurz. Mir ist selbst heute komisch, wenn ich meine Sachen irgendwo stehen | |
| lassen muss. Und damals, Februar 45, das waren verzweifelte Zeiten. Was | |
| sollte Mütterchen machen? Fahrstühle gab’s nicht. Oder sie funktionierten | |
| nicht. Aber die Rolltreppe funktionierte. | |
| Sie hat ein Chaos verursacht. Der Koffer fiel vom Gepäckträger. Das Bett | |
| verfing sich fast in den Handgriffen. Viele Freunde wird sie sich gemacht | |
| haben mit der Aktion. | |
| Über die Rolltreppen am S-Bahnhof Friedrichstraße hat Mütterchen sich ihr | |
| ganzes Leben lang aufgeregt. „Eene von beeden is immer kaputt!“, hat sie | |
| geschimpft. | |
| Trotzdem ist sie irgendwie in die S-Bahn Richtung Wannsee rein gekommen und | |
| am Zoo wieder raus und dann stand sie tatsächlich vor der Wohnung mit dem | |
| Namensschild „Streisand“ in der Eislebener Str. 4. Und klingelte. Und Mumi | |
| öffnete. Sah sie an. Schlug die Hände überm Kopf zusammen und nahm die | |
| Schwiegertochter in ihre Arme. | |
| 30 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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