| # taz.de -- Debatte Nationalismus in Israel: Wem gehört der Staat Israel? | |
| > Netanjahu will Israel zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklären. Das | |
| > diskriminiert die Palästinenser. Und er verliert die jüdische Diaspora. | |
| Bild: Was für ein Staat soll Israel sein? | |
| Die gegenwärtige Regierungskrise des Staates Israel ist weit mehr als | |
| Ausdruck eines unpraktikablen parlamentarischen Systems, das kleinsten | |
| Parteien den Einzug in das Parlament, die Knesset, erlaubt und durch | |
| Zersplitterung stabile Regierungsmehrheiten verhindert. | |
| Vielmehr ist anzunehmen, dass sich diese Krise zur größten Krise des | |
| jüdischen Volkes seit der Katastrophe des von Deutschen begangenen | |
| nationalsozialistischen Massenmordes entwickeln wird. Des jüdischen Volkes? | |
| Was sind überhaupt Juden, was das Judentum? Dazu werden heute vier | |
| Vorschläge diskutiert. | |
| Erstens das Judentum als Religion, als Konfession, als | |
| Glaubensgemeinschaft. Diese Definition leidet daran, dass keineswegs der | |
| größte Teil der weltweit etwa zwölf Millionen Juden intensiv gläubig ist, | |
| Thora lernt, regelmäßig Gottesdienste besucht und sich strikt an Festtage | |
| und häusliche Rituale hält. | |
| Zweitens das Judentum als ethnische Nation im Sinne des Volksbegriffs des | |
| späten achtzehnten Jahrhunderts, als Sprach- und Herkunftsgemeinschaft. | |
| ## Der Staat des jüdischen Volkes | |
| Drittens als eine „Kultur“, die – wie erst kürzlich die israelischen | |
| Autoren Amos Oz und Fania Oz-Salzberger in ihrem Buch „Juden und Worte“ | |
| nachweisen wollten – eine einzigartige, Jahrtausende alte Buch-und | |
| Schrifttradition aufweist. | |
| Viertens wird das Judentum als „Schicksalsgemeinschaft“ verstanden: als | |
| eine Großgruppe von Menschen, die ohne scharfe Trennlinien durch teils | |
| geteilte Traditionen, Anfeindungen der Umwelt sowie ein vages | |
| Gemeinschaftsbewusstsein zusammengehalten wird. | |
| Die künftige Krise, die von Benjamin Netanjahu und seinen | |
| Koalitionspartnern ausgelöst wurde, resultiert aus Diskussionen um ein | |
| derzeit noch nicht verabschiedetes Gesetz, wonach der Staat Israel zum | |
| „Staat des jüdischen Volkes“ erklärt werden soll. | |
| Ziel dieses Gesetzes ist es unter anderem, Israels arabischen Nachbarn, vor | |
| allem den Palästinensern, zu verdeutlichen, dass eine friedensstiftende | |
| Anerkennung Israels nur dann vorliegt, wenn der Staat als „jüdischer Staat“ | |
| und nicht als ein in noch zu verhandelnden Grenzen existierender Staat | |
| anerkannt wird. | |
| ## Bürger zweiter Klasse | |
| Radikalere Varianten des Gesetzesentwurfs, von Netanjahus noch weiter | |
| rechts stehenden Koalitionspartnern eingebracht, zielen zudem darauf, | |
| Arabisch als bisher zweite Amtssprache aufzuheben und so die nichtjüdischen | |
| Bürger zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren. | |
| Die jetzt von Netanjahu entlassenen ehemaligen Finanzminister Jair Lapid | |
| und Justizministerin Zipi Livni finden, dass dieses Gesetz im besten Fall | |
| zum Ausdruck bringen kann, was ohnehin schon in der als Verfassung | |
| geltenden israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 steht. | |
| Dort heißt es: Der Staat Israel „wird auf den Grundlagen der Freiheit, | |
| Gleichheit und des Friedens, im Lichte der Weissagungen der Propheten | |
