# taz.de -- Amos Oz über Jerusalem 1960: Mit Judas wirst du nie fertig | |
> Amos Oz erzählt von Verrätern und Helden im Jerusalem des Jahres 1960. | |
> Mit einem Hinweis auf Molly Antopols Erzählungen, „Die Unamerikanischen“. | |
Bild: Amos Oz ist einer der bekanntesten israelischen Schriftsteller. | |
Es war einmal in Jerusalem, in einem alten Haus am Ende der | |
Rav-Albas-Gasse. Amos Oz stellt uns als Leser schnell fast auf einen | |
Legendenton ein. Er tut es, indem er beiläufig altertümliche Wendungen | |
einstreut (die Mirjam Pressler, wie den ganzen Roman, unauffällig toll ins | |
Deutsche übertragen hat). „Ihm kam in den Sinn.“ Es „begab sich“. Solc… | |
Sachen. | |
Aber auch der Hauptschauplatz des Romans hat etwas aus der Zeit Entrücktes. | |
Irgend etwas scheint aus der Zeit zu fallen. Die Gegenwart des Roman | |
1959/60, die nähere Vergangenheit (Staatengründung Israels, 1948) und die | |
ferne Vergangenheit (um Christi Geburt) überlagern sich. | |
Das Haus jedenfalls hat eine große Bibliothek, eine Dachmansarde, | |
verschlossene Räume, die wir als Leser erst im letzten Drittel des Buches | |
kennenlernen, und eine zerbrochene Stufe direkt hinter der Tür, auf die uns | |
der Erzähler bald dezent hinweist und die dann vor dem letzten Drittel eine | |
entscheidende Rolle spielen wird. In dem Haus wohnen Gershom Wald, ein | |
alter, bettlägeriger Gelehrter, der sich am Telefon stundenlang mit | |
Freunden von früher streitet, und seine Schwiegertochter Atalja Abrabanel. | |
Und zwei Tote sind in diesem Haus noch sehr lebendig. Micha Wald, Ataljas | |
Mann, der 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg fiel. Und Schealtiel | |
Abrabanel, Ataljas Vater, der 1948 als israelischer Verräter in Ungnade | |
fiel, weil er glaubte, dass ein israelischer Staat das Verhältnis zu den | |
Arabern auf Generationen zerstören würde, und sich gegen den Staatsgründer | |
Ben Gurion stellte. Die reale Politik und den literarischen Ort dieses | |
Hauses – das alles verknüpft Amos Oz nicht nur überaus geschickt, sondern | |
mit einer erzählerischen Lässigkeit, die man vielleicht nur in Spätwerken | |
hinbekommt. | |
## Schmuel und Judas | |
In dieses verwunschene Haus, und damit setzt die Geschichte ein, schickt | |
Amos Oz nun Schmuel Asch, einen 25-jährigen, etwas dicklichen, | |
asthmatischen Mann mit eher tapsigem Selbstbewusstsein, der seinen | |
schwarzen Bart gern mit Babypuder bestäubt und gerade sein Studium | |
geschmissen hat. An einem Aushang entdeckt er eine Kleinanzeige, in der | |
jemand gesucht wird, der in dem Haus dem alten Gelehrten Essen bringt und | |
sich jeden Abend ein paar Stunden mit ihm unterhält. Das macht dann | |
Schmuel. | |
Damit zieht ein weiterer Geist ans Ende der Gasse ein: Judas. Denn Schmuel | |
hat über das Verhältnis der Juden zu Jesus und, eben, zu Judas geforscht. | |
Damit integriert Amos Oz, der ein sehr weltlicher Erzähler ist, | |
theologische Spekulationen in diesen vom Schauplatz her engen, vom | |
gedanklichen Gehalt aber weiten Roman. Schmuel hatte eine These in seiner | |
Abschlussarbeit, mit der er nie fertig wurde. Sie lautete, dass, während | |
Jesus immer Jude geblieben ist, Judas eigentlich der erste Christ war: | |
derjenige, der Jesus drängte, eine neue Religion zu gründen, und der | |
deshalb auch die Kreuzigung inszeniert hat (mit den Römern als | |
desinteressierten Vollstreckern), auf dass sich Jesus vor aller Welt als | |
Gottes Sohn zeigen sollte. | |
Während Micha Wald zum Helden werden musste – die Erbärmlichkeit des | |
Sterbens dahinter beschreibt Amos Oz ausführlich –, musste Judas damit wie | |
Schealtiel Abrabanel zum Verräter werden, mit einem Kuss und für dreißig | |
Silberlinge. | |
