# taz.de -- Roman über Asylsuchende in Israel: Tod und Wiedergeburt in der Wü… | |
> Im Roman „Löwen wecken“ mahnt die israelische Autorin Ayelet | |
> Gundar-Goshen einen humaneren Umgang mit Flüchtlingen in Israel an. | |
Bild: Afrikanische Asylsuchende am Holot Detention Center in der Wüste Negev (… | |
Es ist das erste Mal, dass Ayelet Gundar-Goshen einen hellblauen Himmel | |
über Berlin sieht. Und sie genießt es. Fünfmal sei sie schon in der Stadt | |
gewesen, erzählt sie bei einem Cappuccino in der Oranienburger Straße. | |
Immer Anfang Februar zur Berlinale, wo ihre Kurzfilme gezeigt wurden, und | |
immer sei es grau und verregnet gewesen. „Ich kann mir überhaupt nicht | |
vorstellen, wie man hier Kinder großzieht. Die brauchen doch Sonne“, sagt | |
sie in sanftem Ton und zuckt verwundert mit den Schultern. | |
Die 33-jährige Schriftstellerin, Drehbuchautorin und praktizierende | |
Psychologin lebt in Tel Aviv, wo die durchschnittliche Jahrestemperatur um | |
die 20 Grad liegt. Von dort stammt auch der Protagonist ihres neuen Romans, | |
„Löwen wecken“, der Etan heißt und Arzt ist. Wegen einer Versetzung muss | |
Etan jedoch mit Frau und Kindern in die 100 Kilometer südlich liegende | |
Stadt Be’er Sheva ziehen, an den Rand der Wüste Negev – wo der Roman | |
beginnt. | |
Statt Mittelmeerbrise weht hier der Staub, er bedeckt die Autos, die | |
Straßen, die Menschen. Und statt jungen, schönen Kosmopoliten trifft man | |
hier auf verzweifelte Flüchtlinge aus Eritrea. Letztere bemerkt jedoch kaum | |
jemand, auch Etan nicht, bis er mitten in der Nacht versehentlich einen | |
überfährt – und einfach liegen lässt. | |
„Ich bin eine wahre Verfechterin des Plots“, sagt Gundar-Goshen, „es ist | |
wichtig, die Figuren handeln zu lassen und nicht nur ihr Innenleben zu | |
ergründen. Denn ich finde, dass Menschen im wahren Leben eher anhand ihrer | |
Taten beurteilt werden und nicht aufgrund ihrer Ideen.“ Und so lässt die | |
Autorin ihrem Protagonisten kaum Zeit, um im Wohnzimmer seiner Villa in | |
Selbstmitleid zu versinken, sondern konfrontiert ihn direkt am folgenden | |
Morgen mit Sirkit, der Frau des Mannes, der bei dem Unfall gestorben ist. | |
Sie steht vor seiner Haustür und hält seine Brieftasche in der Hand. | |
## Stillschweigen gegen Hilfe | |
Fortan gerät Etans geordnetes Leben komplett ins Wanken. Er ist gezwungen, | |
in einer verlassenen Werkstatt kranke, verwundete und schwangere | |
Flüchtlinge zu behandeln, die wegen ihres illegalen Status kein Krankenhaus | |
aufsuchen können. | |
Er stiehlt sich nachts aus dem Haus, klaut Medikamente aus der Klinik, | |
täuscht seiner Frau Liat – einer scharfsinnigen Polizistin – | |
Bereitschaftsdienste vor und steht immer kurz davor, erwischt zu werden. | |
Doch ihm bleibt nichts anderes übrig, denn im Gegenzug verspricht Sirkit | |
ihr Stillschweigen zu seiner Fahrerflucht. | |
Von diesem Deal aus entfaltet sich ein hochinteressantes Gefüge aus | |
zahlreichen Figuren und überraschenden Wendungen, das durchaus | |
Drehbuchqualitäten aufweist. Eine Adaption als TV-Serie sei schon in | |
Arbeit, erzählt Gundar-Goshen, die in Vergangenheit häufig für das | |
israelische Fernsehen geschrieben hat. Es ist nicht nur das geheime | |
Doppelleben Etans, das „Löwen wecken“ zu einem fesselnden Roman macht. Vor | |
allem die Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen dem weißen israelischen | |
Arzt und der schwarzen Flüchtlingsfrau gibt der Geschichte einen eigenen | |