| Israels gegründet sein; er wird volle soziale und politische | |
| Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse | |
| und des Geschlechts gewähren; er wird die Freiheit des Glaubens, des | |
| Gewissens, der Sprache, der Erziehung und Kultur garantieren; er wird die | |
| Heiligen Stätten aller Religionen sicherstellen und den Grundsätzen der | |
| Verfassung der Vereinten Nationen treu sein.“ | |
| Tatsächlich: Der Staat Israel verstand sich dem Geist dieser | |
| Unabhängigkeitserklärung nach als jüdischer und demokratischer Staat; | |
| jüdisch vor allem deshalb, weil das 1950 verabschiedete Rückkehrgesetz | |
| jeden Juden auf der Welt berechtigt, dorthin einzuwandern; im Unterschied | |
| zu den im Kriege von 1948 von israelischen Milizen und Armeen vertriebenen | |
| etwa 700.000 Palästinensern, denen ein Rückkehrrecht versagt wird. | |
| ## In ihrem einen und einzigen Staat | |
| Ein erster Gesetzesentwurf wurde bereits im August 2011 von Avi Dichter, | |
| einem Mitglied der „Kadima“-Partei vorgelegt. Im November dieses Jahres | |
| publizierte Netanjahus Büro dann die von ihm bevorzugte Version des | |
| Gesetzes: „[1][The State of Israel] ist the national State of The Jewish | |
| People. It has equal individual rights for every citizen and we insist on | |
| this. But only the Jewish People have national rights: A flag, an anthem, | |
| the right of every Jew to immigrate to the country and other national | |
| symbols. These are granted only to our people in its one and only state.“ | |
| Tatsächlich gab und gibt es eine israelische Staatsangehörigkeit, aber | |
| keine israelische Nationalität und damit auch keinen israelischen Souverän, | |
| kein israelisches Staatsvolk. So wies das höchste israelische Gericht im | |
| August des Jahres 2013 einen Antrag von einundzwanzig israelischen | |
| Staatsbürgern, in ihren Personalpapieren unter der Rubrik „Nationalität“ | |
| anstatt „jüdisch“ „israelisch“ eintragen zu lassen, mit dem Hinweis auf | |
| seine Unzuständigkeit ab. | |
| Seither gilt, dass israelische Staatsangehörige entweder eine „jüdische“, | |
| eine „arabische“ oder „drusische“ Nationalität und damit unterschiedli… | |
| kollektive Rechte haben. | |
| Das geplante neue Gesetz – auch in der relativ weichen Fassung Netanjahus – | |
| wird damit endgültig festschreiben, was der an der Ben-Gurion-Universität | |
| lehrende Geograf Oren Yiftachel schon seit Jahren behauptet: dass nämlich | |
| der Staat Israel keine Demokratie, sondern eine „Ethnokratie“ ist. | |
| ## Je nach Rassismus-Definition | |
| In Ethnokratien verbirgt sich – so Yiftachel – hinter einer demokratischen | |
| Fassade die systematische Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe; weitere | |
| Beispiele neben Israel sind Estland, Lettland, Serbien, Kroatien, Malaysia | |
| und Sri Lanka. Zu denken wäre heute auch an das sogar vom republikanischen | |
| Senator John Cain als „neofaschistisch“ bezeichnete Ungarn. | |
| Sind „Ethnokratien“ somit rassistisch? Gewiss nicht, wenn man unter | |
| „Rassismus“ den exterminatorischen Biologismus der Nationalsozialisten | |
| versteht, wohl aber, wenn man die am 7. März 1966 von den [2][Vereinten | |
| Nationen verabschiedete Resolution] gegen „racial discrimination“ zugrunde | |
| legt. | |
| In dieser Konvention bedeutet der Ausdruck „rassische Diskriminierung“ jede | |
| sich „auf Rasse, Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische | |
