# taz.de -- Buch über die Ukraine der 20er Jahre: Der Blick eines Liebhabers | |
> Joseph Roths Beobachtungen aus der Ukraine der 1920er Jahre entlarven | |
> eine triste gesellschaftliche Realität. Seine Aufzeichnungen werden neu | |
> aufgelegt. | |
Bild: Momentaufnahme: Eine ukrainische Bauernfamilie zu Beginn des 20. Jahrhund… | |
„Man lernt nicht die Welt kennen, indem man einen Berg besteigt und sie von | |
einem Standpunkt betrachtet, sondern im Gehen, indem man sie durchwandert.“ | |
Joseph Roth, schon Starjournalist, war im Frühjahr 1926 als | |
Paris-Korrespondent abgelöst worden und hatte sich von der Frankfurter | |
Zeitung längere Reportagereisen zur Kompensation ausbedungen. Fünf Monate | |
verbrachte er ab Sommer in der Sowjetunion, und als er diese Zeilen | |
schrieb, fuhr er eigentlich mehr mit Boot und Eisenbahn, nutzte Auto und | |
Droschke, spazierte ein wenig. Aber die Welt, durch die er reiste, wollte | |
er kennen lernen. | |
Für Joseph Roth, 1894 in Brody geboren, als das noch am Rand der | |
Doppelmonarchie Österreich-Ungarns lag, war die Sowjetunion knapp neun | |
Jahre nach der Revolution nicht irgendein Land, sondern ein großes soziales | |
Experiment, eine Frage an die Zukunft. Wie viele Intellektuelle, | |
Journalisten oder Literaten seiner Zeit hatte er ein räumliches Verständnis | |
von der Welt, das in Zentrum und Peripherie schied. In der Peripherie, in | |
der Sowjetunion und den USA, vermutete er noch ausgeprägter und | |
widersprüchlicher ein Ringen um Phänomene, Lebenseinstellungen und | |
Organisation dessen, was man als Moderne verstehen kann. | |
Roths Beobachtungen in der Ukraine und von der langen Reise durch die | |
Sowjetunion, die jetzt von Jan Bürger im C. H. Beck Verlag wieder aufgelegt | |
wurden, gleichen auch denen eines Liebhabers. Sein Blick ist geprägt von | |
Neugier, Erwartung, sinnlicher Lust: „Auf den tiefen, dichten und dicken | |
Strohdächern der niedrigen Hütten lag die Sonne wie in mehreren Schichten, | |
ein Haufen aufgebetteter Sonne. Stand man vor dem Eingang zur Kirche, so | |
sah man rings im flachen Land die vielen geraden und gewundenen Straßen und | |
in der Ferne ein zweites Dorf und dann noch ein drittes.“ | |
Auf dem Land beobachtet Roth ein gleichsam rotwangiges Idyll, darunter die | |
Menschwerdung vormals abhängiger Bauern. Er stellt fest, dass die grellen | |
Töne eines ukrainischen Nationalismus jener Bauern aus ihrer „materiellen | |
Abhängigkeit“ von den polnischen Besitzern resultierte. Zunehmend aber | |
drängen sich ihm Enttäuschungen auf. Apparatschiks und die Gewinnler der | |
noch von Lenin durchgesetzten Wirtschaftsreform geistern durch seine | |
Schilderungen. In der Sowjetunion, schreibt Roth in der vorletzten seiner | |
siebzehn Stücke umfassenden Serie, wandere man eben gerade nicht. Vielmehr | |
blicke man auf „die Welt von einem Turm aus, den die gesammelten und | |
aufgestapelten Schriften von Marx, Lenin und Bucharin bilden …“ | |
## „Glimmende Überreste und sehr viel Feuerwehr“ | |
Damit liegt er nicht weitab von zeitgenössischen Beobachtern. René | |
Fülöp-Miller etwa vermutete 1926 in einem weit verbreiteten Buch, dass das | |
System – „grandios“ in der Konzeption – ob seiner „lebensfremden Utop… | |
einen „Zusammenstoß mit der Wirklichkeit nicht ohne schwere Einbuße | |
überstehen werde“. Er attestierte der Sowjetunion, Technik zu vergöttern, | |
das Kollektiv in den Heiligenstand zu heben und Arbeitern die totale | |
Perfektion von Produktionsautomaten abzuverlangen. Joseph Roth ist dagegen | |
ein ungleich sinnlicherer Beobachter, notiert in seinem Tagebuch: „Wenn ich | |
ein Buch über Russland schreiben würde, so müsste es die erloschene | |
Revolution darstellen, einen Brand, der ausglüht, glimmende Überreste und | |
sehr viel Feuerwehr.“ | |
Aus den glimmenden Überresten weht ihm der Geruch des Banalen, des | |
Kleinbürgers entgegen. Kulturell und intellektuell findet er viel dünne | |
Kost und graue Stickigkeit. Der Aufbruch war geronnen zu spießiger | |
Sexualmoral und zu technokratischer Verschlossenheit gegenüber | |
„bürgerlicher“ Literatur. Ihm behagte die Kargheit nicht. | |
Vielleicht sah Roth auch immer weniger Raum für Menschen wie sich selbst. | |
Für jemanden, der sich abseits der Masse wohler fühlte, der die große Geste | |
schätzte, Eigensinn und Ausschweifung. Und nicht lähmende Zensur. Vor allem | |
diese „geistige Leere“ enttäuscht ihn immer stärker, in ihr sah er sogar | |
die beiden geografischen Eckpunkte der Peripherie sich die Hand geben: Die | |
Sowjetunion, die die USA verachtete, kettete sich in einer Imitation der | |
Erwartungen an Produktion und Fortschritt nur enger an sie. In der | |
staatspolitisch verordneten Naivität in „metaphysischen Fragen“ gleiche man | |
den USA sowieso schon. | |
## Romantiker der Revolution | |
Im offensichtlich furchtbar langweiligen Astrachan überfielen Roth dann | |
noch die Fliegen. Derart, dass er im Widergänger der UdSSR Zuflucht finden | |
musste. „Das Fliegenpapier, das ein Amerikaner erfunden hat und das ich von | |
allen Segnungen der Kultur am tiefsten hasste, erscheint mir in Astrachan | |
als ein Werk edler Humanität.“ | |
Und so bot ihm die Sowjetunion auch kein fruchtbares Gegenbild zum Zentrum, | |
zu Europa: „Wer in den Ländern der westlichen Welt den Blick nach dem Osten | |
erhebt, um den roten Feuerschein einer geistigen Revolution zu betrachten, | |
der muss sich schon die Mühe nehmen, ihn selbst an den Horizont malen. | |
Viele tun es. Sie sind weniger Revolutionäre als Romantiker der | |
Revolution.“ | |
Man kann an die fast 90 Jahre alten Reportagen viele Fragen zur Gegenwart | |
im Putin-Russland stellen. Man kann es aber auch lassen: Joseph Roth zu | |
lesen ist immer ein Ereignis. | |
29 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Lennart Laberenz | |
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Erinnerung | |
Übersetzung | |
Sowjetunion | |
Stanislaw Tillich | |
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