# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 24: Es geht los! | |
> Die Geschichte ist haarsträubend und klingt wie ausgedacht: Wie | |
> Mütterchen Sandy das Leben rettete. | |
Bild: Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik während des zweiten Weltkriegs. | |
Jetzt kommt der Moment, wo der Affe ins Wasser springt; die Geschichte, die | |
ich eigentlich erzählen will – wird auch mal Zeit, nach sechs Monaten! – | |
die Geschichte, wie mein Großvater flüchten konnte, wie Mütterchen Sandy | |
das Leben rettete, wie meine Oma und meine Großtante meinen Großvater aus | |
dem Arbeitslager befreiten. | |
Es kursieren verschiedene Versionen dieser Geschichte in der Familie. Wir | |
streiten uns über Uhrzeiten, Daten und Abläufe. Bis vor kurzem war mir noch | |
nicht mal mehr klar, wer sich zu welchem Zeitpunkt wo befunden haben soll. | |
Mütterchen hat es doch selber nicht mehr gewusst. In meinen Aufzeichnungen | |
von damals steht drin, die Aktion hätte im Februar stattgefunden. Das | |
stimmt nicht. Da war sie selber auf der Flucht. | |
Mütterchen hat die Geschichten immer einzeln erzählt, als abgeschlossene | |
Anekdoten. Erst jetzt zeigt sich der Zusammenhang. Erst mit dem Schreiben | |
dieses Romans verdichten sich die verstreuten Puzzleteile zu einem Ganzen, | |
einem Bild, verzerrt und lückenhaft, schemenhaft und flüchtig. Wie so ein | |
Film, der auf eine durchsichtige Gardine projiziert wird. Nichts sieht man | |
richtig, alles bewegt sich. | |
Es ist eine haarsträubende Geschichte und sie klingt wie ausgedacht. Kann | |
also nur wirklich passiert sein. | |
Ich wollte immer Mütterchens Version aufschreiben, die ist mein Original. | |
Sie hat sie mir so oft erzählt, mit den immer gleichen Worten, dass ich sie | |
eigentlich auswendig kennen müsste. Kann ich aber nicht. Voll blöd. | |
Mütterchen ist seit neun Jahren tot, ich kann sie nicht mehr fragen. Muss | |
ich andere Quellen zu Rate ziehen. | |
Meine Großtante Roserie, die Schwester meines Großvaters, war damals | |
Laborgehilfin bei Manfred von Ardenne in Lichterfelde. | |
Am 13.Dezember 44 schrieb mein Großvater an Mütterchen: | |
„An Realitäten ist etwas wenig Erfreuliches, aber nicht Unerwartetes | |
mitzuteilen. Alle Frauen in der Situation meiner Mutter werden vom | |
Arbeitsamt seit 10 Tagen dienstverpflichtet als Hilfsarbeiterinnen (so wie | |
ar. Männer von …Frauen zur OT kommen). | |
Mumi war Montag hinbestellt und muss Freitag [durchgestrichen] Donnerstag | |
in einer Pelzfabrik als Hilfsarbeiterin anfangen. Köpenicker Straße. | |
Arbeitszeit 7–1/4 5; Sonnabend 7–1. Ich vermute, sie wird dofe Näharbeiten | |
machen müssen – besser als manche andere, die Bauarbeiten machen müssen, | |
hat sie’s da wohl doch. Manche sind bei der BVG zum Wagen waschen, oder in | |
Großküchen zum Kartoffelschälen usw. Müssen wir halt abwarten, zu machen | |
ist da gar nichts. Offenbar die von Dir seit Langem für konsequent | |
erachtete Strafaktion gegen die Beständigen. – Du heiratest also in eine | |
ausgesprochen vornehme Familie Hilfsarbeiter und -innen, Arbeitslose, und | |
als vornehmste Roserie als Laborantin mit 85,- im Monat. Die ist doch sogar | |
eine Angestellte!“ | |
Mumi hat in der Pelzfabrik Handschuhe zusammengenäht, Roserie musste das | |
