Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Flucht aus Eritrea: Ein Organ als Lösegeld
> Internierung in Erdlöchern, Schießbefehl an der Grenze: Wer es aus dem
> ostafrikanischen Land schafft, hat oft Unvorstellbares hinter sich.
Bild: Afrikanische Flüchtlinge im Februar in Tel Aviv: Die meisten, die es dor…
BERLIN taz | Aus keinem Land nimmt die Zahl der Asylsuchenden in
Deutschland so stark zu wie aus Eritrea: 7.898 Erstanträge in den ersten
acht Monaten dieses Jahres, verglichen mit 703 im Vorjahreszeitraum. Allein
1.923 kamen im August. Eritrea liegt jetzt hinter Syrien und Serbien auf
Platz 3 der Herkunftsländer.
Von den 7.898 Anträgen wurden nach amtlichen Angaben bisher weniger als ein
Fünftel fertig bearbeitet, und es gab lediglich 26 Anerkennungen als
asylberechtigt. Aber die „Gesamtschutzquote“, die alle Aufenthaltsvarianten
einbezieht, beträgt 48,7 Prozent aller Entscheidungen – relativ viel.
Kaum ein Land bietet seinen Bürgern so viele gute Fluchtgründe. Eritrea,
das 1993 nach einem entbehrungsreichen jahrzehntelangen Befreiungskrieg von
Äthiopien unabhängig wurde, ist heute unter Herrschaft der ehemaligen
Befreiungsarmee von Präsident Isaias Afewerki eine der repressivsten
Diktaturen der Welt. Bürgerrechte, Meinungsfreiheit oder gar Wahlen gibt es
nicht.
Willkürliche Internierung in Straflagern, sogar Erdlöchern oder
Schiffscontainern ist dokumentiert. Der Militärdienst beginnt mit dem
letzten Schuljahr; bis zum Alter von 50 Jahren gelten alle Männer als
Reservisten, die jederzeit eingezogen und als Milizionäre oder
Zwangsarbeiter verpflichtet werden können. Dementsprechend ist Ausreise
ohne Genehmigung verboten. An den Grenzen herrscht Schießbefehl, illegale
Ausreise bedeutet Strafe für zurückgebliebene Angehörige.
## Über den Sudan mit Ziel Israel
Dennoch haben laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR über fünf Prozent der rund
6,3 Millionen Einwohner – 338.000 Menschen bis Januar 2014 – Eritrea
illegal verlassen. Seither kamen über das Mittelmeer weitere 13.000 nach
Europa. Eritreer bildeten die größte Gruppe unter den Opfern des
Lampedusa-Unglücks vor einem Jahr.
Die meisten „Ausreiser“ landen zuerst im Sudan. Weiter geht es nach
Ägypten, mit dem Ziel Israel, aber die Reise endet meist auf der
Sinaihalbinsel; oder nach Libyen, mit dem Ziel Europa. Viele sterben auf
diesen sehr langen und beschwerlichen Routen durch einige der heißesten
Wüstenregionen der Welt.
Mit Eritreern auf der Flucht wird ein florierender Handel betrieben.
Unabhängigen Untersuchungen zufolge werden regelmäßig Eritreer aus
Flüchtlingslagern im Sudan verschleppt und als Geisel genommen; die
Familien, entweder in Eritrea oder im Exil, sollen dann Lösegeld zahlen.
Auf der Sinaihalbinsel haben Menschenrechtsaktivisten ein Netzwerk von
Lagern unter Kontrolle von Beduinen identifiziert, in denen gekidnappte
Eritreer mit brutaler Gewalt, Essens- und Flüssigkeitsentzug gefoltert
werden.
Folterszenen, auf Handy aufgenommen oder live am Telefon an die Angehörigen
übertragen, dienen als Erpressung zur Zahlung von Lösegeldern, von einigen
tausend bis zu 50.000 US-Dollar pro Person. Mächtige Ägypter sowie in
Israel lebende Eritreer seien beteiligt, als Geldempfänger und
Mittelsmänner, heißt es. In Einzelfällen werde das Lösegeld durch
Organentnahme abbezahlt.
