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# taz.de -- Bürgerinitiative für Flüchtlinge: Reich und Arm verwoben
> Basteln, backen, reden, helfen. Viele Menschen in Balingen wollten
> Flüchtlingen helfen – ganz pragmatisch. Sie haben ein Asylcafé gegründet.
Bild: Notunterkunft in Baden-Württemberg: Nicht überall ergeht es den Flücht…
BALINGEN taz | Frau Gabi. So heißt Gabriele Seifert jeden
Mittwochnachmittag, wenn sie im Balinger Asylcafé mithilft. In der
Beckstraße ist das ehemalige Gesundheitsamt zur Unterkunft für 70 Menschen
umgebaut worden. Gabriele Seifert bastelt hier wöchentlich mit den Kindern
aus Gambia, Eritrea, Albanien, Sri Lanka. Oder aus Syrien. „Mittwoch ist
mein freier Tag. Morgens backe ich Kuchen. Dann überlege ich, was wir
basteln, gehe einkaufen. Dann zum Asylcafé und abends hechel ich um sieben
heim.“
Seifert ist 54 Jahre alt, selbstständige Apothekerin, verheiratet und hat
vier Kinder. Die sind erwachsen. Deshalb hat Seifert wieder Kapazitäten
frei, die sie wie 40 weitere Balinger in die Flüchtlingsarbeit investiert.
Die Asylsuchenden landen nach langen Reisen, nach traumatischen Erlebnissen
auf der Schwäbischen Alb, einem friedlichen Landstrich im reichen
Baden-Württemberg. Der Graben zwischen den Lebenswelten der Balinger und
der Flüchtlinge ist tief. Die Asylsuchenden mögen sich fühlen wie auf einem
anderen Planeten – angekommen an einem Sehnsuchtsort und doch keine
Teilnehmer am Leben hier. Sie verbringen ihre Tage hinter dem lückenhaften
Gartenzaun der Beckstraße 5.
Die Balinger Flüchtlingsinitiative baut eine Brücke von der Alb in die
Lebenswelt dieser Menschen. 480.000 Euro hat der Landkreis in das alte
Gesundheitsamt investiert, um es bewohnbar zu machen. Seine
Aufnahmekapazität hat der Kreis 2014 verdoppelt: 415 Asylbewerber leben
derzeit in der Region – 108 davon in Balingen.
## „Geld spielt keine Rolle“
Auf der Schwäbischen Alb bleibt man eigentlich eher für sich, hier hat man
seinen Wohnort qua Geburt oder wegen eines guten Jobs. Auf die Flüchtlinge
gibt es wie überall zweierlei Reaktionen: Die einen mauern und haben Angst,
die anderen sind offen und herzlich.
Bernd Schmid, 51, Diplomkaufmann, graues Haar, braun gebrannt, gehört
ebenfalls zur Flüchtlingsinitiative. „Meine Mutter sagt: Die nehmen uns was
weg. Da sag ich: Mutter, schwätz keinen Käs.“ Vor allem die ältere
Generation denke so, die kaum rumgekommen sei in der Welt. Schmid hat lange
in Stuttgart gelebt, seine Frau hat selbst Flüchtlingsgeschichte. Von
seinem ehrenamtlichen Engagement erzählt er Familie und Freunden, seine
Art, die Abwehrhaltung anderer anzugehen.
Er hat Fahrräder, Dreiräder und Kinderbetten für die Flüchtlinge gesammelt,
investiert Zeit und fährt die Dinge mit dem eigenen Auto in die Beckstraße.
„Das Geld, das ich dafür ausgebe, spielt keine Rolle“, sagt er. „Ich fin…
es wichtig, die Leute so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden
will.“ Und nebenbei hofft er, die Außendarstellung Deutschlands verändern
zu können. „Aus der Geschichte haftet uns doch Ausländerfeindlichkeit an“,
sagt er.
## Begrüßung mit Handschlag
Im zweiten Obergeschoss des ehemaligen Gesundheitsamts besucht Schmid seine
Patenjungs, zwei junge Männer Mitte 20. Lamin* und Binjamin aus Gambia. Er
begrüßt sie mit Handschlag. Lamin malt und Binjamin liegt auf dem Sofa.