| Herkunft gründende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder | |
| Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, die Anerkennung, den Genuss | |
| oder die Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in | |
| gleichberechtigter Weise im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, | |
| kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens zu | |
| vereiteln oder zu beeinträchtigen.“ | |
| ## Die Werte des Judentums | |
| Der Staat Israel hat diese Konvention 1966 unterschrieben und dreizehn | |
| Jahre später, im Januar 1979, in der Knesset ratifiziert. Abgesehen davon, | |
| dass der Staat Israel mit der möglichen Verabschiedung des neuen Gesetzes | |
| seine Unterschrift unter der UN-Konvention zurückziehen müsste, werden aber | |
| auch die Beziehungen des selbsternannten jüdischen Staates zur weltweiten | |
| jüdischen Diaspora massiv belastet. | |
| Schon heute protestieren maßgebliche Teile der israelischen Politik, | |
| einschließlich des Staatspräsidenten Ruben Rivlin, gegen die geplante | |
| Gesetzgebung, schon heute wenden sich wesentliche Verbände des | |
| US-amerikanischen Judentums gegen den Vorschlag. Abzusehen ist daher, dass | |
| jene Juden der Diaspora, die die prophetischen, die universalistischen | |
| Werte des Judentums über nackten Partikularismus und blinden | |
| Selbstbehauptungswillen stellen, sich von Israel und dem Zionismus abwenden | |
| werden. | |
| Die damit aufziehende Krise, die künftige Spaltung des Judentums, zeigt | |
| sich vor allem in den USA. Dabei geht es ausnahmsweise nicht um die | |
| „außenpolitische“ Frage des israelischen Verhältnisses zu den | |
| Palästinensern, sondern um die Beziehungen zwischen Israel und der | |
| Diaspora. | |
| ## Kritik erzeugt ungewohnte Allianzen | |
| So bahnt sich in der Frage des geplanten Gesetzes eine Allianz zwischen den | |
| ansonsten verfeindeten ultraorthodoxen Antizionisten und dem Reformjudentum | |
| an. Die renommierte Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt, eine streitbare | |
| Unterstützerin Israels, [3][warnte vor wenigen Tagen] im Wall Street | |
| Journal davor, dass das geplante Gesetz Israels Feinden ermöglichen werde, | |
| respektabel aufzutreten. | |
| Auch der Vorsitzende der bisher die Regierung Netanjahu bedingungslos | |
| unterstützenden Organisation „Anti Diffamation League“ [4][Abraham Foxman | |
| distanziert sich]. Vor allem aber protestieren rabbinische Vereinigungen | |
| sowie jüdisch-theologische Hochschulen. Schon am 30. November riefen die | |
| Vorsitzenden der Vereinigungen des konservativen Judentums dazu auf, von | |
| einem Gesetz Abstand zu nehmen, das Israels sozialen Zusammenhalt sowie | |
| seine kostbarsten ethischen Werte schwächen werde. | |
| Historisch Interessierte werden an das Römische Reich denken, an den vom | |
| Historiker Flavius Josephus geschilderten „Jüdischen Krieg“, der | |
| schließlich – der selbstmörderischen Politik der Zeloten wegen – in die | |
| Zerstörung des Tempels und das Ende jeder jüdischer Staatlichkeit mündete. | |
| 7 Dec 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://translate.google.de/#en/de/%E2%80%9EThe%20State%20of%20Israel%20ist%… | |
| [2] http://www.hri.org/docs/ICERD66.html | |
| [3] http://online.wsj.com/articles/david-ellenson-and-deborah-lipstadt-you-need… | |
| [4] http://www.adl.org/press-center/press-releases/israel-middle-east/adl-calls… | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Israel | |
