# taz.de -- Preisträger Leipziger Buchmesse: Im Schwebezustand des Magischen | |
> Ein schönes Signal: Der Lyriker Jan Wagner gewinnt den Belletristik-Preis | |
> in Leipzig. Philipp Ther siegt bei den Sachbüchern und Mirjam Pressler | |
> bei Übersetzungen. | |
Bild: Für die Übersetzung von „Judas“ von Amos Oz gewinnt Mirjam Pressler… | |
## Belletristik: Jan Wagner für „Regentonnenvariationen“ | |
Es war eine Überraschung, dass der Lyriker Jan Wagner nominiert wurde. Dass | |
er nun mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“ gewonnen hat, ist | |
ein schönes Signal. | |
Die Dichter sind die Schamanen unter den Schriftstellern. Im Gedicht werden | |
die Resonanzen der Worte ausgelotet, ihre Bedeutungen vermessen. Die Lyrik | |
ist eine Orchidee, die umso fremder duftet, je schneller und mehr | |
geschrieben, gedruckt und auf den Markt geworfen wird. | |
So war es schon eine Überraschung, dass Jan Wagner mit einem Lyrikband in | |
die Liste der für den Preis der Leipziger Buchmesse Nominierten aufgenommen | |
wurde. Dass er nun, als einer von fünf in der Kategorie Belletristik, den | |
Preis erhalten hat, ist ein schönes Signal. Es ist ein Zeichen der | |
Wertschätzung für einen Autor, der sich achtsam und mit Genuss unserer | |
Sprache bemächtigt. | |
Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, hat acht Gedichtbände veröffentlicht. | |
Die frühen sind beim Berlin Verlag erschienen, die späteren bei Hanser | |
Berlin. Für sein Werk wurde er bereits 27-mal ausgezeichnet. Die Jury des | |
Leipziger Buchpreises hat also nicht einen Außenseiter erwählt, um auch mal | |
der Lyrik Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jan Wagner wird geschätzt für | |
seine „Lyrik voller Geistesgegenwart“, in der die Lust am Spiel mit der | |
Sprache vor den strengen Formen nicht haltmache, wie es die Jury | |
formulierte. | |
Das erste Gedicht der „Regentonnenvariationen“ widmet sich dem Giersch. | |
Wird wohl eine Pflanze sein, mit „blüten, die so schwebend weiß sind, | |
keusch wie ein tyrannentraum“. | |
Lyrik in Zeiten von Google bedeutet, dass kaum ein Wort, kaum ein Name | |
lange in jenem Schwebezustand des Magischen verbleibt, der sich einstellt, | |
wenn sich der Unwissende einem reinen Signifikanten aus Zeichen und Klang | |
gegenübersieht. Der Giersch, sagt Wikipedia, ist eine Pflanzenart aus der | |
Gattung Ziegenfüßler. „schickt seine kassiber / durchs dunkel unterm rasen, | |
unterm feld“, schreibt Jan Wagner über die untergründige Aktivität des | |
Zipperleinskrauts, aus dem man auch Salat machen kann. | |
Die „Regentonnenvariationen“ erzählen vom Giersch, von Maulbeeren und | |
Silberdisteln. Von Pferden, Eseln und Koalas, von Jaffa, Krynica Morska und | |
Zanigrad, vom toten Großvater, von jungen Trinkern und von Kindern im Baum. | |
Spannend wird es, wenn Pflanzen, Tiere, Menschen auf unerwartete Weise | |
zusammentreffen wie das Weidenkätzchen in der Nase von Tante Mia, als sie | |
noch ein Mädchen war. Auch über die Regentonne selbst wird gesprochen: | |
„eine art ofen / im negativ; qualmte nicht, / schluckte die wolken.“ | |
Jan Wagner ist ein Reisender in der Tradition der Romantiker, ein Wanderer, | |
der die „kleinen“ Dinge vor sich sieht: „da war ein jetzt, und da war ein | |
hier.“ Wagner betrachtet die Welt im Bewusstsein desjenigen, der nicht nur | |
weiß, sondern sich darüber freut, dass diese Welt auch ohne ihn da ist und | |
da sein wird. | |
