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# taz.de -- Rettungsmission Mare Nostrum: Das Meer der Hoffnung
> Italiens Schiffe retteten seit November 2013 über 90.000 Flüchtlinge. Auf
> die Rettungsmissionen soll nun ein Einsatz der EU-Grenzagentur folgen.
Bild: Flüchtlinge werden Mitte September an Land gebracht. Aufgenommen im Mitt…
Für einige Wochen war Europa geeint, vergangenes Jahr im Oktober – geeint
im Entsetzen. Im Entsetzen über die Bilder aus Lampedusa, von jener
Tragödie, bei der am 3. Oktober 2013 direkt vor dem rettenden Strand 368
Menschen erbärmlich ertrunken waren. Sie kamen aus Eritrea, waren
zusammengepfercht auf einem Schiff, das in Brand geraten, dann gekentert
war, während die rettende Hilfe stundenlang auf sich warten ließ.
Die im Wasser treibenden Leichen, die von gerade überstandener Todesgefahr
gezeichneten Überlebenden, dann Hunderte Särge, aufgebahrt im
Flughafenhangar, oder auch die Unterwasseraufnahmen jener Taucher, die im
Schiffswrack eingeschlossene Opfer bargen: Es schien, als sei Europa
endlich erwacht, als hätten Bürger, Medien und Politiker endlich begriffen,
welches Drama sich seit Jahren im Mittelmeer abspielt.
Angefangen vom Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, und dem
damaligen italienischen Ministerpräsidenten, Enrico Letta, kamen damals
viele nach Lampedusa und versicherten, dass Europa seine Flüchtlingspolitik
grundlegend überdenken müsse. Doch nur wenige Tage später, am 11. Oktober
2013, ereignete sich die nächste Katastrophe, ertranken mehr als 200 Syrer
nach dem Untergang ihres Schiffs – auch weil Italiens und Maltas Behörden
sich stundenlang nicht einig werden konnten, wer für die Rettung zuständig
war.
Italien wenigstens ließ den Schwüren Taten folgen. Seit November 2013 läuft
in der Straße von Sizilien der „Mare Nostrum“-Einsatz, patrouillieren
Schiffe und Flugzeuge bis weit hinunter vor die libysche Küste. Nicht
Grenzbewachung im Sinne der europäischen Frontex-Philosophie ist das,
bilanziert Christopher Hein, Direktor des Consiglio italiano per i
rifugiati, des italienischen Flüchtlingsrats, sondern ein „proaktiver
Einsatz“, der darauf zielt, Schiffe in Not aufzuspüren und für die
schnellstmögliche Rettung zu sorgen, durch eigene Einheiten oder per
Alarmierung von Handelsschiffen in der Unglückszone.
## „Dem Friedhof Mittelmeer entrissen“
Entsprechend stolz präsentierte sich Italiens Regierungschef Matteo Renzi
letzte Woche vor der UNO-Vollversammlung. Zu oft, stellte er in seiner Rede
fest, verwandle sich das Mittelmeer „in einen Friedhof“, Mare Nostrum aber
habe „80.000 Menschenleben dem Friedhof Mittelmeer entrissen, dank einer
Operation, von der wir wirklich überzeugt sind“.
Genauso sieht das Laura Boldrini, Präsidentin des italienischen
Abgeordnetenhauses, früher Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in
Italien. „Krieg“ herrsche im Mittelmeer, ein „Krieg der Menschen, der
Flüchtlinge gegen das Meer“. Im Gazastreifen seien beim letzten Waffengang
2.000 Menschen ums Leben gekommen – und weit mehr als 2.000 Tote seien
allein im Jahr 2014 unter den Flüchtlingen zu beklagen. Europa müsse
endlich humanitäre Korridore schaffen, die Möglichkeit für Flüchtlinge,
schon in den Transitländern auf der anderen Seite des Mittelmeers
Asylanträge für Europa zu stellen.
Dieses Jahr sind schon fast 140.000 Menschen übers Meer nach Italien
gekommen, und Mare-Nostrum-Schiffe haben sogar mehr Flüchtlinge gerettet,
als Renzi vor der UN gesagt hat: über 90.000. Die meisten fliehen heute vor
Kriegen und Diktaturen, aus Syrien, Eritrea oder Palästina. Doch vorerst,
so scheint es, ändert sich nichts, wenigstens nicht zum Besseren.
Stattdessen heißt es jetzt, nach Mare Nostrum solle Triton kommen, ein neu
definierter Einsatz der Europäischen Grenzagentur Frontex. Italien hatte
monatelang gefordert, die EU solle sich an den Kosten für Mare Nostrum
beteiligen. Denn das Rettungsprogramm kostet Rom an die 100 Millionen Euro
im Jahr.