Schmid zeigt stolz die Bilder des angehenden Künstlers. Und mit Binjamin
scherzt er über Borussia Dortmund. „Wir sind beide Fans.“ Schmid strahlt
noch mehr als sein neuer Freund. Er und seine Frau kochen mit den Gambiern
und lernen von ihnen. „Wenn sie gehen müssten“, sagt Schmid, „würde das
schon schwer.“
Die Ehrenamtlichen stecken viel persönliches Engagement in die Arbeit hier,
viel mehr, als ein Sozialarbeiter es je tun würde. Ohne Distanz. „Klar, wir
wollen ja eine Beziehung aufbauen“, sagt Gabriele Seifert. Das macht die
Arbeit einerseits persönlich bereichernd, andererseits anstrengend. Noch
sind hier alle frisch, erst im Juni sind die Flüchtlinge eingezogen, die
Initiative ist ebenso jung. Eine Motivationsspritze: Der Landkreis hat
2.000 Euro jährlich an Hilfe zugesagt. Der Landrat schaue ab und an vorbei,
berichtet Schmid erfreut.
Wenn Gabriele Seifert in Gedanken nach dem Grund kramt, warum sie ihren
freien Tag der Flüchtlingsarbeit widmet, zwinkert sie mit ihren blau
geschminkten Augenlidern. „Das kommt bei mir etwas aus der esoterischen
Ecke“, sagt sie. „Die Menschen sind miteinander verwoben, wir gehören alle
zusammen.“ Sie fühlt eine große emotionale Verbundenheit zu den
Flüchtlingen im Heim.
## Ein gutes Gefühl
Seifert hat eine Patenschaft zu einer albanischen Familie übernommen. Wenn
sie den Raum betritt, geht der Vater raus. Aber zu Mutter Lindita und den
Töchtern Elma, 17, und Xheni, 10, hat sie einen Draht. Sie umarmen sich zur
Begrüßung. Eine Sozialarbeiterin der Caritas betreut die Bewohner im Heim,
hat hier auch ihr Büro. Aber Seiferts Kontakt ist anderer Natur,
intensiver.
Im aufgeräumten Wohnzimmer mit dem Stockbett an der Wand, wo die Kinder
nachts schlafen, setzten sie sich zusammen. Seifert holt Rezepte für die
Apotheke ab. Sie hilft Elma dabei, die richtige Schule zu finden.
Das Mädchen braucht eine Brille. 5,75 Dioptrien. Die Familie hat zu fünft
rund 1.500 Euro pro Monat zur Verfügung. Sie können keine Brille bezahlen.
„Jetzt werde ich mal schauen, wie sich Klinkenputzen anfühlt“, sagt Seifert
und zuckt mit den Schultern.
## Gabi und Gott
Lindita legt die Handflächen aneinander und blickt zur Decke. „Hier haben
wir nur Gabi und Gott.“ Sie wischt eine Träne weg. Seifert kämpft dagegen
an.
Die Suche nach dem guten Gefühl, gebraucht zu werden, ein bisschen
Egoismus, spielt in dieser Arbeit in der Beckstraße auch mit. „Alles andere
wäre gelogen“, sagt Seifert. Sie freut sich jedes Mal, wenn sie ihr Auto
parkt und die Kinder schon auf sie zugerannt kommen und rufen: „Was basteln
wir heute?“
Wenn Seifert so nachdenkt, kommen ihr viele Fragen. „Vielleicht ist das
Gesamtsystem der Flüchtlingspolitik falsch. Wir sitzen hier und verschenken
Almosen. Das ist eigentlich unverschämt.“ Es verstärkt die Ungleichheit
zwischen der Frau, die in Albanien ein eigenes Café hatte, hier aber nicht
einmal arbeiten darf, und der Apothekerin, die abends das Heim verlassen
kann. Gleichzeitig sagt sie sich: „Wenn man nur das große Ganze betrachtet,
dann tut sich nichts.“ Sie will pragmatisch sein, etwas verbessern.
„Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht mehr mache.“
Auch Seifert befürchtet, dass ihre Patenfamilie aus Albanien nicht bleiben
darf. Sie spricht aber nicht mit ihnen darüber. „Ich versuche mit den
Menschen hier im Jetzt zu leben“, sagt sie. „Egal was mit ihnen später
passiert, sie haben Erinnerungen an diese Zeit.“
*Name von der Redaktion geändert. Nach Abschluss der Vorort-Recherche ist
L. ein Abschiebebescheid zugestellt worden.
5 Oct 2014
## AUTOREN
Lena Müssigmann
## TAGS
Flüchtlinge
Asyl
Baden-Württemberg
Bürgerinitiative
Schwerpunkt Rassismus
Asylsuchende
Flüchtlinge
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Flüchtlinge
Mittelmeer
Mittelmeer
Schwerpunkt Syrien
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