| Benjamin Netanjahu | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Judentum | |
| Nationalismus | |
| Bürgerrechte | |
| Jerusalem | |
| zionismus | |
| USA | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Israel | |
| Israel | |
| Israel | |
| Israel | |
| Israel | |
| Israel | |
| Israel | |
| Israel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Amos Oz über Jerusalem 1960: Mit Judas wirst du nie fertig | |
| Amos Oz erzählt von Verrätern und Helden im Jerusalem des Jahres 1960. Mit | |
| einem Hinweis auf Molly Antopols Erzählungen, „Die Unamerikanischen“. | |
| Erinnerungen an einen Buchclub: Freunde des jüdischen Buchs | |
| In der Soncino-Gesellschaft organisierten sich in der Weimarer Republik | |
| bibliophile deutsche Juden. Der Verein wurde von den Nazis liquidiert. | |
| Biografie über Nationalismusforscher: Die Suche nach dem eigenen Zion | |
| Hans Kohn war ein Vordenker der Nationalismusforschung. Romy Langeheine | |
| spürt in ihrem Werk seinen nationalen Vorstellungen nach. | |
| Jüdische Extremisten in Israel: Mit Gewalt und Hetze | |
| Die Polizei nimmt mehrere Mitglieder der zionistischen Gruppe Lehava fest. | |
| Sie steht in der Tradition des radikalen Politikers Meir Kahane. | |
| Rassismus in Israel: Jüdische Terroristen verhaftet | |
| Vier weitere Aktivisten der rechten jüdischen Organisation „Lehava“ wurden | |
| von der israelischen Polizei verhaftet. Ihnen werden Hetze und Aufruf zu | |
| Gewalt vorgeworfen. | |
| Konfrontation mit israelischen Soldaten: Palästinensischer Minister gestorben | |
| Bei einer Auseinandersetzung im Westjordanland wurde Siad Abu Ain verletzt. | |
| Er starb im Krankenhaus. Präsident Mahmud Abbas sprach von einer | |
| „barbarischen Tat“. | |
| Neues Einwanderungsgesetz in Israel: Verfassungsbeschwerde angekündigt | |
| Das israelische Parlament ändert die Regelungen für Flüchtlinge. Die | |
| Internierung wird verkürzt, das Beschäftigungsverbot bleibt. | |
| Israel löst Parlament auf: Neuwahl im März | |
| Die Knesset hat am Montagabend ihrer Auflösung zugestimmt. Die Regierung | |
| von Premier Natanjahu war zuvor am Streit um das Nationalstaatsgesetz | |
| zerbrochen. | |
| Israels Koalition steht vor dem Aus: Netanjahu will Neuwahlen | |
| Premier Benjamin Netanjahu entlässt kritische Minister. Seit Wochen gab es | |
| Streit über den Verteidigungsetat. Im März wird neu gewählt. | |
| Linke distanziert sich von „Israel-Kritik“: Der Existenz Israels verpflicht… | |
| Der Linke-Vorstand hat sich von israelkritischen Positionen innerhalb der | |
| Partei distanziert. Zugleich verwahrte er sich gegen „pauschalisierenden | |
| Antisemitismusvorwurf“. | |
| Anerkennung Palästinas: Frankreich stellt Israel Ultimatum | |
| Falls der Nahost-Konflikt nicht binnen zwei Jahren gelöst ist, will | |
| Frankreich Palästina als Staat anerkennen. Außenminister Fabius startet | |
| eine neue Friedensinitiative. | |
| Zentralrat der Juden über Antisemitismus: Kein Tabu mehr | |
| Am Sonntag gibt Dieter Graumann sein Amt als Chef des Zentralrats der Juden | |
| ab. Antisemitismus wird in Deutschland wieder offener ausgelebt, sagt er. | |
| Umstrittene Gesetzesreform vertagt: Wie jüdisch soll Israel sein? | |
| Die Regierung wollte den jüdischen Charakter Israels gesetzlich verankern. | |
| Nach herber Kritik wurde die erste Lesung des Gesetzes verschoben. |