Drive. | |
Und da ist noch mehr: Sirkit ist als Figur so komplex angelegt, dass es dem | |
Leser nicht gelingt, sie aufgrund der Umstände zu bemitleiden oder sie in | |
irgendeiner Weise zu durchschauen. „Es gibt nichts Unmenschlicheres als das | |
Bild des Opfers“, sagt Gundar-Goshen, deshalb sei die Stärke dieser Figur | |
wichtig. So stehen die Ruhe und Bestimmtheit, mit der Sirkit Befehle | |
erteilt, in starkem Kontrast zu der Mischung aus Schuld und Aversion, die | |
Etan dabei empfindet. | |
## Etan entdeckt den Rassisten in sich | |
„Ich trinke diesen Kaffee“, sagt Gundar-Goshen und hält die Tasse hoch, | |
„weil ich es will. Ich liebe Kaffee. Wenn Sie mich aber dazu gezwungen | |
hätten, ihn zu trinken, würde ich es hassen. Denn ich möchte die Wahl | |
haben.“ So erklärt die Autorin den regelrechten Ekel, den Etan jedes Mal | |
verspürt, wenn er einen seiner illegalen Patienten behandelt. Als | |
gebildeter Mann aus der Mittelschicht befinde er sich zum ersten Mal in | |
einer Situation, in der er zu etwas gezwungen werde. | |
Zugleich entdecke er den Rassisten in sich, den wir, so findet | |
Gundar-Goshen, alle irgendwo in uns tragen: „Hätten Sie Etan vor dem Unfall | |
nach seiner politischen Einstellung gefragt, er hätte gesagt, dass er die | |
Linke wählt. Er würde sich in Bezug auf die Flüchtlingspolitik in Israel | |
sehr tolerant geben. Aber so antworten Leute eben in der Theorie. Deshalb | |
müssen sie nicht zwangsläufig auch so handeln, wenn es hart auf hart | |
kommt.“ | |
Interessant ist aber auch, dass mit der unausgesprochenen Erotik, die sich | |
zwischen Sirkit und Etan einschleicht, das Dominanzverhältnis in ihrer | |
Beziehung wieder in die andere Richtung kippt. Zwar fühlt sich auch Sirkit | |
zu Etan hingezogen, doch empfindet sie sein Interesse als entwürdigend, | |
vergleicht seinen begehrenden Blick mit der Leine am Hals eines Hundes: | |
„Man musste gar nicht daran ziehen, der Hund brauchte bloß zu wissen, das | |
Halsband war da, und schon war er brav.“ | |
## Moralische Wertfreiheit | |
Als Romanautorin verlässt sich Gundar-Goshen vor allem auf ihre Erfahrungen | |
aus der psychologischen Praxis. Sie lässt ihre Figuren vorschnelle Urteile | |
fällen, einfältigen Gedanken nachjagen und sich aus Bequemlichkeit selbst | |
belügen. Die moralische Wertfreiheit gegenüber solchen Verhaltensmustern | |
sieht sie dabei als Schnittstelle zwischen ihren beiden Berufen: „Natürlich | |
habe ich privat eine Meinung zu bestimmten Dingen. Natürlich finde ich, | |
dass wir schlecht mit unseren 100.000 Flüchtlingen umgehen, die in | |
Restaurants unsere Tische abräumen, die wir aber nicht einmal bemerken. Und | |
ich würde auch eine Petition unterschreiben, die dieses Problem | |
thematisiert. Aber als Schriftstellerin wie auch als Psychologin mache ich | |
keine Petition, es geht mir um etwas anderes. Ein Patient kommt meistens zu | |
mir, weil er denkt, dass er etwas Falsches getan hat. Mir obliegt es nicht, | |
zu sagen: Ja, das war falsch. Meine Aufgabe ist es, zu fragen: Warum hat er | |
es getan? Mich interessiert das Fragezeichen, nicht der Punkt.“ | |
Auch in „Löwen wecken“ gibt es eine Frage, die ständig präsent ist und d… | |
bis zum Ende unbeantwortet bleibt: Hätte Etan Fahrerflucht begangen, wenn | |
er statt eines eritreischen Flüchtlings ein israelisches Mädchen aus dem | |
Kibbuz überfahren hätte? Gundar-Goshen schüttelt den Kopf: „Nein.“ Ihre | |
