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# taz.de -- Ein Jahr Große Koalition: Wandel durch Anpassung?
> Die SPD hat ihre Krise überwunden – der Erfolg ist das Ergebnis solider
> Aufräumarbeiten. Ein mutiger Plan fehlt ihr.
Bild: Sigmar Gabriels Taktik erscheint wie eine spiegelsymmetrische Imitation v…
Bei der SPD läuft es blendend. In 16 von 18 Bundesländern sitzen
Sozialdemokraten in der Regierung, nur in Bayern und Hessen ist die SPD
nicht an der Macht. Das ist bemerkenswert, denn 2005 war die SPD geradezu
von der Landkarte verschwunden. Sogar SPD-Hochburgen wie
Nordrhein-Westfalen und Hamburg waren an die CDU gefallen. Dass sie die
Spätschäden der Schröder-Ära nun überwunden hat, ist angesichts der tiefen
Identitätskrise der Partei und den ernüchternden Ergebnissen bei den
Bundestagswahlen seit 2005 keineswegs selbstverständlich.
Der Erfolg ist das Ergebnis solider Aufräumarbeiten. Die Partei hat sich –
moderiert von Sigmar Gabriel – wieder versöhnt, untereinander und mit den
Gewerkschaften. Sie hat mit Mindestlohn und Rente mit 63 die
Kollateralschäden der rot-grünen Bundesregierung halbwegs repariert.
Langsam und unauffällig, gewissermaßen sozialdemokratisch, fand die SPD zu
sich zurück.
Auch den zweiten Defekt hat sie einigermaßen abgedämpft. Die SPD ist eine
Großorganisation, die schrumpft. Nicht mehr so dramatisch wie nach der
Agenda 2010, trotzdem verliert sie weiter stetig Mitglieder. So einen
Abstieg kann eine Volkspartei durch Trotzreaktionen noch verschärfen – oder
gelassen managen. Lange beharrte die SPD-Spitze gegenüber Grünen und
Linkspartei auf dem Anspruch, als einzige Partei links der Mitte
Regierungen führen zu dürfen. Winfried Kretschmann und Bodo Ramelow zeigen,
dass die SPD lernfähig ist – langsam, stockend, unter Schmerzen.
## Copyright auf sozialen Aufstieg und Chanchengerechtigkeit
Der Befund, dass sich die Partei zähflüssig modernisiert, gilt auch für den
Umgang mit einer wachsenden Wählergruppe: den Migranten. Die SPD hielt sie
lange in hochnäsiger Indifferenz für eine Art Besitzstand, der keiner
Pflege bedarf. Was für ein Irrtum. 2009 schlug sie sich erst mit Thilo
Sarrazin herum und brachte dann auf dem Dresdner Parteitag das Kunststück
fertig, einen 50-köpfigen Vorstand zu wählen – komplett biodeutsch.
Währenddessen warb ihr die linke und rechte Konkurrenz das migrantische
Klientel ab. Ein halbes Jahr nach dem Dresdner Parteitag ernannte die CDU
in Hannover die erste muslimische Ministerin der Republik.
Auch diesen Sonderweg hat die SPD still korrigiert: In zweiter Reihe der
sozialdemokratischen Fraktionen sitzen in Bund und Ländern aufstrebende
MigrantInnen. Die Sozialdemokratie hat seit 150 Jahren das Copyright auf
sozialen Aufstieg und Chanchengerechtigkeit – und damit Themen, die sie für
MigrantInnen attraktiv macht.
Und schließlich: Obwohl nur Juniorpartner der Union, hat die SPD das erste
Jahr der Großen Koalition geprägt. Neben dem mit geschickten Kompromissen
politisch abgefederten Mindestlohn und der Rente mit 63 stehen
Mietpreisbremse und Frauenquote auf dem Habenkonto.
## Staubsauger Merkel
Alles prima also? Nicht ganz. Denn die Aussicht auf die Bundestagswahl 2017
macht die Genossen ratlos. Die Umfragen zeigen stabil, dass die SPD kaum
über 25 Prozent kommt. Seit fast zehn Jahren sucht die SPD erfolglos nach
einem Mittel gegen Angela Merkel, die wie ein Staubsauger alle
wahlkampftauglichen Themen absorbiert. Und schon bahnt sich ein
Richtungsstreit an, ein früher Kampf um das richtige Programm für 2017.
Auf der einen Seite: der Chef, unterstützt von den Länderfürsten Olaf
Scholz und Stephan Weil. Sigmar Gabriel will sich nicht länger mit den
Gewerkschaften versöhnen, sondern wieder stärker die Mitte ansprechen. Die
sozialen Reparaturarbeiten seien ja erledigt. Jetzt gelte es zu beweisen,
dass eine SPD-geführte Regierung das Land nicht an die Wand fahren würde.
Deshalb kämpft der SPD-Chef für die Schwarze Null, erklärt die
Vermögenssteuer für tot und genehmigt millionenschwere Waffenexporte in
arabische Diktaturen. Mal wieder ein Genosse der Bosse. Im Vorbeigehen
schreibt Gabriel sozialdemokratische Herzensthemen ab und bringt damit die
SPD-Linken gegen sich auf.
So sehr, dass sich der zerstrittene Parteiflügel im Herbst wieder
zusammengerauft hat. Die neu gegründete „Magdeburger Plattform“ ist zwar
noch fragil und hat bis dato keine Visionen für die Sozialdemokratie des
21. Jahrhunderts im Angebot. Aber auf eine Formel haben sich die linken
Genossen schnell geeinigt: Kein Zurück hinter das eher linke Wahlprogramm
von 2013.