Die Rhythmen seiner Gedichte sind vielfältig. Mal klassisch getaktet wie | |
griechische Verse, mal improvisierend, aber nie ohne Form. Ruhig und stetig | |
fließen die Sätze. Nachts und im Garten klingen sie am besten. ULRICH | |
GUTMAIR | |
*** | |
## Sachbuch: Philipp Ther „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ | |
Philipp Thers Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ ist eine | |
Mischung aus Reportage und Analyse: über Europa seit 1989 | |
Abgesehen davon, dass keine einzige Autorin in der Kategorie Sachbuch | |
nominiert war, gab es in diesem Jahr wenig bis nichts zu mäkeln an der | |
Liste der nominierten Bücher. | |
Tatsächlich jedes der fünf Bücher hat ein Alleinstellungsmerkmal. Bei | |
Philipp Thers Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ (Suhrkamp) | |
aus dem letzten Herbst, dem der 11. Preis der Leipziger Buchmesse | |
zugesprochen wurde, ist das die explizit gesamteuropäische Perspektive auf | |
die Umbrüche seit 1989. Die Jury unter der Leitung von Hubert Winkels lobte | |
das Buch des Wiener Professors für Osteuropäische Geschichte als ein | |
Geschichtsbuch, das jeder, der die jüngsten Konflikte in Europa verstehen | |
will, lesen sollte. | |
Das Buch ist eine Mischung aus Reportage und Analyse. Ther kommt immer | |
wieder auf den konkreten Alltag der Leute zu sprechen und zeigt so, wovon | |
die abstrakte Rede von Reformen und Umbrüche tatsächlich handelt. Zum | |
Beispiel von sogenannten Eurowaisen, Kindern in Polen, deren Eltern zu | |
Arbeitsmigranten im Westen wurden. Ther, der in Tschechien, Polen und der | |
Ukraine gelebt hat, geht es auch um die Frage der „Selbst-Transformation“ | |
der Leute, die, wie er betont, nicht nur Anpassung, sondern auch Widerstand | |
beinhaltet. | |
Seine leicht geschriebene Analyse ist eine vorläufige Bilanz der | |
neoliberalen Reformen. Nicht die Fundamentalkritik am Neoliberalismus ist | |
Thers Sache, sondern dessen Anwendung und die konkreten sozialen Folgen. | |
Darin erweisen sich die sogenannten Reformländer des Ostens als | |
Experimentierfeld neoliberaler Politik. Ther spannt den Bogen bis in die | |
unmittelbare Gegenwart und kann nachweisen: „Seit der 2010 ausgebrochenen | |
Eurokrise gibt es einen neuen und gewollten Zusammenhang zwischen dem Osten | |
und dem Süden Europas. Die Griechenland, Italien, Spanien und Portugal | |
verordneten Reformen weisen Ähnlichkeiten mit den neoliberalen Einschnitten | |
im postkommunistischen Europa auf.“ | |
Diese gesamteuropäischen Zusammenhänge herauszuarbeiten, ohne in | |
Ideologiekritik zu verharren, ist ein großes Verdienst des Buches. 2011 | |
erschien von Philipp Ther „Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische | |
Säuberungen im modernen Europa“. Ein viel gelobtes Buch, um das sich die | |
lustige Geschichte eines gescheiterten Verhinderungsversuchs seitens der | |
ehemaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach rankt. | |
Ther hatte den Vertriebenenverbände vorgeworfen, auch noch nach 1990 in der | |
Ostpolitik den Kalten Krieg forgeführt zu haben. Steinbach versuchte | |
daraufhin 2008 den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht von seinem | |
Publikationsvorhaben abzubringen. | |
Ein Lehrstück in Sachen autoritärer Charakter. Auch rein habituell, so der | |
Eindruck, dürfte das nicht Thers Sache sein. TANIA MARTINI | |
