# taz.de -- Letzter Rundgang auf der Buchmesse: Suche nach dem Hype | |
> Romane, Gedichte, Mischformen. Was wird das nächste große literarische | |
> Ding? Vermeintliche Hippes wirkt oft besonders altbacken. | |
Bild: Die Leipziger Buchmesse lockt auch verkleidete Besucher an, sogenannte Co… | |
Leipziger Buchmesse das ist, wenn du plötzlich neben Amos Oz im Fahrstuhl | |
stehst oder neben Peer Steinbrück, wie er sich an einem Verlagsstand die | |
neuen Bücher zeigen lässt. Ein Journalistenkollege entwickelte nach dem | |
zweiten Glas Wein die Idee, den ehemaligen Finanzminister als Impresario | |
einer Literatursendung vorzuschlagen, als Nachfolger der unvergesslichen | |
Elke Heidenreich im ZDF. Wie sagte sie so gern: „Lesen Sie dieses Buch! Es | |
wird ihr Leben ändern!“ Peer Steinbrück könnte das genauso glaubwürdig | |
rüberbringen. | |
Solche Promibegegnungen gehören zu so einer Messe wie der Senf auf eine | |
Thüringer Bratwurst. Leser, Bücher, Autoren, Cosplayer, VIPs zum Anfassen. | |
Und so kann es auch geschehen, dass man neben Hans Ulrich Obrist zu sitzen | |
kommt. Obrist ist einer der größten internationalen Kuratorenstars, | |
weltweit in Sachen Kunstvernetzung unterwegs. Und er ist ein Büchermensch. | |
Er wohnt in London, hat in Berlin-Mitte aber noch eine Wohnung, die nur | |
Bücher enthält: 20.000 Stück. Beim traditionellen Essen des Beck-Verlags | |
war er am Buchmessendonnerstag dabei. Sein neues Buch „Kuratieren!“ ist | |
soeben bei diesem altehrwürdigen Verlag erschienen. | |
Worüber unterhält man sich mit so einem Menschen? Yoko Ono, Gerhard | |
Richter, Medienkunst in Beirut? Nein, er wollte unbedingt über die | |
Lyrikszene in Deutschland sprechen. Namen wollte er wissen, Themen, | |
Techniken; gleich schrieb er alles in Stichworten auf die ausgelegten | |
Menükarten. | |
Der Preis der Leipziger Buchmesse für den Lyriker Jan Wagner passt in ein | |
weltweites Cluster, wie er sagt. Von Mitarbeitern lässt er gerade das | |
Internet danach abscannen, was junge Künstler und Intellektuelle von Mitte | |
zwanzig beschäftigt. Auf zwei Cluster ist er gekommen. Auf | |
Transgender-Themen und auf Lyrik, genauer: die Verknüpfung von Lyrik und | |
moderner Kunst. | |
## Wiedererkennbarkeit ist entscheidend | |
Egal ob Politkunstkreise im Libanon, Kunststudenten in London oder | |
Performancekunst in Korea – Lyrik würde die jungen Intellektuellen weltweit | |
umtreiben, sagte er. Mit Jan Wagner sieht er das Thema nun auch auf der | |
deutschen Agenda. Und noch etwas wollte Hans Ulrich Obrist wissen. Beim | |
Kuratieren von Kunst sei es ja so, dass man immer neue Formate entwickeln | |
müsse – Performances, Computerinstallationen, Vitrinen –, weil nur die im | |
kulturellen Gedächtnis bleiben würden. Wie sich das damit denn in der | |
deutschen Literaturszene verhalten würde? | |
Tja, gute Frage. Wenn man mit ihr im Kopf durch die Buchmesse streift, | |
fällt auf, dass es im deutschen Literaturbetrieb zunächst einmal gar nicht | |
um neue Formate geht, sondern um die Einlösung der bestehenden. Das | |
Publikum sucht auf den Lesungen seine Autorengesichter – ob es sich nun um | |
das Gesicht von Martin Suter, Slavoj Zizek oder Sibylle Berg handelt; | |
Wiedererkennbarkeit ist entscheidend. Schlagend die Bemerkung der Kollegin | |
Julia Encke in der FAS, die Jochen Distelmeyer auf der Buchmesse als | |
„wandelndes Autorenfoto“ wahrnahm. | |
Die Literaturkritik wiederum fragt sich immer wieder, welche aktuellen | |
Bücher die Formate des Gesellschaftsromans oder auch des Wenderomans | |
erfüllen könnten. Und wenn man in Leipzig an den Sendestudios der | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehsender vorbeischlenderte, konnte man die | |
These entwickeln, dass gerade die aktuelle Literaturberichterstattung im | |
Fernsehen sehr stark daran arbeitet, alles Neues auf die altbekannten | |
Formate herunterzubrechen. | |
## Trend zum Spaß am Ausprobieren | |
Die Schönheit des aktuellen Romans „Judas“ von Amos Oz besteht zum Beispiel | |
gerade in der neuen Art und Weise, wie er literarisches Kammerspiel, | |
theologische Spekulation und Diskurse über politische Alternativen | |
verknüpft. Als man aber gerade am Studio der 3sat-Sendung „Kulturzeit“ | |
