| # taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 23: "Schläfste nun in meinem Bett?" | |
| > Ein Brief, der zu Tränen rührt: Das erste Lebenszeichen meines Großvaters | |
| > nach drei Wochen. | |
| Bild: Ruinen zwischen Ruinen: Berlin 1945, hier das KaDeWe. | |
| Als ich den Brief meines Großvaters vom 26. Februar 45 das erste Mal las, | |
| hab ich vor Rührung angefangen zu heulen. „Erst mal Kuss, Umarmung, | |
| Strahlen – Sie lebt noch!“, steht ganz oben auf der ersten Seite. Die | |
| Schrift ist noch kleiner als sonst. Die Worte sind nachträglich eingefügt. | |
| Daneben steht das Datum „Jena, 27.2.45, 22 Uhr“. Die 7 ist durchgestrichen. | |
| Mit Rotstift. Daneben steht in rot am rechten Seitenrand: „Datum im | |
| gleichzeitig abgesandten Brief falsch: muss 27. nicht 28. heißen. Ha, wie | |
| ordentlich!“ Es ist sein erstes Lebenszeichen nach ihrer Rettung. Drei | |
| Wochen lang hat er gar nichts geschrieben. Oder die Briefe sind | |
| verschollen, weil sie auf der Flucht war. | |
| „Meine innig geliebte Frau“, schreibt er, „genügt dir’s, wenn ich dir … | |
| dass ich heute – als ich den Postholer gerade am Werktor bei Schott | |
| getroffen und von ihm die beiden Telegramme bekommen hatte – mitten auf dem | |
| Fabrikgelände, auf dem Weg zur Kantine, vor Freude geweint habe – richtig | |
| doll, und mit furchtbar viel Taschentuchverbrauch? Einzelheiten weiß ich ja | |
| nun noch gar nicht, auch das Datum deiner Flucht ist mir nicht klar – aber | |
| eine lebende, wenn auch sicher erschöpfte und mittellose Frau ist mir ja | |
| nun doch lieber als eine tote, wenn auch mit Zimmer (und das steht ja, da | |
| Guben so oft genannt wurde im OKW-Bericht und folglich heftigst umkämpft | |
| sein muss, sicherlich nicht mehr – aber 3 Betten haben wir ja schon, was | |
| wollen wir mehr – vor Freude würde ich heute so gerne mit dir ein dolles | |
| Spielchen treiben) – na, ich bin heilfroh, endlich wieder einen Halt zu | |
| haben. Ich war, seitdem ich die letzte Nachricht (den in Cottbus | |
| eingeworfenen Brief auf der Rückreise von Berlin) erhalten hatte, ganz tief | |
| verwirrt – das ist die einfachste Schilderung meines Zustandes.“ | |
| Es folgt eine detaillierte Beschreibung seines derzeitigen Arbeitsalltags. | |
| Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen auf Jena. Schichtdienst, tgl. 13–21 | |
| Uhr. Er hat mit Rauchen aufgehört. Es gibt nichts mehr zu essen, die | |
| letzten Kippen hat er gegen Brot getauscht. | |
| Außerdem will er nach Hause. Zu ihr. Zur Familie. | |
| „Die Relativität alles Denkens zeigt sich wieder mal darin, dass ich dich | |
| in Berlin als geborgen ansehe, während die anderen um ihre Frauen dort | |
| ständig bangen. Gott sei Dank, dassde nicht geblieben bist – auch wenn du | |
| den Kommissar so nett empfangen wolltest, du Mistbiene. | |
| Kribblig vor Freude, für den Augenblick etwas ’entsorgt‘ (der heutige | |
| Angriff soll ja wieder mehr den Osten betroffen haben), und zutiefst immer | |
| noch nicht ganz im Lot. Aber ich weiß wenigstens so ungefähr, wo du stehst, | |
| wo ich mal hinsoll (keine Angst, ich gedulde mich) und dass ich noch eine | |
| Frau habe. | |
| Die Juschka lebt noch! Und bei der Familie ist sie auch! Wenn ich bloß bald | |
| Nachricht kriege! | |
| Ich bin keine Kampfnatur, auch kein Held, sondern eben ein Intellektueller | |
| mit einiger Zähigkeit und viel Liebe. Drum weiß ich mich eben doch jetzt | |
| erst wieder aufs Gleis gesetzt; ob ich nun auch schon wieder laufe, ist | |
| noch fraglich. Aber ich weiß was: die Juschka ist in Berlin! | |
| Liebchen, auch diese fiese Stadt, die dich immer so krank gemacht hat, hat | |
| ihr Gutes, wir werden’s schon schaffen. Vor allem scheint mir die Trennung | |
| durch diese deine tollste Reise (weiß ich a priori) doch wesentlich | |
| verkürzt zu sein. Für eine Berlin-Reise werde ich bestimmt eher Kumpane | |
| finden als für eine Guben-Reise. | |
| Liebes, Liebes, Liebes. Schnell einen innigen Kuss. Noch mit Tränen in den | |
| Augen; ich möchte vor dir niederfallen und dir – meinem Schicksal – danken. | |
| Ich kann dir die letzten Wochen nur mündlich schildern – (weil ich so tief | |
| verwirrt war) – hoffentlich kann ich’s bald tun. Ich liebe dich. | |
| Verrückter Brief. Aber beim Wiedersehen – ich meine, es könnte sehr bald | |
| sein – werde ich noch verrückter sein. | |
| Schläfste nun immer in meinem Bett? | |
| Und liest von meinem Tisch? | |
| Jetzt warte ich erstmal: auf den ersten Brief von der wiedergefundenen | |
| Frau, auf diese selbst, auf unsere Ehe. Die Zukunft stelle ich mir gar | |
| nicht sonnig vor, aber das entscheidende Ereignis bist doch du. Ganz allein | |
| von dir hängt’s ab, was aus mir wird. Nach der Dumpfheit der letzten Wochen | |
| spüre ich wieder ’unseren‘ Geist: frei und leicht – deine göttliche | |
| Heiterkeit, die dir immer erhalten bleiben möge, um unserer beider Willen, | |
| weht mich wieder an – meine große Liebe – | |
| Jungfrau, Mutter, Königin | |
| Göttin – bleibe gnädig, | |
| meine Juschka | |
| Dein Dein Dein | |
| Sandy“ | |
| Er ist so überschwänglich, er kann gar nicht mit schreiben aufhören. „Grü… | |
| die Familie! Sie soll dich auch dann nett behandeln, wenn du vorerst meine | |
| Briefschreibekapazität völlig absorbierst. Hat Roserie schon den Kuss?“ | |
| Daneben, am rechten Rand der fünften Seite: „Gib mir mal schnell noch einen | |
| ganz lieben langen frohen Kuss. Noch einen. Noch einen.“ | |
| Rechter Rand vierte Seite: „Noch einen Kuss!“ | |
| Linker Rand vierte Seite: „Weißt du, wie sehr ich dich liebe?“ | |
| Das Papier hat A5-Format und ist übersät mit ellipsenförmigen Stempeln vom | |
| „Stadttheater Guben“. Einen Stempel auf Seite 5 hat er umrandet, innen drin | |
| steht: „Stempel gerade Abdruck von meinem Kussmund!“ | |
| Weiter unten auf Seite 5 hat er ein kleines Quadrat gezeichnet, darin | |
| steht: „Hier ruht ein Kuss“ | |
| Ich brauch Taschentücher. | |
| 8 May 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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