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# taz.de -- Andor Endre Gelléri wiederentdeckt: Was für ein kluges Wesen das …
> Andor Endre Gelléri erzählt mit Empathie und Ironie von Träumen, Ängsten,
> Triumphen und Niederlagen – in einer Budapester Dampfwäscherei.
Bild: In den 1930er Jahren war Budapest erstmals eine Millionenstadt geworden. …
1931, dreizehn Jahre nach dem Ende der Donaumonarchie. Budapest war
erstmals Millionenstadt geworden, und der Kapitalismus hatte sich im Großen
und Ganzen aller Fesseln entledigt, die ihn vor dem Weltkrieg noch
behindert hatten. Versteht sich, dass er auch in Budapest in diesen Jahren
vornehmlich im Krisenmodus lebte. Das tut der Lebensgier und den Träumen
der Protagonisten in diesem Roman keinen Abbruch. Krise, um eine beliebte
Phrase zu wiederholen, ist ja auch Chance.
Andor Endre Gelléri, der Autor dieses Romans, war bei dessen Erscheinen
gerade erst fünfundzwanzig Jahre alt. Im Zeitalter der Schreibschulen und
Agenturen mag das nichts Besonderes mehr sein. Gelléris Schreibschule waren
allerdings die Welt des Kleingewerbes und des permanenten Existenzkampfes.
Der Vater betrieb die „Budapester Geldschrank- und Tresorenfabrik“ im
Stadtteil Òbuda. Was sich nach einem großen Unternehmen anhört, war eher
eine kleine Werkstatt im Kellergeschoss. 1914, Gelléri war acht Jahre alt,
wird sein Vater zum Kriegsdienst eingezogen, und Mutter und Sohn ziehen zu
den Großeltern mütterlicherseits, die in einer Ziegelei die Kantine
betreiben.
Andor Gelléri macht auf Wunsch seines Vaters später eine dreijährige
Ausbildung an einer Industriefachschule, schreibt aber auch schon seine
ersten Erzählungen, die zum Teil in Literaturzeitschriften publiziert
werden. Seine ersten Geschichten werden von prominenten Kollegen wie Sándor
Marai und Desző Kosztolányi hoch gelobt, bekommen vom Letztgenannten aber
auch das irreführende Markenzeichen „märchenhafter Realismus“, weil sich …
ihnen Traum und Wirklichkeit verschmelzen.
Dieser Stempel, so schreibt die Übersetzerin Timea Tankó in ihrem kundigen
Nachwort, „geistert seitdem hartnäckig mit seinem Namen verbunden durch die
ungarische Literaturgeschichte.“
## Vibrierender Kapitalismus
Darüber müssen wir als deutsche Leser zum Glück gar nicht länger
nachdenken. Der Roman „Die Großwäscherei“ hat zwar zuweilen märchenhafte
Züge, aber die sind dem fröhlich vibrierenden Kapitalismus geschuldet, der
Träume und Wahnbilder aller Art begünstigt.
Betrieben wird die Wäscherei von Jenő Taube, Jude aus einstmals kleinen
Verhältnissen, den vor allem drei Grundelemente der menschlichen/männlichen
Existenz umtreiben: das Geld, die Frauen und Gott. Er wird uns erst im
dritten Kapitel des Romans vorgestellt, nachdem wir zuvor die
Dampfwäscherei Phönix bereits im Betrieb gesehen und eine Intrige verfolgt
haben, die die Karriere eines Angestellten beenden und die eines anderen,
Novák, befördern wird.
Dieser Novák ist das Arschloch des Buches, der Fiesling, ein Karrierist mit
CEO-Qualitäten, entschlossen, über Leichen zu gehen. Auf der anderen Seite
haben wir bereits János Tir kennengelernt, den Heizer, der davon träumt,
nach China zu gehen und für Wu Peifu zu kämpfen, denn „der steht auf der
Seite der Arbeiter“. Wu Peifu, nebenher, war ein chinesischer Warlord, der
mit anderen chinesischen Warlords um Land und Macht kämpfte und vor allem
auf der eigenen Seite stand, aber für János Tir ist er die Zukunft.
Nun aber kommt der Chef ins Bild, Jenő Taube, enorm beleibt und Zigarre
rauchend, mit der Eröffnung neuer Filialen beschäftigt. „In dieser Filiale
würde er eine sechseckige Straßenlampe aus bunten Glasscheiben anbringen
lassen, auch die Texte auf den Aushängen sollten umformuliert werden; und
die Werbezettel würden nicht Straßenkinder verteilen, sondern zehn hübsche
Laufmädchen aus dem Phönix, in blauen Matrosenmützen.“
## Ha-ha, was für eine gute Sache
Dann folgt die übliche Erinnerung des erfolgreichen Geschäftsmanns, der aus
kleinen Verhältnissen kam, aus einem kleinen Dorf in Oberungarn in diesem
Fall, von den Bauernjungen verprügelt. Heute hat er hundert Angestellte,
„und die Bauernmädchen, die ihn verspottet und verjagt hatten, als er ihnen
als Jugendlicher hinterhergelaufen war, würden es sich heute wohl anders
überlegen, wenn er sie aufforderte, in sein Auto einzusteigen. Ha-ha, was
für eine gute Sache, was für ein kluges Wesen das Geld doch war, dachte er
und lief beschwingten Schrittes nach Hause.“
Was für ein kluges Wesen das Geld ist und wie es funktioniert, davon
spricht dieser Roman. Er spricht natürlich auch davon, wer davon profitiert
und wer darunter leidet. Im Dreieck Taube – Novák – Tir, in dem sich jedoch
keinesfalls das reichhaltige Personal des Buches erschöpft, darf man
durchaus die Grundstruktur der Geschichte erkennen, die hier erzählt wird.
