Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Europa, Russland und Minsk II: „Was hier geschieht, ist schamlos�…
> Die Juristin Constanze Stelzenmüller sieht die europäische
> Friedensordnung in Gefahr. Ein Gespräch über Putin, Obama und rote
> Linien.
Bild: Passanten laufen neben einer Wand, die Porträts der in der Ostukraine ge…
taz: Frau Stelzenmüller, müssen wir Angst vor einem Krieg haben?
Constanze Stelzenmüller: Es gibt ja bereits einen Krieg in der Ukraine mit
mindestens 5.000 Toten, vielleicht deutlich mehr. Und es gibt einen klaren
Aggressor, Russland, der aber seine Beteiligung nur scheibchenweise zugibt.
Das ist alles an sich schon empörend genug. Die Ukraine grenzt an vier
EU-Staaten: Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien. Natürlich muss den
Menschen dort die Gewalt im Nachbarland Sorgen machen und auch Angst. Es
ist weniger als 25 Jahre her, dass sie zusammen mit der Ukraine unter
russischer Herrschaft waren. Für diese Gefühle sollten gerade wir als
früherer Frontstaat im Kalten Krieg viel Verständnis haben.
Also stimmt es, dass der „dritte Weltkrieg“ schon begonnen hat?
Ich bin da ganz bei der Bundeskanzlerin: Bitte alle die Nerven behalten!
Alle diese historischen Analogien – der dritte Weltkrieg, ein neuer Kalter
Krieg – sind hysterischer Unsinn. Aber dass Russland, eine Großmacht mit
Atomwaffen, glaubt, es kann in einem Nachbarland der EU Krieg führen, ist
schon schlimm genug. Denn wir sollten diesen Konflikt auch nicht
kleinreden. Er ist eine Gefahr für die europäische Friedensordnung.
Was also bedeutet die Einnahme der ostukrainischen Stadt Debalzewe?
Ich gebe nicht gern den Ohrensesselgeneral. Aber sie kann ein wichtiger
militärischer Wendepunkt werden, weil die ukrainischen Streitkräfte damit
einen logistischen Knotenpunkt auf dem Weg nach Westen an die von Russland
gestützten sogenannten Separatisten verlieren.
Ist die ukrainische Armee damit am Ende?
Mindestens ist es symbolisch ein schwerer Schlag: für die Streitkräfte und
die Regierung, aber auch für die Zivilbevölkerung der Ukraine. Die nächsten
Schritte Russlands werden uns zeigen, ob Moskau auf einen Regimewechsel in
der Ukraine abzielt.
Minsk 2 ist damit gescheitert?
Ich fürchte, ja.
Sind damit diese außergewöhnlichen Anstrengungen von Merkel und Hollande,
eine diplomatische Lösung herbeizuführen, auch am Ende?
Eine Demokratie darf nie auf Diplomatie verzichten. Da hat Außenminister
Steinmeier recht, der das besonders energisch verficht. Das unterscheidet
uns von einer Diktatur.
Dann lassen Sie mich anders fragen: Muss man irgendwo eine rote Linie
ziehen und sagen, so weit und nicht weiter?
Für die Regierung gibt es eine klare rote Linie: wenn es um einen Angriff
auf ein Nato-Mitglied geht. Und übrigens gibt es nach dem Lissabonner
Vertrag auch eine Beistandsverpflichtung für EU-Mitglieder.
Die Ukraine ist aber kein Nato-Mitglied. Gibt es nur für Nato- Mitglieder
rote Linien?
Ich frage mich, warum wir bei der humanitären Lage in der Ukraine nicht
genauer hinschauen. Wie belastbar sind die offiziellen Zahlen von rund
5.000 Toten? In einer deutschen Sonntagszeitung wurden „deutsche
Sicherheitskreise“ vor Kurzem mit der Einschätzung zitiert, es seien
zehnmal so viele. Ich vermute, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.
