# taz.de -- Vor der Wahl in Israel: Friede den Campern | |
> Israels Mittelschicht fühlt sich von Premier Netanjahu alleingelassen. | |
> Vor der Parlamentswahl stehen Protestzelte in der Innenstadt von Tel | |
> Aviv. | |
Bild: Zeichen gegen hohe Mieten: Protestcamp in Tel Aviv. | |
JERUSALEM taz | „Seit sechs Jahren regiert Benjamin Netanjahu das Land, die | |
Armut wächst, und ein Frieden mit den Palästinensern ist weiter weg als | |
jemals“, sagt frustriert Hadas Oknin aus Tel Aviv. Die Psychologiestudentin | |
und Masseuse hat vor allem ein Ziel für die Wahlen in zehn Tagen: „Bibi | |
ablösen.“ Die Frage sei nur, wie das gehen solle, denn es mangelt an einer | |
klaren Alternative. „Bibi“ Netanjahus Likud-Bündnis liegt derzeit Kopf an | |
Kopf mit dem Parteienbündnis Zionistisches Lager unter dem Sozialdemokraten | |
Jitzhak Herzog, Chef der Arbeitspartei. Doch selbst wenn man alle | |
potenziellen Koalitionspartner im Mitte-links-Lager zusammenrechnet, reicht | |
es nicht für eine Mehrheit um das Zionistische Lager. | |
Zwar hatte die Regierung, allen voran Finanzminister Yair Lapid von der | |
Zukunftspartei, eine Senkung der Lebenshaltungskosten versprochen – doch | |
die Preise steigen immer weiter. Am schlimmsten ist es in den | |
Ballungsgebieten. In Tel Aviv liegen die Wohnungspreise heute um 17 Prozent | |
höher als noch vor zwei Jahren, und schon damals konnten sie mit Paris oder | |
London konkurrieren – bei deutlich geringeren Einkommen der israelischen | |
Mittelschicht. | |
„Ich arbeite in Tel Aviv und muss hier leben“, sagt Oknin, die sich mit 16 | |
Quadratmetern begnügt, für die sie umgerechnet gut 550 Euro bezahlt. Immer | |
mehr Israelis weichen in abgelegenere Stadtviertel oder an die Peripherie | |
aus. „Der soziale Wohnungsbau ist praktisch nicht existent“, sagt die | |
32-jährige Maajan Amran, die sich von der Regierung alleingelassen fühlt. | |
Schon vor drei Jahren versprach Netanjahu den Bau von kostengünstigen | |
Mietwohnungen. Geschehen ist nichts. Auch Strom, Wasser und Nahrungsmittel | |
wurden teurer. „Was wir verdienen, steht in keiner Relation zu den Preisen, | |
die wir bezahlen müssen, für die Miete, aber auch im Supermarkt“, sagt | |
Amran. | |
Seit einer Woche hat sie ihre Wohnung gegen ein Zelt getauscht. Sie und | |
Dutzende andere Tel Aviver übernachten mitten auf dem mondänen | |
Rothschild-Boulevard, der vor drei Jahren Mittelpunkt von Protesten war. | |
Dort ist kaum eine Wohnung unter 2.000 Euro Miete zu haben. Man könne | |
zusehen, wie die soziale Misere um sich greife, sagt Amran. Immer mehr vor | |
allem ältere Menschen durchstöberten abends auf dem Markt den Abfall nach | |
Essbarem. „So etwas gab es bis vor zwei Jahren nicht in meinem Viertel.“ | |
## Schwankend in die Wahl | |
Für Amram gehören Frieden und Aufschwung zusammen. „Krieg ist teurer als | |
Frieden“, stellt sie fest und ist dennoch skeptisch, ob eine Einigung mit | |
der palästinensischen Führung überhaupt machbar ist. Die junge Frau | |
arbeitet in einem Verleihladen für filmisches Equipment, obschon sie lieber | |
selbst Filme machen würde, wie sie es gelernt hat. Davon könne sie | |
vorläufig nur träumen, denn einen Job gibt es in ihrem Bereich nicht. „Ich | |
bin in einem Haus groß geworden, in dem immer Likud gewählt wurde“, sagt | |
sie, aber Bibi habe sie sehr enttäuscht. „Er hat Reformen versprochen und | |
nichts davon umgesetzt“, schimpft sie. | |
Amran schwankt, ob sie ihre Stimme dem Zionistischen Lager geben soll oder | |
der neuen Partei Kulanu („Wir alle“) des früheren Likud-Politikers Mosche | |
Kachlon. In seiner dreijährigen Amtszeit als Kommunikations- und | |
Sozialminister hatte Kachlon mit der Vergabe von Lizenzen an | |
Mobiltelefonfirmen für mehr Wettbewerb gesorgt und damit drastische | |