vorbeikam, saß Oz vor den Kameras auf dem Sofa, während in einem | |
Begleitfilm wieder Konfliktbilder mit israelischen Soldaten und | |
palästinensischen Kämpfern zu sehen waren. | |
Seine literarische Einladung, die Gegenwart einmal ganz anders und mit mehr | |
Abstand zu sehen, war gleich zunichtegemacht. Und man dachte: Es gibt | |
sicherlich Ausnahmen, aber das Gros der öffentlich-rechtlichen | |
Literaturberichterstattung ackert sich daran ab, das auch nur mögliche | |
literarische Neue sofort plattzuwalzen, entweder mit Autorenanhimmelei oder | |
mit altbekannten Themenbildern. | |
Aber selbstverständlich stieß man auch auf neue Formate. Wer sich vor den | |
Leseinseln der jungen und Independent-Verlage herumtrieb, konnte | |
feststellen, dass die Hinwendung zur Lyrik keineswegs nur ein neuer Trend | |
unter vielen ist. Vielmehr zeigt sich an ihr, dass sich die Zugangswege ins | |
literarische Feld derzeit prinzipiell verschieben. Neben die | |
bildungsbürgerliche Unterhaltung und die deutschlehrerhafte | |
Gesellschaftsreflexion ist ein eher offener Spaß am Ausprobieren von | |
Sprache und Vortragsformen getreten, vom Spoken Word mit seiner offenen | |
Flanke zum Kabarettistischen bis hin zum dissidenzgetriebenen Aufmischen | |
von Herrschaftssprache. | |
## Essayistische Abschnitte im Roman | |
Auf die Verkaufszahlen mag sich diese Verschiebung noch nicht auswirken. | |
Gut verkaufen sich derzeit eher traditionelle, das gute alte | |
Schmökererlebnis wiederherstellende Romane wie „Konzert ohne Dichter“ von | |
Klaus Modick oder „Risiko“ von Steffen Kopetzky. Aber die neue Generation | |
an Verlagslektoren, die gerade in diesen Wochen das Ruder übernimmt – | |
Florian Kessler und Martin Kordic beim Hanser Verlag, Jan Valk bei Dumont | |
heißen sie zum Beispiel –, ist im Ausprobieren neuer Formate unbedingt | |
angeschaltet. Und solchen Romanen wie „Planet Magnon“ von Leif Randt oder | |
im vergangenen Herbst „Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr“ von Franz | |
Friedrich merkt man auf jeden Fall an, dass ihre Autoren eine eingehende | |
Ausbildung im Sprachartistischen und im Spiel mit literarischen Formen | |
haben. Genau deshalb, weil sie nicht richtig einzuordnen sind, sind sie | |
derzeit die heimlichen Vorbilder für angehende Schriftsteller. | |
Doch der Druck für die eingeübten Romanformate kommt auch aus einer anderen | |
Ecke: Viele smarte Autorinnen und Autoren von Mitte dreißig, die etwas zu | |
erzählen haben, tun das nämlich gar nicht mehr unbedingt im Romanformat: | |
Vielmehr schmuggeln sie essayistische Abschnitte in ihre Bücher hinein oder | |
schreiben gleich erzählende Sachbücher, die damit aber etwas Romanhaftes | |
annehmen. | |
„Der lange Sommer der Theorie“ von Philipp Felsch etwa über das wilde Lesen | |
in den siebziger Jahren rund um den Merve Verlag ist so ein Buch. Im Grunde | |
ein Roman – der Roman der einflussreichen Generation der Nach-68er, die vom | |
Klassenkampf in die französischen Theorien um Foucault und Derrida | |
abwanderten. Aber aufgeschrieben ist es als ideengeschichtliches Sachbuch. | |
Und die Autorin Ulla Lenze hat in ihren aufregend klugen Roman „Die endlose | |
Stadt“ breite Diskurse über Kunst und Geld und Globalisierung integriert. | |
Im vergangenen Jahr firmierten solche tollen Bücher wie „Vielleicht Esther“ | |
von Katja Petrowskaja oder „Flut und Boden“ von Per Leo zwar als Roman, | |
genauso gut hätten sie aber auch als Sachbücher antreten können. | |
In Leipzig konnte man also durchaus neuen literarischen Formaten begegnen – | |
während viele dieser extra hipp und locker und jung sein wollenden | |
Vermittlungsformen von Literatur etwas Altbackenes haben. Was sie als neu | |
propagieren – Beschäftigung mit „Gegenwart“, „Politik“, „Jungsein�… | |
oft ganz schön klischeehaft aus. Und die wirklich neuen Formate prallen an | |
ihnen ab. Aber vielleicht ändert sich das auch gerade. | |
15 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
## TAGS | |
Kunst | |
Literatur | |
Lyrik | |
Martin Suter | |
Georg-Büchner-Preis | |
Schweiß | |
Jochen Distelmeyer | |
Übersetzung | |
Stanislaw Tillich | |
Nominierung | |
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