## Oz hofft noch auf Frieden in Nahost | |
Amos Oz, inzwischen 75 Jahre alt, seit langem Nobelpreiskandidat und seit | |
seinem Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ sehr zu Recht ein | |
literarischer Weltstar, ist in diesen Tagen in Deutschland. Bei der | |
Leipziger Buchmesse ist er ein Stargast. Selbstverständlich ist er gleich | |
über seine Meinung zum Nahostkonflikt befragt worden. Und Oz, Mitbegründer | |
der israelischen Friedensbewegung Frieden Jetzt, sagte, er habe die | |
Hoffnung noch nicht aufgegeben: „Europa legte bis zur heutigen Koexistenz | |
2.000 Jahre voller Massaker und Kriege zurück. Im Nahen Osten dauert der | |
Prozess zu lange. Aber wir, Juden und Araber, werden schneller sein als die | |
Europäer.“ | |
Es wäre viel zu eng gedacht, würde man seinen Roman „Judas“ direkt auf die | |
aktuelle politische Lage beziehen. Immerhin imprägniert einen dieses Buch | |
aber gegen allzu eindeutige Heldengeschichten wie gegen unhinterfragt | |
übernommene Verrätergeschichten. Darüber hinaus hat dieser in manchem | |
erfrischend altmodische Roman nun aber auch noch die Kraft, zu zeigen, was | |
Literatur vermag (und weshalb wir schließlich im Ernst lesen): einen | |
gedanklichen Raum zu schaffen, in dem deutlich wird, was für große, | |
teilweise uralte, schwere und teilweise aneinander widersprechende | |
Geschichten auf uns lasten. | |
Die Geschichten, die auf dem Nahen Osten lasten, sind dabei besonders | |
schwer. Missverständnisse, uralte Ängste, theologische Gründungsmythen, | |
Folgen britischer Kolonialpolitik mit ihrer Maxime „Teile und herrsche“ – | |
man bekommt in diesem Buch ein Bild davon, wie das alles bis in dieses alte | |
Haus am Ende einer Gasse hineinspielt. | |
## Geschichten, die Identität ausmachen | |
Dabei ist „Judas“ keineswegs nur ein Ideenroman. Amos Oz erzählt immer auch | |
sehr handfest. Wie es ist, nachts durch dieses Jerusalem zu laufen, das | |
damals noch eine unmittelbare Grenzstadt war. Wie sich leere Nächte | |
anfühlen. Außerdem findet sich eine ganze Bandbreite an Leitmotiven, von | |
Broten mit Marmelade und Käse bis hin zu subtil gesetzten Spiegelmotiven um | |
streunende Hunde und Katzen. Dies ist auch ein Kammerspiel um drei | |
Menschen, die trauern, um verlorene Möglichkeiten und um ganz reale | |
Menschen. Gershom Wald um seinen Freund Schealtiel Abrabanel und um seinen | |
Sohn. Atalja um ihren Mann. Und Schmuel wurde von einer Frau verlassen. | |
Natürlich verliebt er sich in dem Haus in die zwanzig Jahre ältere Atalja. | |
Es lohnt sich übrigens, parallel zu diesem Roman die beinahe klassischen | |
Erzählungen, „Die Unamerikanischen“, der 35-jährigen amerikanischen | |
Erzählerin Molly Antopol zu lesen. Auch Molly Antopol erzählt von den | |
großen schweren Geschichten (mit jüdischem Hintergrund), in die noch die | |
Heutigen eingespannt sind. Ein älterer New Yorker, der eine Immigrantin aus | |
der Ukraine kennenlernt, sie heiratet und auf der Hochzeitsreise nach Kiew | |
feststellt, wie in ihrer Vorgeschichte verhaftet und ihm fremd sie ist. | |
Eine Großmutter, die vom jüdischen Partisanenkampf im Zweiten Weltkrieg | |
erzählt, wissend, ein wie unsicheres Weltverhältnis sie damit für ihre | |
Enkelin schafft. | |
Vielleicht (Amos Oz verleitet einen etwas zu Pathos) ist es das, was | |
wirklich zählt beim Lesen: das dichte Netz an Geschichten – politischen wie | |
historischen, Liebesgeschichten, Familiengeschichten, Verratsgeschichten –, | |
das das umgibt, was wir Identität nennen. Beim Lesen können wir es uns | |
konkret erfahrbar machen. Und es, wie in diesen beiden Büchern, etwas | |
lüften. | |
12 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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