Triton: Unter diesem Namen sollen in Zukunft die Kontroll-einsätze an den
europäischen Außengrenzen vor Italien und Malta laufen, mit einem weit
bescheideneren Budget von 36 Millionen Euro. Doch Frontex-Chef Gil
Arias-Fernández stellt sofort klar, dass „Triton Mare Nostrum nicht
ersetzen wird“ – schlicht, weil Frontex keinen humanitären Auftrag habe:
„Wir sind keine Agentur, die sich mit der Lebensrettung auf hoher See
befasst“, resümiert Arias trocken.
## Schlepperschiff rammte Kutter
Christopher Hein vom italienischen Flüchtlingsrat fordert denn auch, dass
Mare Nostrum unbedingt aufrechterhalten werden muss. Schließlich geht das
Sterben im Mittelmeer weiter. Allein in der Woche vom 10. zum 15. September
kamen bei drei Unglücken über 700 Menschen ums Leben. Der schlimmste Fall:
Am 10. September rammte ein Schlepperschiff einen von Ägypten aus in See
gestochenen Kutter, auf dem etwa 500 Menschen aus Syrien, Palästina,
Ägypten und dem Sudan waren. Nur zehn Personen überlebten.
Und Europa? Das Entsetzen von Lampedusa scheint lange schon vergessen, der
Fall wurde gemeldet, dann ging die Politik wieder zur Tagesordnung über. Zu
einer Tagesordnung, die eine Ausweitung der Frontex-Einsätze in Aussicht
stellt, mehr nicht. „Dabei müsste Mare Nostrum ausgeweitet werden“, findet
Hein. Schließlich ereignen sich immer mehr Unglücke im östlichen
Mittelmeer, vor Kreta oder Zypern, wo erst letzte Woche 345 Syrer durch ein
Kreuzfahrtschiff gerettet wurden. „Schon im Ausgangspunkt liefen viele
Mare-Nostrum-Einsätze in Gewässern, für die eigentlich Malta zuständig
war“, stellt Hein fest, „und generell erfolgen die meisten Einsätze in
internationalen, nicht in italienischen Gewässern, schon deshalb müssten
sie zu einer Angelegenheit der EU werden.“
Doch was aus Mare Nostrum wird, steht in den Sternen. Ministerpräsident
Renzi ist stolz auf den Einsatz – doch sein Innenminister Angelino Alfano
kündigt den „schrittweisen Rückzug“ Italiens an, wenn erst einmal Triton
läuft. Zu einer Angelegenheit der EU, meint Italien, müsste auch die
Aufnahme der Flüchtlinge werden – und faktisch praktizierte es diese
Politik schon in den letzten Monaten. Von den fast 140.000 im Jahr 2014
eingetroffenen Menschen wurden immerhin etwa 45 Prozent gleich gar nicht
mit ihren Fingerabdrücken in Italien erfasst – und konnten deshalb
ungestört nach Norden weiterziehen.
Europaweite Quoten wünscht sich die italienische Regierung, zog aber
zunächst einmal zu Hause die Daumenschrauben an, wohl auch, um sich in
zukünftigen EU-Verhandlungen nicht des Vertragsbruchs zeihen lassen zu
müssen. In den letzten Wochen erhöhte sich der Druck auf Flüchtlinge, in
Mailand oder auch im norditalienischen Treviso, ihre Fingerabdrücke
abzugeben; bei Weigerung erfolgt nunmehr oft eine Anzeige. Auch damit wäre
das Land wieder da, wo es schon vor dem 3. Oktober 2013, vor der
Katastrophe von Lampedusa war.
## Pure Quoten
Ska Keller von der Grünen-Fraktion im EP fordert dagegen eine Regelung, die
über pure Quoten hinausgeht, die zum Beispiel fragt, wo in Europa die
Flüchtlinge schon Verwandte haben, oder auch, welche Sprachen sie sprechen.
EU-Länder, die dann weniger Personen aufnehmen, müssten eben einen
Ausgleich zahlen.
Doch von solchen humanitären Regelungen ist Europa, ist Italien weit
entfernt. Stattdessen wird erst einmal der Gedenktag auf Lampedusa groß
begangen. Am 3. Oktober haben sich der Innenminister Angelino Alfano
angekündigt, dazu Außenministerin Federica Mogherini und ein ganzer Schwarm
Abgeordneter, und auch EP-Präsident Martin Schulz wird wohl kommen. Ein
Flashmob mit 368 Menschen, die an die Toten erinnern, ein Kulturfestival,
zahlreiche Diskussionsforen sind geplant. Am 4. Oktober aber wird Europas
Flüchtlingspolitik so weitergehen wie bisher – ganz so, als sei vor einem
Jahr eigentlich nichts passiert.
3 Oct 2014
## AUTOREN
Michael Braun
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