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# taz.de -- Inoffizielle Flüchtlingslager in Calais: Der „Dschungel“ in de…
> Die Flüchtlinge kommen aus Syrien, Eritrea oder Südsudan und wollen nach
> England. In Calais ist Endstation. Dort werden sie sich selbst
> überlassen.
Bild: Es kann jederzeit geräumt werden: Polizisten und Flüchtling in Calais.
CALAIS taz | Aus dem Zentrum von Calais in Richtung der Stadtautobahn, die
zum Hafen und damit zu den Fähren nach England führt, dauert der Weg eine
Stunde zu Fuß. Das Flüchtlingslager „Camp des Dunes“ liegt in der
Industriezone Les Dunes. 800 Menschen leben in diesem Lager, vielleicht
auch 1.000; die einzige Wasserstelle ist der zum Brunnen umgebaute Hydrant.
Zwei junge Männer waschen sich dort die Haare, ein Dritter seine Füße, zwei
Dutzend andere gedulden sich mit misstrauischen Blicken, bis sie ihre
Plastikkanister oder -flaschen füllen können.
Wer nicht warten will, bis er an der Reihe ist, kann auf die Abwässer aus
dem benachbarten Farbchemiewerk Tioxide ausweichen. „Manchmal kommt die
Polizei und vertreibt uns, mehrfach haben sie das Wasser abgestellt“, klagt
einer der Wartenden. Er sei aus dem Südsudan, sagt er auf Englisch, andere
aus Eritrea, Somalia oder Afghanistan.
In ganz Calais halten sich schätzungsweise 1.500 obdachlose Migranten auf.
Die meisten haben bereits vergeblich versucht, ein paar hundert Meter
entfernt auf einen Lkw aufzuspringen und über den Ärmelkanal nach England
zu gelangen. Neuerdings wagen das sogar ganze Gruppen am hellen Tag.
Ebenso überfüllt wie das Lager in den Dünen ist das „Fort Gallou“.
Aktivisten der „No border“-Bewegung haben in einer Sackgasse im Südwesten
von Calais eine stillgelegte Metallfabrik besetzt. Neben Zelten auf dem
verschmutzten Werkboden und auf Schnüren aufgehängter Wäsche wird auf
offenen Feuerstellen gekocht. An einem Tisch vertreiben sich ein paar
Männer mit Kartenspiel die Zeit. Stündlich kann eine polizeiliche Räumung
erfolgen. Darum ist das Areal mit Holzbalken und Drahtzaun verbarrikadiert.
## „Wir sind keine Tiere!“
Der einzige Ort, an dem die Migranten in Calais zurzeit offiziell geduldet
werden, ist ein brachliegendes Grundstück an einem Kanal ein paar Schritte
hinter dem prunkvollen Rathaus. Hier geben Hilfsorganisationen einmal am
Tag um 18 Uhr eine warme Mahlzeit aus.
„Warum spielt man mit uns? Amüsiert euch das in Frankreich und England,
zuzuschauen, wie lange wir brauchen, um über den Zaun zu klettern, der hoch
genug ist, um ein gefährliches Hindernis zu sein, aber doch niedrig genug,
damit wir es früher oder später schaffen?“ Der etwa 25-jährige H. ist
verbittert und auch wütend. Fast jeden Tag sei ein BBC-Fernsehteam da. „Wir
sind keine Tiere, die man anschauen kommt wie im Zoo!“ sagt H. und zeigt
auf seine Kleidung, die er aus dem Müll gefischt hat.
Er sei aus Syrien geflüchtet, erzählt H. Seit drei Wochen versuche er, in
einem Lkw versteckt nach Dover überzusetzen. In Großbritannien habe er
Verwandte und werde auch bestimmt schnell Arbeit finden, meint er.
Früher oder später gelingt den meisten die Überfahrt, obwohl die Methoden
der Polizei immer härter werden. Regelmäßig gebe es Verletzte, sagt ein
syrischer Landsmann, der mit H. und mehreren hundert anderen für seine
Ration Reis mit Gemüse in einem Plastikteller ansteht.
## Seit 15 Jahren im Einsatz
Die meisten warten schon über eine Stunde. Für viele von ihnen ist die
abendliche Essensausgabe der einzige menschliche Kontakt mit französischen
Einheimischen. Alle kennen den weißhaarigen Jean-Claude Lenoir. Fast jeden
Tag ist er da in seiner blauen Jacke mit der Aufschrift seiner Organisation
„Salam“. Er versucht mit anderen Freiwilligen die Essensausgabe bei jedem
Wetter so gut wie möglich zu organisieren.