*** | |
## Übersetzung: Mirjam Pressler für „Judas“ von Amos Oz | |
Mirjam Pressler erhält den Preis der Leipziger Buchmesse für ihre | |
Übersetzung von Amos Oz Roman „Judas“ über die Anfangszeit Israels | |
Der Einstieg: „Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, | |
Anfang 1960.“ So einen schnörkellos-lapidaren ersten Satz muss man sich | |
erst einmal trauen. Amos Oz findet von diesem unvermittelten Anfang zu | |
einem fast zeitlos spröden Ton für seine Geschichte aus den frühen Jahren | |
Israels mit dem abgründigen Titel „Judas“. | |
Oz erzählt vom asthmatischen Studenten Schmuel Asch, der aus plötzlicher | |
finanzieller Not zum Vorleser für den bettlägrigen alten Gelehrten Gerschom | |
Wald wird und schon bald beginnt, mit diesem angeregt über Zionismus oder | |
den Konflikt zwischen Juden und Arabern zu sprechen. Und Oz erzählt von | |
Schmuels Liebe zu Atalja Abrabanel, der Betreuerin von Gerschom Wald. | |
Der Roman ist zugleich eine Erinnerung an die Anfangszeit Israels - und | |
eine Reflexion über theologische Fragen: So bricht Schmuel Asch sein | |
Studium ab, als er an seiner Magisterarbeit mit dem Titel „Jesus in den | |
Augen der Juden“ verzweifelt. Die Fragen des jungen Mannes aber bleiben. | |
Dass das karg-elegante Hebräisch von Oz sich auch im Deutschen | |
nachvollziehen lässt, ist das Verdienst von Mirjam Pressler. Als | |
Übersetzerin hat sie unter anderem Zeruya Shalev, Aharon Appelfeld und | |
Lizzie Doron übertragen. Pressler selbst vergleicht ihre Arbeit gern mit | |
der eines Musikers, der eine fremde Komposition interpretiert. Und | |
musikalisch ist ihre Fassung von „Judas“ allemal geraten. | |
Womöglich verdankt sich ihre Sensibilität für die selbstverständliche | |
Klarheit eines Romans wie „Judas“ zudem ihrem eigenen literarischen | |
Schaffen als Autorin von Jugend- und Kinderbüchern, für die sie schon mit | |
zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, 2013 etwa mit der | |
Buber-Rosenzweig-Medaille. | |
Auch in Leipzig bekam sie schon zweimal eine Ehrung - den Deutschen | |
Buchpreis, wie er damals hieß -, 2002 für ihren Jugendroman „Malka Mai“ u… | |
2004 für ihr Lebenswerk. Jetzt erhielt sie für ihre virtuose | |
Vermittlungsarbeit an „Judas“ den Preis der Leipziger Buchmesse in der | |
Kategorie Übersetzung. | |
Die siebenköpfige Jury, bestehend aus Journalisten und Literaturkritikern, | |
gab Pressler damit den Vorzug vor Moshe Kahns zwölfjähriger Mammutarbeit an | |
Stefano DArrigos monumentalem, in einem künstlichen sizilianischen Dialekt | |
verfassten Roman „Horcynus Orca“, Klaus Binders Prosafassung von Lukrez | |
„Die Ordnung der Dinge“, Elisabeth Edls Übertragung von „Gräser der Nac… | |
des Nobelpreisträgers Patrick Modiano und Thomas Steinfelds Neuübersetzung | |
von Selma Lagerlöfs Kinderbuchklassiker „Nils Holgerssons wunderbare Reise | |
durch Schweden“. | |
Gemeinsam mit Amos Oz kam Mirjam Pressler auf die Bühne, um sich zu | |
bedanken, weil er „ein wunderbares Buch“ geschrieben habe. Oz erwiderte: | |
Ein literarisches Werk zu übersetzen sei so, als würde man ein | |
Violinkonzert auf einem Klavier spielen. Und Pressler sei eine große | |
Pianistin. taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals hob in seiner Laudatio den | |
Ton Presslers hervor: „Hier kling nichts nach Übersetzung.“ Nicht zuletzt | |
ist die Auszeichnung eine schöne Fügung für das Gastland Israel. TIM CASPAR | |
BOEHME | |
12 Mar 2015 | |
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