Erklärung klingt simpel, doch irgendwie erschreckend: „Wenn du jemanden | |
umfährst, der so aussieht wie du, ist es schwieriger, wegzufahren.“ | |
In die Wüste, in der Gundar-Goshen den fiktiven Unfall ansiedelt, reiste | |
die Autorin kürzlich mit einem deutschen Kamerateam. Alle seien sehr | |
angetan gewesen von der Landschaft, erzählt die Autorin: „Ja, es ist schön, | |
im klimatisierten Jeep dorthin zu fahren, für eine Stunde, und dann wieder | |
zurück. Aber für jene, die dort Hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen, ist | |
das sicher kein schöner Ort.“ | |
So ist die Wüste für Gundar-Goshen nicht nur ein geografischer, sondern | |
auch ein symbolischer Ort. Denn dieselbe Beduinen-Wüste, die heute die | |
Eritreer durchqueren, um nach Israel zu gelangen, durchqueren in der Bibel | |
die Israeliten, um von Ägypten ins Gelobte Land zu gelangen. „Es ist der | |
Ort, an dem der jüdische Mythos geboren wurde“, sagt die Autorin, „und | |
zugleich der Ort, an dem er sterben wird. Weil wir nicht umzugehen wissen | |
mit den Menschen, die letztlich nur eine Reinkarnation unserer eigenen | |
Geschichte sind.“ | |
8 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
## TAGS | |
Eritrea | |
Flüchtlinge | |
Israel | |
Buch | |
Israel | |
Benjamin Netanjahu | |
Beziehung | |
Palästinenser | |
Innenpolitik | |
Schriftstellerin | |
Israel | |
Flüchtlinge | |
Israel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Flüchtlingsgesetz in Israel: Gericht kippt Langzeitinternierung | |
Erneut muss die Knesset das Flüchtlingsgesetz umarbeiten. Flüchtlinge | |
dürfen laut oberstem Gericht nicht mehr bis zu 20 Monate interniert werden. | |
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Israel: Erst mal alles abschalten | |
Israels Rundfunk steht eine Radikalkur bevor. 1.800 Kündigungen und mehr | |
Autonomie sind vorgesehen. Doch die Regierung bestimmt den Aufsichtsrat. | |
Deutsch-israelische Perspektiven: Getanzt wird trotzdem | |
Das deutsch-israelische Verhältnis steht im Zentrum der Leipziger | |
Buchmesse. Autoren aus beiden Ländern diskutieren und lesen aus ihren | |
Büchern. | |
Debatte Israel vor der Wahl: Netanjahus langer Schatten | |
Im derzeitigen Wahlkampf dominieren der Konflikt mit den Palästinensern und | |
Irans Atomprogramm. Innenpolitische Probleme werden ignoriert. | |
Vor der Wahl in Israel: Friede den Campern | |
Israels Mittelschicht fühlt sich von Premier Netanjahu alleingelassen. Vor | |
der Parlamentswahl stehen Protestzelte in der Innenstadt von Tel Aviv. | |
Israelische Schriftstellerin Lizzie Doron: Dialog unter Beschuss | |
„Who the fuck is Kafka?“: Lizzie Doron hat einen lebhaften Roman über das | |
verminte Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern geschrieben. | |
Neues Einwanderungsgesetz in Israel: Verfassungsbeschwerde angekündigt | |
Das israelische Parlament ändert die Regelungen für Flüchtlinge. Die | |
Internierung wird verkürzt, das Beschäftigungsverbot bleibt. | |
Flucht aus Eritrea: Ein Organ als Lösegeld | |
Internierung in Erdlöchern, Schießbefehl an der Grenze: Wer es aus dem | |
ostafrikanischen Land schafft, hat oft Unvorstellbares hinter sich. | |
Urteil zu Flüchtlingsunterkunft in Israel: Das Lager muss schließen | |
Illegal Eingereiste, überwiegend aus Afrika, steckt Israel für ein Jahr in | |
Haft. Das ist nicht legal, entschied ein Gericht – und erntet dafür heftige | |
Kritik aus der Politik. |