# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 21: Wie der Schatz gerettet wurde | |
> Zwei Wochen, nachdem Guben evakuiert wurde, machte sich auch Mütterchen | |
> auf den Weg nach Berlin. Gut, dass sie noch etwas ausgeharrt hat. | |
Bild: Das Kriegsende ist nahe: Sowjetische Soldaten in Berlin. | |
Mütterchen machte es sich in der Wohnung in Guben gemütlich. Eigentlich | |
hatte sie nur ein Zimmer gemietet. Aber nun war sie ganz allein in der | |
Kurmärkischen Straße 37 im dritten Stock. Die Vermieterin und alle anderen | |
waren auf der Flucht vor der Roten Armee. Mütterchen wusste sowieso nicht | |
wohin, also blieb sie einfach da. | |
Dann zog die Wehrmacht in die Wohnung im zweiten OG. „Soldaten?“, sage ich, | |
„Nazis? Hattest du keine Angst vor denen?“ – „Ach, i wo“, sagt Mütte… | |
„das waren keine Nazis. Das waren Familienväter. Die wollten auch nur noch, | |
dass der Krieg endlich zu Ende geht.“ | |
Es war das erste Mal, dass mir jemand von diesem Unterschied erzählte. | |
Eines Abends klopfte es an der Tür. Nicht so SS-Rammbock-mäßig, sondern | |
ganz freundlich, normal. | |
Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, was Mütterchen gemacht hat, so | |
ganz allein in der Wohnung, in der Stadt, ohne Arbeit (Borsig wird doch | |
sein Werk längst zugemacht haben, die wären ja als erstes dran gewesen, als | |
Rüstungsbetrieb), ohne Familie, ohne Geliebten. Mutterseelenallein. Hat sie | |
gelesen? Geschrieben? Genäht? Gekocht? Geputzt? Ich kann mir das nicht | |
vorstellen. Ich kann mich nicht in sie hinein versetzen. Ich wäre gelähmt | |
vor Angst an ihrer Stelle, würde die ganze Zeit heulend in einer Zimmerecke | |
hocken und meinen sicheren Tod erwarten. | |
Doch nein. Halt. Is ja Quatsch. Sie hat ja nicht gewusst, was auf sie | |
zukommt. Sie hat die Russen ja als Befreier gesehen und die Nazis als | |
Mörder und Brandschatzer. Letztere waren geflohen. Mütterchen wollte dem | |
Glück ein Stückchen entgegen gehen. Sie zählte sich ja selber zu den | |
Siegern. | |
Sie wird nervös gewesen sein, aber fröhlich und als es eines Abends an | |
ihrer Tür klopfte, wird sie vorsichtig geöffnet haben … Oder nein. Sie wird | |
gefragt haben, wer da sei. Und eine dunkle freundliche Stimme … Nee. Sie | |
hat die Kette vorgemacht und die Tür einen Spaltbreit geöffnet und da stand | |
ein dicklicher älterer Herr, der freundlich fragte, ob sie nicht | |
runterkommen wolle, mit den Herren was trinken. | |
„Was?!“, hab ich gerufen, als sie mir das das erste Mal erzählt hat. „Du | |
bist ganz alleine mit einem fremden Mann mitgegangen?“ Ich war sechzehn und | |
hatte die Mahnung „Nimm nichts Fremdes von Süßen“, die mein Vater mir | |
eingebläut hatte, sehr verinnerlicht. „Mäuschen“, sagte Mütterchen | |
beschwichtigend und ließ das Strickzeug sinken. „Das waren anständige | |
Leute. Die wollten nur ein bisschen Gesellschaft haben.“ Manchmal bin ich | |
mir nicht sicher, wo bei Mütterchen der Mut aufhört, die Naivität anfängt | |
und wo die Naivität in Dummheit übergeht. Aber was weiß ich schon, behütet, | |
16-jährig, auf Omas Sofa mit Eierkuchen im Bauch, deren größte Sorge es | |
ist, ob Jan mich neulich in der Hofpause nur so angeguckt hat oder ob er | |
mit mir gehen will und ob ich nicht eigentlich mit Max zusammen sein will. | |
Mütterchen unterhielt sich eine Weile mit den Offizieren. Und irgendwann | |
fragten die dann doch mal nach, was sie hier eigentlich noch treibe, so | |
ganz alleine. Und Mütterchen erzählte ihnen, was wir schon wissen: Dass sie | |
meinte, nichts befürchten zu müssen, so schlimm wird’s schon nicht werden | |
usw. „Da wurden die Herren plötzlich sehr ernst“, sagt Mütterchen, „und | |
rieten mir eindringlich, zu gehen. ’Junge Frau, sagten die, Sie haben keine | |
Ahnung, was da auf Sie zukommt.’ Diese Ernsthaftigkeit“, sagt Mütterchen, | |
„die machte mir Angst.“ | |
Mütterchen bedankte und verabschiedete sich und stieg sehr aufgewühlt die | |
Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Sie setzte sich an ihren Tisch am Fenster | |
und schrieb einen Brief an meinen Großvater. Einen Abschiedsbrief. Mal | |
wieder: | |
Guben, 17. 2. 45 | |
Geliebter. Ich werde jetzt doch nach Berlin fahren. Morgen Nachmittag geht | |
ein Transport | |
mit Pferdewagen Richtung Berlin, der soll Papiere ins Potsdamer | |
Militärarchiv bringen. Das haben mir die Offiziere erzählt, die hier im | |
Haus Quartier bezogen haben. Ich melde mich, wenn ich angekommen bin. | |
Ich liebe dich. | |
Deine Juschka | |
„Und denn bekam ick den Anschiss meines Lebens“, erzählt Mütterchen. Die | |
Beamten, bei denen sie am nächsten Tag vorstellig wurde auf Empfehlung der | |
Offiziere, waren stocksauer, weil Mütterchen überhaupt noch da war, zwei | |
Wochen nach der Evakuierung. „Wo wohnen Sie denn?“, wollte der Beamte | |
wissen. „Zwei Straßen weiter“, sagte Mütterchen, „Kurmärkische 37.“ … | |
gut“, sagte der, „wir holen Sie ab.“ | |
Nur dadurch konnte Mütterchen sogar ihr Fahrrad und ihr Federbett mit nach | |
Berlin nehmen, während andere Flüchtlinge alles hatten zurücklassen müssen. | |
Und die Briefe konnte sie retten, seine Briefe, diesen Schatz, vor dem ich | |
jetzt sitze, siebzig Jahre später. Was für ein Glück! | |
24 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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