# taz.de -- Auftakt der Leipziger Buchmesse: Unser Gott ist Franz Kafka | |
> Der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu wird mit dem Buchpreis | |
> geehrt und Ministerpräsident Tillich spricht über Antisemitismus und die | |
> DDR. | |
Bild: Versteht sich als Werkzeug einer höheren Macht, die ihm den Schreibstift… | |
LEIPZIG taz | „Ich wurde noch nie so gefeiert in meinem ganzen Leben“, sagt | |
ein sichtlich gerührter Mircea Cărtărescu am Mittwochabend im Gewandhaus in | |
Leipzig. „In meinem kleinen Büro in Bukarest schreibe ich zu meinem eigenen | |
Vergnügen, was für eine Ehre.“ Der 1956 geborene rumänische Schriftsteller | |
wurde zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit dem Buchpreis zur | |
Europäischen Verständigung geehrt. | |
Cărtărescu gilt als postmoderner Erneuerer der rumänischen | |
Gegenwartsliteratur und unbestechlicher poetischer Chronist des Landes, der | |
das Ende der Diktatur Nicolae Ceaușescus sowie den demokratischen Aufbruch | |
Rumäniens in seiner eigenwilligen „Orbitor“-Trilogie erzählerisch festhä… | |
Eingerahmt von Einlagen des Gewandhausorchesters Leipzig unter Robin | |
Ticciati (man gab etwas Wagner, Berlioz und Beethoven) hielten am | |
Mittwochabend beim Ehrenakt für Mircea Cărtărescu Sachsens | |
Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) und der Schriftsteller Uwe | |
Tellkamp („Der Turm“) bemerkenswerte Ansprachen, dies gerade vor dem | |
Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Leipzig und Dresden (Pegida und | |
Legida) sowie in Osteuropa (Ukraine-Krise). | |
Geschickt verband Ministerpräsident Tillich Vergangenes mit Gegenwärtigem, | |
ohne dabei die rechtspopulistischen Bewegungen in Sachsen unmittelbar zu | |
erwähnen. Tillich rühmte die Bedeutung des diesjährigen Messeschwerpunktes, | |
gewidmet dem 50-jährigen Bestehen der deutsch-israelischen Beziehungen. Er | |
fand klare Worte gegen Rassismus und Antisemitismus und für den von den | |
„Deutschen begangenen Völkermord an den Juden“. | |
Aber, und das war das Besondere an Tillichs Rede, er sprach auch von der | |
besonderen Konstellation im Osten bis 1989. „Ich bin als Sachse“, so | |
Tillich, „in jenem Teil Deutschlands aufgewachsen, der jegliche | |
Verantwortung für nationalsozialistisches Unrecht ablehnte. Die DDR hatte | |
einen Schlussstrich unter die Geschichte gezogen und betrachtete die | |
Bundesrepublik als das Land der NS-Täter.“ Ein wichtiger Hinweis Tillichs, | |
um das Wiederaufleben gewisser Ressentiments im Osten besser zu verstehen. | |
„Erst nach der Friedlichen Revolution“, so führte er weiter aus, „war es | |
möglich, dass wir als ostdeutsche Gesellschaft uns zur Schuld gegenüber dem | |
jüdischen Volk bekennen konnten.“ | |
## Tellkamp warnt vor ideologischem Rollback | |
Uwe Tellkamp warnte in seiner Laudatio auf Cărtărescu vor einem | |
ideologischen Rollback. „Die Gespenster der Vergangenheit“ kehrten zurück, | |
sagte Tellkamp und kritisierte, dass der „intellektuelle Mainstream der | |
westlichen Welt“ zu oft übersehe, wie gerade restaurative Kräfte „die | |
Systemfrage“ neu stellten. „Dabei rühren viele der Konflikte“, so Tellka… | |
weiter, „in die wir uns gestellt sehen – Stichworte hier nur Ukraine und | |
Griechenland – von alten Bekannten her: Planwirtschaft mit ihren | |
Auswüchsen, Nationalismus (der sich mit dem Sozialismus glänzend vertrug), | |
Mißachtung demokratischer Prinzipien, Kontroll- und Normierungswahn.“ | |
Gegen östliche Mythenbildung empfahl er, Gesellschaftsromane wie die von | |
Mircea Cărtărescu zu lesen. Cărtărescu beschreibe in seiner | |
Orbitor-Trilogie mit Galgenhumor, „was in einer Gesellschaft, in der alle | |
Menschen gleich, aber einige gleicher sind, unter den schönen Worten, den | |
Verheißungen und Parolen im Alltag übrigbleibt.“ Nämlich ein vom „Genie … | |
Karpaten“ (so ließ sich Diktator Ceaușescu tatsächlich preisen) mit | |
„Hirnzellen aus Platin“ gelenktes rumänisches KP-Armen- und Irrenhaus. | |
Cărtărescus-Romane sind tatsächlich unbedingt lesenswert, auch wenn er es | |
mit seiner einmal angetretenen Flucht in das Künstler-Künstlertum etwas | |
übertreibt. „Unser Gott ist Franz Kafka“, rief er in Leipzig. Er verstehe | |
sich als Werkzeug einer höheren Macht, die ihm den Schreibstift einst in | |
die Hand gedrückt habe. Auch einen Gabriel Garcia Marquez halte er für | |
einen verwandten Europäer im Geiste und pries überhaupt das schöne Europa, | |
zumindest das der Toleranz und Aufklärung. Seine Rede in Leipzig hielt er | |
auf Rumänisch. Nichts gegen Beethoven, aber das war tatsächlich | |
überraschend, die Übersetzung gab es auf Deutsch zum Mitlesen. | |
12 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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