„Flüchtlingsvater“ Lenoir unterhält sich, so gut es geht, auf Englisch mit
den Menschen, erkundigt sich nach ihren Problemen. Dabei hätte der
63-Jährige selber eine Ermunterung nötig, oder eher noch einen Orden
verdient. Seit 15 Jahren bereits ist er unermüdlich im Einsatz.
Lenoir hat das Rotkreuz-Auffanglager in Sangatte bei Calais erlebt, das auf
Druck der britischen Regierung 2002 vom damaligen französischen
Innenminister, Nicolas Sarkozy, geschlossen wurde, und danach die
improvisierten Lager und besetzten Abbruchhäuser und Industrieruinen, in
denen die Flüchtlinge seitdem hausen und die man in Calais schlicht
„Dschungel“ nennt.
Mehrfach hat Lenoir bei Räumungsaktionen gegen das Vorgehen der
CRS-Ordnungspolizei protestiert, 2008 wurde er deswegen verhaftet: „Ich
kann Ungerechtigkeit nicht ertragen. Darauf reagiere ich allergisch. Ich
konnte nicht anders als mich dazwischen stellen. Deswegen hat man mich
gerichtlich belangt. Man wollte mich zum Schweigen bringen.“ Schon seine
Eltern hätten in den 60er-Jahren Durchreisende aus Pakistan und Jamaika mit
Suppe versorgt.
## Opfer bilateraler Kontroversen
„Die Lage hat sich seit der Räumung mehrerer Camps in den letzten Monaten
dramatisch zugespitzt“, bestätigt Ärztin Martine Devries von der
Hilfsorganisation „Médecins du Monde“, die im Zentrum von Calais den
Flüchtlingen Beratung und medizinische Hilfe anbietet. „Schon seit der
Schließung von Sangatte waren die Existenzbedingungen für die Migranten
menschenunwürdig, doch heute ist die Situation schlimmer denn je.“
Unterschätzt werde vor allem die psychologische Situation für diese
Migranten, wenn diese nach einer langen Reise, für die sie und ihre
Familien enorme Opfer gebracht hatten, so kurz vor den mit bloßem Auge
sichtbaren weißen Kreidefelsen von Dover gestoppt werden.
Unerträglich finden die Lage aber auch die meisten Einwohner von Calais.
Davon weiß der für Sicherheit zuständige Vizebürgermeister Philippe
Mignonet ein Lied zu singen: „Die Bürger von Calais waren immer generös und
offen. Aber in den letzten Monaten kommen jeden Tag Leute zu mir ins
Rathaus, um sich zu beschweren. Es geht meist um kleine Dinge wie Abfälle
vor dem Eingang oder Exkremente im Garten, aber trotzdem ist die Spannung
klar angestiegen.“
Der elegant gekleidete und redselige Mignonet, der zur konservativen
UMP-Opposition gehört, verrät auch, dass gelegentlich ganz inoffiziell die
Kontrollen gelockert würden, wenn sich zu viele Migranten vor dem Nadelöhr
am Ärmelkanal anstauen. Er findet es nicht normal, dass Großbritannien
Flüchtlinge anlocke und dann „als Schwarzarbeiter ausbeutet“. Die Stadt
Calais sei Opfer bilateraler Kontroversen zwischen London und Paris.
## Kein „zweites Sangatte“
Wenn sich die Regierungen nicht einigen, wollen die Stadtbehörden die
Hafenzufahrt blockieren. Die Drohung scheint gewirkt zu haben: Erstmals hat
sich Großbritannien bereiterklärt, mit 15 Millionen Euro in den drei
nächsten Jahren Zusatzkosten der schärferen Abschottung zu finanzieren. Die
französische Regierung ihrerseits bewilligt die Einrichtung einer
Tagesstätte für Migranten.
In dieser noch für diesen Herbst geplanten Durchgangsstation im ehemaligen
Freizeitzentrum Jules Ferry, außerhalb der Stadt und des Blickfelds der
Wohnquartiere, werden aber nur Frauen und Kinder sowie besonders Schwache
über Nacht bleiben dürfen: Um keinen Preis soll in oder um Calais ein
„zweites Sangatte“ entstehen. Um keinen Preis – außer dem Leben der
Flüchtlinge.
2 Oct 2014
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Flüchtlinge
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Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Flucht
Calais
Afrika
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