Preisnachlässe durchgesetzt, die sich in fast allen israelischen Haushalten | |
unmittelbar bemerkbar machten. | |
Ähnliche Reformen verspricht er nun im Finanz- und Versicherungsbereich, | |
außerdem will er die Stromkosten für sozial schwächere Schichten drücken. | |
„Kachlon ist vertrauenswürdiger als Herzog“, findet der 41-Jährige Itamar | |
Pirchi, der wie Amran in einem Zelt auf dem Rothschild-Boulevard haust, um | |
die Entwicklung sozialer Gerechtigkeit voranzutreiben. | |
Auch die Hochschuldozentin Orit Jekutieli glaubt nicht, dass | |
„Preisnachlässe, kombiniert mit verstärkt vorangetriebener Privatisierung�… | |
langfristig Lösungen für die wirtschaftliche Misere bieten können. Die von | |
Kachlon erreichte Handyreform nennt die Nahostwissenschaftlerin „Opium für | |
die Massen“, während das grundsätzliche Problem, „der Mangel an | |
Jobsicherheit“, unangetastet bleibe. Jekutieli, die zusammen mit ihrem | |
Mann, einem Archäologieprofessor, mit der Abzahlung ihres Bausparvertrags | |
für eine Dreizimmerwohnung in Tel Aviv kämpft, fürchtet, dass „der | |
Wohlfahrtsstaat schwindet“ und dem „konsumorientierten privatisierten | |
Staat“ Platzt macht. | |
## Junge Generation in der Krise | |
Die junge Generation habe kaum noch eine Chance auf eine langfristig | |
gesicherte Anstellung, meint Jekutieli, trotzdem „akzeptiert die | |
Gesellschaft ihre Lage angesichts der von den Rechten geschürten Bedrohung | |
der nationalen Sicherheit“. Paradoxerweise seien es „gerade die sozial | |
Schwächsten, die die Regierungspropaganda mit größter Bereitschaft | |
schlucken“. Bei den Umfragen, wer von den beiden Spitzenkandidaten die neue | |
Regierung stellen sollte, liegt Netanjahu landesweit mit 47 Prozent noch | |
immer weit vor Herzog, der das Vertrauen von nur 30 Prozent der Bevölkerung | |
genießt. | |
Die Bewohner des Protestzeltlagers am Rothschild-Boulevard halten sich aus | |
dem parteipolitischen Wahlkampf heraus. „Wir sagen niemandem, was er wählen | |
soll“, meint Pirchi, der selbst Mitglied der Arbeitspartei ist. Drei | |
führende Köpfe der Sozialbewegung vor drei Jahren stehen diesmal auf | |
aussichtsreichen Listenplätzen seiner Partei. Trotzdem ist Pirchi noch | |
unentschlossen, ob er seine Stimme dem Zionistischen Lager geben wird. „Wir | |
wollen, dass das Problem der Wohnungsnot auf die nationale Agenda kommt“, | |
sagt er, „egal wer regiert.“ Pirchi distanziert sich von der | |
Protestveranstaltung auf dem Tel Aviver Rathausplatz, nur wenige hundert | |
Meter vom Rothschild-Boulevard entfernt, wo am Samstagabend mehrere | |
Zehntausend Demonstranten eine politische Wende nach links fordern. | |
„Bibi ist schlecht für alle“ steht auf den Schildern der jungen und | |
ausnahmslos weltlichen Demonstranten. Die Redner konzentrierten sich vor | |
allem auf das, was Netanjahu in den vergangenen sechs Jahren nicht erreicht | |
und was er verpatzt hat, wie die Beziehungen zum Weißen Haus. „Wir fordern | |
Veränderung“, so lautet das Motto, denn „das steht uns zu“. Nur wie das | |
aussehen soll, weiß keiner so recht. | |
„Hightech und Kultur statt Waffen“, meint eine Rednerin, „Gegenwart und | |
Zukunft, statt in der Vergangenheit zu graben“, „Hoffnung“ und „soziale | |
Gerechtigkeit“, und ein anderer ruft schlicht: „Lasst uns leben!“ Der | |
frühere Chef des Geheimdiensts Mossad, Meir Dagan, spricht von der | |
„schlimmsten Krise seit Staatsgründung“. Die eigene Führung jage ihm | |
größere Angst ein als Israels Feinde. Der Staat sei isoliert und | |
orientierungslos. „Wohin gehst du, Bibi?“, fragt Dagan, und die Menge | |
antwortet ohne Zögern: „Nach Hause!“ | |
8 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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