# taz.de -- „Sicheres Herkunftsland“ Serbien: An einem gottverlassenen Ort | |
> Serbien ist ein „sicheres Herkunftsland“ – aber für wen? Ein Rom aus | |
> Belgrad erzählt, wie er zweimal nach Deutschland floh und abgeschoben | |
> wurde. | |
Bild: Räumung von Romafamilien aus einem Slum in Belgrad, 2012. | |
BELGRAD taz | Die Knez Mihailova sieht aus wie die Fußgängerzone einer | |
jeden mitteleuropäischen Metropole: aufgeputzt, mit teuren Geschäften, | |
verlockenden Schaufenstern, unzähligen Touristen. Man hört Deutsch, | |
Französisch, Japanisch, man posiert und fotografiert sich lächelnd. Nur ab | |
und zu stört ein bettelndes Roma-Kind das Scheinbild einer | |
Wohlstandsgesellschaft. | |
Knapp fünfzehn Minuten Autofahrt von dem heiteren Gewimmel entfernt stößt | |
man im Belgrader Vorort Krnjaca auf eine andere Welt. Man biegt ab bei | |
einem Schild, auf dem „Flüchtlingszentrum Ivan Milutinovic“ steht. In den | |
Baracken der Baufirma Ivan Milutinovic sind noch immer, fast zwei | |
Jahrzehnte nach Kriegsende, serbische Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien und | |
dem Kosovo untergebracht. Dazu gesellt haben sich rund hundert Asylsuchende | |
aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und Somalia, die auf dem Weg in die EU in | |
Serbien hängen geblieben sind. Alle diese Menschen sind durch Elend und | |
Leid verbunden. Das ist ihnen gemeinsam auch mit ihren einheimischen | |
Nachbarn, die sich hier, in diesem gottverlassenen Ort im Pappelwald, vor | |
mehreren Jahrzehnten angesiedelt haben – den Roma. | |
Eine Gruppe Schwarzer geht aus dem von einem Zaun umzingelten Camp heraus, | |
vorbei an einem jungen Rom, der versucht, zwei bockige Ziegen zu zügeln. | |
Ein langer, teilweise gepflasterter Weg ist zu sehen. Rechts und links | |
davon, dicht aneinander, stehen aus Brettern, Karton und Blech gebaute | |
Hütten, liegen Autowracks. Es ist eine für den Balkan typische, wilde | |
Romasiedlung. Oft wohnen Roma aus vielen Staaten in einer Siedlung, doch | |
nur die Einheimischen haben Krankenversicherung und das Recht auf | |
Schulbildung. Ankömmlinge von anderswo sind juristisch völlig unsichtbar. | |
Als er zwei Unbekannte sieht, kommt Kameraj Sajin (27) aus seiner Hütte. Er | |
hat ein breites Lächeln und lädt gleich zum türkischen Kaffee ein. Seine | |
Gastfreundlichkeit gegenüber Fremden ist unüblich für Roma in Serbien: Die | |
Erfahrung lehrt sie, auf der Hut zu sein, wenn Fremde kommen. Oft heißt | |
das, dass eine Zwangsumsiedlung oder ein anderes Übel bevorsteht. Von | |
Journalisten fühlt man sich missbraucht, sie würden „aus der Misere der | |
Roma Geld machen“, hört man. | |
## In Deutschland war es schön | |
Sajin hat etwas Weltmännisches an sich. Stolz erzählt er, dass er mit | |
seiner Frau und drei Kindern zwei Mal in Deutschland war. Acht Monate | |
verbrachte die Familie 2013 in Steinfurt, dieses Jahr „drei Monate und elf | |
Tage“. Erst vor wenigen Wochen wurden sie nach Serbien abgeschoben. | |
Der Aufenthalt sei „wirklich schön“ gewesen, erzählt Sajin. Nachdem die | |
Familie einige Asylheime gewechselt hatte, bekam sie eine Wohnung und rund | |
1.200 Euro im Monat. Bei der Caritas konnte sie für zwei Euro Kleidung und | |
Nahrungsmittel kaufen. Die Tochter ging in die Schule, die beiden Söhne in | |
den Kindergarten. „Nicht so wie hier“, sagt Sajin, doch es klingt nicht wie | |
eine Klage, eher wie eine Feststellung. Er lächelt, und das Lächeln | |