Werden die Verletzten genügend versorgt, wo, und von wem? Wer hilft den
angeblich über eine Million Vertriebenen? Was hier geschieht, ist schamlos.
Inwiefern?
Man kann natürlich der ukrainischen Seite militärische und politische
Fehler vorwerfen. Die Privatbataillone der Oligarchen sollten dem Kommando
von Kiew unterstellt werden, dann hätte es auch ein Ende mit
problematischen Abzeichen. Alles konzediert. Trotzdem: Wir haben es hier
mit nackter russischer Aggression zu tun. Putin verlässt sich
offensichtlich darauf, dass wir das ertragen, weil die Ukraine nicht in der
Nato und Russland eine Atommacht ist.
Gelingt ihm das?
Ich frage mich, ob wir seit der Bosnienkrise Mitte der 90er Jahre nicht so
etwas wie normative Abrüstung betrieben haben. Wenn wir das menschliche
Leid vor unserer Türschwelle nicht zur Kenntnis nehmen – oder uns weigern,
darin eine Normverletzung zu sehen –, müssen wir auch nicht reagieren und
uns nicht schuldig fühlen, weil wir das zulassen. Das entlastet.
War es ein Fehler von Merkel und anderen, militärische Unterstützung so
grundsätzlich auszuschließen?
Es wäre klug gewesen zu sagen: Wir schließen nichts aus. Alle Optionen
bleiben auf dem Tisch. Schließlich haben wir, aus humanitären Gründen,
schon zweimal in Nicht-Nato-Staaten interveniert: in Bosnien, im Kosovo.
Die völkerrechtliche Begründung war damals etwas konstruiert, aber sie hat
viele Leben gerettet.
Präsident Obama hat bisher ein Gutteil der Initiative Europa und Frau
Merkel überlassen. Wird sich seine Zurückhaltung jetzt ändern?
Hinter den ruppigen Äußerungen einiger US-Senatoren auf der
Sicherheitskonferenz in München steht auch innenpolitischer Druck, das darf
man nicht vergessen. Im Frühjahr fängt der Wahlkampf für die
Präsidentschaftswahl 2016 an. Senator McCain aus Arizona, einer der
schärfsten Kritiker in München, hat zu Hause starke Gegner in der Tea
Party.
Konkret: Wie schätzen Sie Obamas nächste Schritte ein?
Obama hat den Amerikanern versprochen, dass sich Amerika nicht mehr in
endlose, nicht zu gewinnende Kriege verstrickt. Denn damit haben die USA im
Irak, in Afghanistan und anderswo sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Der
Druck zu Hause wird zwar steigen, aber ich vermute, dass man erst über
weitere Sanktionen nachdenken wird. Ich wünsche mir, dass Amerika und
Europa außerdem mehr tun, um der Ukraine auf dem Weg nach Europa zu helfen.
Aber ich kann mir auch vorstellen, dass es zu amerikanischen
Waffenlieferungen kommt.
Würden Sie sagen, dass die USA sich zu sehr aus Europa zurückgezogen haben?
Die USA haben sich nicht zurückgezogen, und sie haben auch nicht das
Interesse an uns verloren, im Gegenteil. Aber sie sind mit Problemen
anderswo beschäftigt, und sie müssen mehr als früher Prioritäten setzen.
Das heißt, dass wir Europäer mehr tun müssen für den Schutz der
europäischen Friedensordnung. Ich finde das nur richtig.
Sie waren auf der Sicherheitskonferenz und jetzt bei den Diskussionen über
das neue Weißbuch der Bundeswehr in Berlin zugegen. Wie bewerten Sie die
Diskussion über die Sicherheitspolitik in Europa?
Die Stimmung in München war so düster wie seit vielen Jahren nicht mehr,
Wladimir Putin hat viel strategische Klarheit produziert – wie die Umfragen
der letzten Monate zeigen. Das ist wichtig, weil es heute undenkbar ist,
dass Eliten die Sicherheitspolitik wie früher im rauchigen Herrenzimmer
unter sich diskutieren. Als mündige Bürgergesellschaft haben wir ein Recht,
mitzureden. Insofern finde ich es gut, dass der Weißbuchprozess mit einer
öffentlichen Konferenz angefangen hat.