## „Gabriels Hartz IV“
Der erste Testlauf für den Verteidigungskampf hat begonnen. Es geht um den
Freihandel und die geplanten Abkommen der EU mit den USA (TTIP) und Kanada
(Ceta). Noch vor zwölf Monaten konnten nur Experten die Abkürzungen
entschlüsseln, mittlerweile sind die geplanten Verträge Reizthemen. Von
„Gabriels Hartz IV“ ist schon die Rede: Die Gewerkschaften gehen auf
Distanz, die mühsam zurückgewonnene Glaubwürdigkeit der SPD schwindet.
Das ist Gabriels Schuld. Im September hatte der SPD-Vorsitzende mit seiner
Partei eine Vereinbarung getroffen: Die Basis akzeptiert die Abkommen,
dafür gibt sie dem Wirtschaftsminister ein paar Bedingungen mit in die
Verhandlungen. Ganz schön geschickt, für alle etwas: Für die Mitte macht
Gabriel den Staatsmann, der Freihandel durchsetzt. Für die Linken macht er
das soziale Gewissen, das die umstrittenen Schiedsgerichte verhindert. Oder
es zumindest versucht.
Aber ohne Not hat Gabriel diese Vereinbarung aufgekündigt. Mitte November
stellte er sich in den Bundestag und erklärte nebenbei: Dem Abkommen mit
Kanada werde die Bundesregierung zustimmen, Schiedsgerichte hin oder her.
Ein bemerkenswerter Auftritt, die Rückkehr der Basta-Politik, die die SPD
eigentlich überwunden hatte: Der Chef hat beschlossen, die Partei wird
schon folgen. Kein Für-alle-etwas, kein Sowohl-als-auch. Stattdessen:
Entweder-oder, und im Zweifel für die Wirtschaft.
## Gabriels Mitte-SPD als Ersatz-CDU
Gabriels markiges Auftreten verdeckt, dass sein Plan etwas Defensives,
Verhuschtes hat. Die SPD soll für den Fall der Fälle bereit sein. Falls
Angela Merkel mal abtritt, falls sich die Union in Nachfolgefehden
verharkt, falls die neue CDU-KandidatIn schwach wirkt, dann soll Gabriels
Mitte-SPD als Ersatz-CDU in Warteposition bereit stehen. Rundgeschliffen,
wirtschaftsnah und folgsam.
Diese Taktik erscheint wie eine spiegelsymmetrische Imitation von Angela
Merkels Erfolgsrezept. So wie die Kanzlerin sich mitunter als bessere
Sozialdemokratin inszeniert, so will Gabriel als besserer Christdemokrat
gesehen werden.
Dabei kann er sich auf ein historisches Vorbild berufen – Willy Brandt in
den 60er Jahren. Brandt war damals ein Mann des rechten Flügels, der die
Partei beinahe zur Kopie der CDU machte. Die SPD wurde zur pragmatischen
Volkspartei, die sich zur Marktwirtschaft bekannte und ideologischen
Plunder von gestern entsorgte. Erfolgreich war dieser Wandel durch
Anpassung übrigens erstmal nicht: Brandt verlor damit 1961 und 1965 zwei
Wahlen.
## Wo ist das Alleinstellungsmerkmal der SPD?
Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den 60er Jahren
und heute. Damals hatte die SPD zwei politische Projekte, die sie, trotz
aller Anschmiegsamkeit, fundamental von der Union unterschied und die sie
1969 entschlossen in die Tat umsetzte: Ostpolitik und Bildungsreform.
Frieden und Chancengleichheit waren unverwechselbare sozialdemokratische
Kernthemen. Wo aber ist das Alleinstellungsmerkmal der SPD 2017, wenn sie
ihrem Chef folgt und die Differenzen zur Union so wie bei TTIP weghobelt?
Wenn die SPD nur auf die Schwäche der Union in ferner Zukunft hofft, begibt
sie sich in eine passive Rolle. Sie ist abhängig von der günstigen
Gelegenheit, die herzustellen nicht in ihrer Macht liegt. Es ist eine
Politik im Konjunktiv, mit viel falls, wenn und später.
Es gibt eine Alternative, einen Plan B: Rot-Rot-Grün. Niemand weiß, ob die
Linkspartei ihre Sektierer irgendwann unter Kontrolle bekommt. Die SPD kann
aber mehr dazu beitragen, als bloß zuzuschauen. Die Grundlage hat sie
bereits gelegt, indem sie das dogmatische Nein zu Rot-Rot-Grün ad acta
legte, da es ohne Linkspartei wohl keinen SPD-Kanzler geben wird.
Klug wäre es, jetzt aktiver Organisator eines solchen Mitte-Links-Bündnises
zu werden – mit der SPD als Tanker, Linkspartei und Grüne als Beiboote.
Seinen Kurs müsste Gabriel dafür nicht aufgeben: Rot-Rot-Grün wäre dem
Wähler schließlich nur vermittelbar, wenn sich die SPD als Gegenwicht zur
Linkspartei um die Mitte bemüht. Gleichzeitig dürfte sie sich linken
Forderungen aber nicht verschließen, sondern müsste Gysis Leuten eine
Regierungsbeteiligung mit klaren Anforderungen anbieten. Zum Beispiel:
Reichensteuer im Gegenzug für eine realistische Außenpolitik.
Die Chancen dafür mögen angesichts der Lernunfähigkeit der
Linkspartei-Fundis für 2017 übersichtlich sein. Für die SPD wäre der Weg
aber allemal besser, als bloß auf das Karriereende von Angela Merkel zu
warten.
13 Dec 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Tobias Schulze
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