## Vier Stadien des Menschenhandels
Nach Angaben der in Schweden lebenden eritreischen Aktivistin und
Fluchtexpertin Meron Estefanos sind zwischen 2009 und 2013 mindestens
30.000 Migranten auf der Sinaihalbinsel verschleppt worden, 95 Prozent
davon aus Eritrea. Lösegelder von 622 Millionen Dollar wurden erbeutet. Die
Erpressung der Angehörigen, so vermuten Menschenrechtler, sei nur dadurch
möglich, dass die eritreischen Behörden den Erpressern die entsprechenden
Daten übermitteln. Vier Stadien des Menschenhandels identifiziert
Estefanos: „Bezahlen, um Eritrea zu verlassen; bezahlen, um
Flüchtlingslager oder Arbeit zu finden; Kidnapper bezahlen;
Lösegelderpressung auf dem Sinai.“ Und alle hängen zusammen.
Es ist ein Teufelskreis: Wer den Weg nach Europa schafft, steht bei seinen
Rettern in der Schuld und muss notfalls selbst zum Erpresser werden, um die
Schuld weiterzugeben. Dass Eritreas Regierung auf alle Bürger im Ausland
eine „Diasporasteuer“ von zwei Prozent erhebt, bedeutet ein zusätzliches
Interesse des eritreischen Staates an der Emigration, die offiziell
verboten ist.
Am 23. Juni 2014 beschloss der UN-Menschenrechtsrat die Einrichtung einer
Untersuchungskommission zur Lage in Eritrea – das gibt es bisher nur für
Nordkorea und Syrien. Der Rat forderte auch die Weltgemeinschaft zu
Anstrengungen auf, um „den Schutz der aus Eritrea Fliehenden zu
gewährleisten, insbesondere die wachsende Zahl unbegleiteter Kinder“. Zuvor
hatte das Europaparlament die EU aufgefordert, gegenüber Ägypten, Israel
und Sudan den Schmuggel mit Eritreern anzusprechen. Noch geschieht nichts.
Aber die Menschen, um die es geht, sind von Deutschlands Straßen nicht mehr
wegzudenken.
2 Oct 2014
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Flüchtlinge
Afrika
Eritrea
Menschenhandel
Suizid
Eritrea
Flüchtlinge
Flüchtlinge
Mare Nostrum
Flüchtlinge
Flüchtlinge
## ARTIKEL ZUM THEMA
Mangelhafte Aufklärung: Desinteresse am Todesfall
Trotz Ungereimtheiten werden die Umstände, die zum Tod eines Eritreers im
Bürgerpark führten, nicht aufgeklärt, weil es ein Suizid gewesen sein soll
Roman über Asylsuchende in Israel: Tod und Wiedergeburt in der Wüste
Im Roman „Löwen wecken“ mahnt die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen
einen humaneren Umgang mit Flüchtlingen in Israel an.
Bürgerinitiative für Flüchtlinge: Reich und Arm verwoben
Basteln, backen, reden, helfen. Viele Menschen in Balingen wollten
Flüchtlingen helfen – ganz pragmatisch. Sie haben ein Asylcafé gegründet.
„Sicheres Herkunftsland“ Serbien: An einem gottverlassenen Ort
Serbien ist ein „sicheres Herkunftsland“ – aber für wen? Ein Rom aus
Belgrad erzählt, wie er zweimal nach Deutschland floh und abgeschoben
wurde.
Rettungsmission Mare Nostrum: Das Meer der Hoffnung
Italiens Schiffe retteten seit November 2013 über 90.000 Flüchtlinge. Auf
die Rettungsmissionen soll nun ein Einsatz der EU-Grenzagentur folgen.
Inoffizielle Flüchtlingslager in Calais: Der „Dschungel“ in der Industrier…
Die Flüchtlinge kommen aus Syrien, Eritrea oder Südsudan und wollen nach
England. In Calais ist Endstation. Dort werden sie sich selbst überlassen.
Selbstorganisation der Flüchtlinge: Die Mittel des langen Kampfes
The Voice war vor 20 Jahren die erste Selbstorganisation von Flüchtlingen.
Ihre Forderungen gleichen denen heutiger Protestler.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.