Was heißt das?
Wir sehen gerade, wie wichtig Abschreckung und Landes- beziehungsweise
Bündnisverteidigung ist. Aber wir lernen auch, wie wichtig es für Europa
ist, von einer stabilen und prosperierenden Nachbarschaft umgeben zu sein.
Wir treiben mit diesen Ländern Handel; und von dort werden angesichts
unserer niedrigen Geburtenrate auch die Arbeitskräfte der nächsten
Jahrzehnte kommen. Russland wiederum scheint mir nicht so sehr zu stark für
uns, sondern zu schwach für sich selber zu sein; die Aggression nach außen
soll die innere Schwäche überdecken. Das kann für uns alle noch sehr
gefährlich werden. So ein Weißbuchprozess kann helfen, diese neuen
Entwicklungen einzuordnen und Folgerungen daraus zu ziehen. Vor allem
müssen wir uns fragen: Wie sorgen wir für die Sicherheit unseres Kontinents
ohne die Rückversicherung einer garantierten amerikanischen Präsenz?
Wer ist in dem Zusammenhang „wir“? Ist das Europa, ist es Deutschland, ist
es ein Teil Europas?
Natürlich müssen wir mit dem Denken auf der nationalen Ebene anfangen, weil
wir da die stärkste Einheit von Autorität und Verantwortung haben. Aber wir
Europäer sind so tief miteinander verflochten und integriert, dass man auch
unsere Sicherheit am Ende nur europäisch denken kann.
Sehen Sie überhaupt eine europäische Grundhaltung?
Mir scheint, die entsteht gerade in der Krise. Die Ausgangspunkte waren ja
sehr unterschiedlich – schon weil die historischen Erfahrungen mit Russland
so unterschiedlich sind. Die Balten und etwa die Franzosen liegen da weit
auseinander. Die meisten neuen EU-Staaten fühlen sich immer noch besonders
verwundbar: wegen ihrer Lage, weil sie bis zu 100 Prozent ihrer Energie aus
Russland importieren. Und auch, weil Moskau gute Beziehungen zu radikalen
Parteien in Europa pflegt. Aber seit dem Euromaidan, der Annexion der Krim,
dem Abschuss von MH17 und nun den Kämpfen in Debalzewe ist ein europäischer
Konsens entstanden, dass es nicht hinnehmbar ist, was mit der Ukraine
geschieht. Je brutaler das Vorgehen der Russen, desto stärker wird dieser
Konsens.
Bedeutet das in letzter Konsequenz, dass wir die Ukraine aufrüsten sollten?
Ich bin in dem Punkt selbst zerrissen. Einerseits hat der Westen, hat
Amerika mit dieser Art von Konflikteinmischung schlechte Erfahrungen
gemacht. Andererseits: Wie können wir zuschauen, wie ein souveräner Staat
filetiert wird, weil seine Menschen sich als Europäer sehen? Ist es nicht
besser, mit den Amerikanern über Defensivwaffen zu diskutieren, als sie
alleine entscheiden zu lassen? Die Folgen treffen jedenfalls uns früher als
sie. Und wenn wir uns doch dagegen entscheiden: Tun wir wirklich alles
andere in unserer Macht, um Russland zu stoppen?
21 Feb 2015
## AUTOREN
Ines Pohl
## TAGS
Barack Obama
Ukraine
Russland
Friedensverhandlungen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Migration
Schwerpunkt Iran
Nato
Sanktionen
Außenpolitik
Deserteur
Maidan
Terrorismus
Wladimir Putin
Separatisten
Ostukraine
Friedensverhandlungen
Wladimir Putin
Ex-Präsident
Propaganda
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nach illegaler Räumung in Berlin: Familien mit Kindern obdachlos
Familien, die aus einem Haus in der Grunewaldstraße geräumt wurden, müssten
nun in Parks schlafen. Daran sei auch der Bezirk schuld, so der Vorwurf.