Labor von Ardenne putzen. Ardenne hatte viele Halbjuden angestellt, hat | |
Roserie erzählt, „geschützt“, wie er später behauptete. Meine Großtante… | |
unter diesem Schutz Quecksilber wegwischen müssen und solche Sachen. | |
Arbeitsschutz? Einen viertel Liter Milch sollte sie extra bekommen pro Tag. | |
Als Kontergetränk gegen die ganzen Gifte. Die Milch hätte ihr zugestanden. | |
Die hätte der Ardenne ihr aushändigen müssen. Hat er aber nicht gemacht. Er | |
hat die 250 ml Milch an seine Katze verfüttert. | |
Arschloch! | |
Sobald Mütterchen mit den Streisands unter einem Dach lebte, kurbelten sie | |
und Roserie Sandys Flucht aus Jena an. Die Rote Armee rückte unaufhaltsam | |
vor. Nicht dass sie Sandy am Ende doch noch an die Kanonen verfüttern | |
würden. Er war schließlich Angehöriger der Wehrmacht, „Ersatzreserve II“, | |
„n.z.v.“, „nicht zu verwenden“, weil jüdisch gleich „wehrunwürdig�… | |
ihm nicht leidgetan haben. Trotzdem konnte er sich in den letzten | |
Kriegswochen nicht einfach so in einen Zug setzen und nach Berlin fahren. | |
Das wäre Fahnenflucht. Kein Spaß. | |
Deshalb brauchte Sandy eine Reisegenehmigung. Und da kommt Ardenne ins | |
Spiel. | |
Also Roserie. | |
Ich habe lange in meinen Erinnerungen gegraben. Irgendwann hatte ich die | |
Fakten zusammen. Aber der Tonfall fehlte mir. Die Leichtigkeit. Die | |
eingeschliffenen Formulierungen, die Mütterchen beim Erzählen benutzt hat. | |
Manchmal, wenn ich meine Notizen las, war es, als hätte ich den Nachhall | |
ihrer Worte im Ohr. Aber nie war ich mir sicher. Und mit Voranschreiten der | |
Zeit wurden die Erinnerungen blasser. | |
Ungefähr ein Jahr ist es her, da brachte meine Tante Beate mir die | |
restlichen Briefe meines Großvaters. Ich hatte vorher monatelang mit | |
steifem Nacken am Schreibtisch gesessen und die Jena-Briefe transkribiert. | |
Nun überreichte sie mir zwei weitere Aktenordner mit Dokumenten, fünfmal so | |
viel wie das, was ich schon abgeschrieben hatte. „Noch mehr Briefe!“, | |
seufzte ich und bedankte mich artig. Als ich allein war, sichtete ich die | |
Papiere. „Goldberg“, las ich, „Mai 44“. Die Schrift war viel größer a… | |
den Jena-Briefen, die Zeilen weiter, die Worte freier. „Müde und | |
glücklich“, las ich. „Was ist das denn?!“, rief ich. Da waren sie. Die | |
ersten Briefe. Mir zitterten die Hände vor Aufregung. Der Hals wurde mir | |
trocken. Behutsam blätterte ich weiter. Ganz hinten lag noch ein Umschlag. | |
Braun, alt, brüchig, aber jünger als die Briefe. | |
„Mutti + Vati + VHS“ hatte Tante Beate mit Kuli draufgeschrieben, in dieser | |
ordentlichen Lehrerinnenschrift, die sie von ihrem Vater geerbt hat. In dem | |
Umschlag: ein paar Seiten Text, mit Schreibmaschine getippt und mit | |
Kugelschreiber korrigiert. Die Blätter sind in der Mitte gefaltet. Ich | |
falte sie auseinander und lese: | |
„Written March 82 by H. Streisand | |
How I helped my husband to escape from a labor-camp of the Nazis.“ | |
Ich wäre fast vom Stuhl gefallen. Geschrien hab ich und habe Paul gerufen | |
„Guck dir das an!“ und dann sind mir die Tränen gekommen. Mal wieder. | |
15 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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