Um aber kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Dies ist kein
sozialistischer Realismus und nicht einmal ein antikapitalistischer Roman,
und obwohl selten die realen Abläufe und Arbeitsprozesse eines Betriebes so
genau geschildert worden sind wie hier (Gelléri hat bei seinen zahlreichen
Jobs unter anderem auch in einer Dampfwäscherei gearbeitet), ist dies auch
nicht „Literatur der Arbeitswelt“.
Gelléri erzählt multiperspektivisch, und seine Kapitel gehören abwechselnd
und wiederkehrend bestimmten seiner Figuren. Durch diese Erzählweise wird
selbst ein Schwein wie Novák wenn nicht sympathisch, so doch verständlich.
Bei ihm handelt es sich um die modernste Figur in diesem Buch, ein
unermüdlicher Selbstoptimierer und Optimierer des Betriebs, dem er loyal
dient und den er einmal übernehmen wird, wenn der fette Alte abgetreten
ist. Derzeit aber ist er vor allem mit der Rationalisierung der Abläufe und
möglichen Einsparungen beschäftigt, und Taube erkennt in ihm seinen
Ziehsohn und Nachfolger. Wie’s also in den Führungsetagen von Konzernen so
ist, bis auf den heutigen Tag.
## Taubes metaphysische Krise
Da ereignen sich allerdings auch Lebenskrisen, und auch das spart Gelléri
nicht aus. Der am Anfang so fröhliche Taube, der mit dem Geld gut
befreundet ist und reihenweise Frauen vernascht, kommt in Gestalt seiner
Freundin Madame Ilsci, bei der ein Tumor auftritt, mit dem Tod in Berührung
und macht eine metaphysische Krise durch. Metaphysische Krisen lassen sich
nicht so einfach bewältigen wie kapitalistische.
Taube wird von Ängsten geplagt, er verkriecht sich, bleibt plötzlich zu
Hause bei seiner ihn seit jeher treu umsorgenden Ehefrau. Er magert ab und
seine Frau erkennt, dass er sich „in irgendetwas, das man Seele nennt, so
sehr verändert hat“. Jenő Taube mag sich selbst nicht mehr und auch nicht
das Gewerbe, das ihn reich gemacht hat: „Was für einen widerlichen Beruf
ich doch habe, in was für einem Dreck die Menschen leben, die bei mir
arbeiten, dachte er und vergrub verzweifelt sein Gesicht in den Händen.“
Am Ende will er sich gar erhängen, sieht dann aber doch davon ab, denn er
erkennt: „Das Geld trägt die Schuld an allem! Nicht mich sollte man
erhängen, sondern das Geld, das Geld!“ Am Ende steht er „wieder auf dem
Boden, die Gebete waren von ihm abgefallen wie Asche.“
## Der Diktator von China
Inzwischen hat Novák den Betrieb weiter auf Vordermann gebracht und dabei
seinen einzigen Freund vernichtet. Ein Engel in Gestalt eines Kindes ist
vor den Fenstern der Wäscherei erschienen, und Jonás Tir hat seine Stellung
als Heizer gekündigt und bereitet seine Reise nach China vor. „Der
christliche chinesische General Tir Kintschin eroberte Peking in
heldenhaftem Sturm!“ wird später in den ungarischen Zeitungen stehen, so
träumt er. „Zu erwähnen sei, dass Tir Kintschin in Europa Heizer in einer
Dampfwäscherei war und nun der Diktator von China ist.“
Davon also träumt er, aber das Ganze scheitert daran, dass Tir nicht weiß,
wie er die Reise nach China finanzieren soll, denn „beim Geld wusste er
nicht weiter. Woher sollte er welches bekommen? Wo konnte man heutzutage
welches auftreiben?“
Lauter aktuelle Fragen, Träume, Ängste, Triumphe und Niederlagen im Nebel
der Dampfwäscherei. Gelléri erzählt von ihnen mit Empathie, Ironie und
Tempo. Über achtzig Jahre nach seinem Erscheinen ist dieser Roman viel
frischer als ein Großteil der zeitgenössischen Produktion.
Sein Autor ist wenige Tage nach der Befreiung des KZ Mauthausen in einem
österreichischen Krankenhaus an Typhus gestorben.
26 Dec 2015
## AUTOREN
Jochen Schimmang
## TAGS
Roman
Literatur
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Buchmarkt
Kapitalismus
Nationalismus
Ungarn
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