US-Senator kritisiert Steinmeier: Der „unglaubwürdige“ Außenminister
Ein Diplomat war der republikanische Senator John McCain noch nie. Jetzt
hat er Außenminister Frank-Walter Steinmeier während dessen US-Reise
„beleidigt“.
EU-Kommissionspräsident Juncker: Eine Armee für Europa
Eine gemeinsame europäische Truppe habe vor allem symbolischen Wert,
argumentiert Jean-Claude Juncker. Doch sie könne auch Eindruck auf Russland
machen.
EU droht mit neuen Russland-Sanktionen: Poroschenko will mehr Beobachter
Bei Nichteinhalten des Minsk-Abkommens oder „weiteren russichen
Aggressionen“ plant die EU Sanktionen. Mehr OSZE-Beobachter sollen die
Pufferzone überwachen.
Neue Struktur im Auswärtigen Amt: Deutsch heißt jetzt zivil
Das Auswärtige Amt wird umgestaltet, um besser auf Konflikte zu reagieren.
Eine neue deutsche Außenpolitik sieht Außenminister Steinmeier nicht.
Propagandakrieg in der Ukraine: Einsatz an der virtuellen Front
Mit „Internetsoldaten“ will die Ukraine der russischen Propaganda Paroli
bieten. Eine ihrer Aufgaben: Aufrufe zur Wehrdienstverweigerung im Netz
aufspüren.
Gedenkmarsch für den Maidan: Für die Unabhängigkeit
Tausende Menschen erinnern an die Toten der Maidan-Proteste in Kiew. Bei
einem Anschlag auf die Feier in Charkiw sterben zwei Menschen.
Krieg in der Ukraine: Zwei Tote bei Anschlag in Charkow
Ein Bombenanschlag soll die Ursache für eine Explosion in Charkow sein. Ein
Gedenkmarsch für den Umsturz in der Ukraine vor einem Jahr wurde getroffen.
Krieg in der Ukraine: Gefangenaustausch bei Lugansk
Trotz fortgesetzter Gefechte tauschen Rebellen und ukrainische Armee
Gefangene aus. In Moskau demonstrieren Zehntausende gegen den Maidan.
Ein Jahr nach den Maidan-Protesten: Der Tod der himmlischen Hundert
Mehr als einhundert Menschen wurden Anfang 2014 bei Demonstrationen auf dem
Maidan erschossen. Doch in Kiew fehlt der Wille zur Aufklärung.
Krieg in der Ukraine: Von Waffenruhe keine Spur
Auch wenn die Intensität nachgelassen hat, es gibt weiterhin
Kampfhandlungen in der Ostukraine. USA und Großbritannien beraten über
Sanktionen gegen Russland.
Debatte Waffenstillstand von Minsk: Die Macht hinter der Macht
Am Donnerstag vor einer Woche wurde in Minsk ein Waffenstillstand
vereinbart. Im Donbass wird dennoch gekämpft, nicht alle setzen auf
Frieden.
Ein Jahr Maidan-Proteste: Wenn der Rubel nur noch fällt
Die Sanktionen gegen Russland dauern nun fast ein Jahr an. Es zeigt sich:
Nur ganz bestimmte Maßnahmen wirken.
Ukrainischer Ex-Präsident: Die Milliarden des Wiktor Janukowitsch
Der Expräsident der Ukraine hat die Besitztümer, die er sich angeeignet
hat, gut versteckt. Bisher wurde gerade mal ein Bruchteil sichergestellt.
Medienpropaganda im Ukrainekrieg: Du bist nicht allein
Das Minsker Abkommen sieht vor, schwere Waffen abzuziehen. Wie berichten
TV-Sender in Russland und der Ukraine?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.