schwindet auch nicht, wenn er von seiner Nierenkrankheit spricht. | |
Trotz allem liebt Sajin seine Heimat. „Nur hier fühle ich mich zu Hause“, | |
sagt er. Dabei hatte er eine harte Kindheit: seine Mutter starb, als er | |
vier Jahre alt war; die Grundschule brach er in der dritten Klasse ab, | |
nachdem man ihn wegen dem vielen Fehlen in eine Sonderschule gesteckt | |
hatte. Er wusch Autoscheiben im Zentrum Belgrads an „seiner“ Ampel; als | |
Teenager half er beim Ein- und Ausladen von LkWs. „Bei jedem Wetter“, sagt | |
er, dort holte er sich seine Nierenkrankheit. | |
## Kein „dreckiger Zigeuner“ | |
Hier, in Krnjaca, muss seine Tochter in die Abendschule gehen, weil sie | |
ihren Platz in der regulären Grundschule verloren und er keine Bestätigung | |
hat, dass sie eine deutsche Schule besucht hatte. Für die Jungen gibt es | |
keinen Kindergarten, und vom Staat bekomme er lediglich 10.000 Dinar (rund | |
85 Euro) Kindergeld. In Deutschland sei alles „irgendwie menschlicher“, man | |
komme sich nicht vor wie ein „dreckiger Zigeuner“. | |
Sajin ist stolz auf den vorderen Teil seiner Hütte, der aus Ziegelsteinen | |
gebaut ist. Im Wohnzimmer liegen Teppiche, das Geld dafür hat er in | |
Deutschland gespart. Wie er und seine Familie die Grenzen passiert hätten? | |
Den serbischen Grenzern hätten sie ganz normal ihre serbischen Reisepässe | |
gezeigt, die ungarischen hätten sie bestochen. | |
In der Siedlung leben rund 100 Menschen in etwa 25 Hütten. Wasser zapfen | |
sie an, für Strom zahlen sie einer benachbarten Baufirma „auf privater | |
Basis“. Das hat Denis Sajti (27) ausgehandelt, der alle Klassen der | |
Grundschule absolviert hat, und den man wegen seiner Leaderqualitäten auch | |
Bush nennt, nach dem US-Präsidenten. Er und Sajin scheinen die Anführer der | |
Siedlung zu sein, in der sie geboren wurden. „Bei uns in Krnjaca ist es, | |
als ob die Zeit stehen würde“, sagen beide. | |
## „Wovon sollen wir hier leben?“ | |
Nur Bush und ein weiterer Bewohner haben einen Job im Belgrader | |
Kommunaldienst, befristet, ohne Urlaub oder Krankengeld. Andere sammeln | |
altes Eisen und verkaufen es für rund zwei Euro pro hundert Kilo. | |
„Schön, dass Serbien in Deutschland nun als sicheres Land gilt – aber wovon | |
sollen wir hier leben?“, fragt Bush. Mindestens ein Viertel der Bürger | |
Serbiens lebt an oder unter der Armutsgrenze, jeder Dritte ist arbeitslos. | |
„Was können wir Zigeuner da erwarten?“. Bush zuckt mit den Achseln. Die | |
„Zigeuner“ seinen stets am Ende der Nahrungskette einer Gesellschaft. Sogar | |
diese Asylsuchenden aus Afrika würden vom Staat mehr bekommen, kostenlose | |
Unterkunft in guten Baracken und Nahrungsmittel. Für serbische Flüchtlinge | |
werde natürlich gesorgt. „Aber uns vergisst man immer“. | |
Laut Volkszählung leben in Serbien knapp 118.000 Roma, ihre Anzahl wird | |
aber auf über eine halbe Million geschätzt. Die meisten leben unter | |
ähnlichen oder schlechteren Bedingungen wie in Krnjaca, ohne Wasser und | |
Strom. Ebenso unpräzise sind die Angaben über die Anzahl der Roma in | |
Bosnien und Herzegowina und in Mazedonien. Und je ärmer die Länder sind, | |
desto schlimmer ist die Lage der Roma. | |
„Besser lebendig in Deutschland als tot in Serbien“, sagt Sajin lächelnd. | |
Er habe noch Familie in Deutschland, er sei ein freier Mann mit einem | |
Reisepass. Er werde sie besuchen. | |
3 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
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