# taz.de -- Debatte Kapitalismus und Wachstum: Ist das schon Kaputtalismus? | |
> Der Kapitalismus ist an seine Grenzen geraten, sagen immer mehr Ökonomen. | |
> Aber würde es uns glücklich machen, wenn er stirbt? | |
Bild: Endet der Kapitalismus in einer permanenten Quasistagnation? | |
Dass der westliche Kapitalismus in einer schweren Krise ist, ist heute ein | |
derartiger Gemeinplatz, dass der Formulierung selbst schon etwas | |
Klischeehaftes anhaftet. 2008 wäre das globale Finanzsystem beinahe | |
zusammengebrochen. Die Rettungsmaßnahmen, die die Staaten in Panik setzten, | |
belasten die Volkswirtschaften noch auf Jahre hinaus. | |
Die eher neokonservativ und wirtschaftsliberal orientierten Ökonomen können | |
zur Deutung dieser Situation nichts beitragen. Mit ihren Modellen ist | |
schlicht nicht erklärbar, warum ein System, das auf deregulierte | |
Marktbeziehungen setzt, überhaupt in die Krise kommen kann – und warum es | |
nicht wieder zur Prosperität findet, wenn der Staat abgebaut und die Märkte | |
entfesselt werden. | |
Die eher keynesianisch und sozialreformerisch orientierten Ökonomen sind | |
deutlich näher an der Realität: Ihre Kritik würde in etwa lauten, dass eine | |
falsche Politik – die Deregulierung der Märkte, die Entfesselung des | |
Finanzsystems und das skandalöse Wachstum der Ungleichheit die Stabilität | |
des Systems erst untergraben haben. Dass also, knapp gesagt, seit 30 Jahren | |
eine falsche Politik gemacht wird – das System aber stabilisiert werden | |
könnte, wenn nur eine richtige Politik gemacht würde. | |
Aber gehen wir mit offenen Augen durch die Welt: Sehen wir etwa nach | |
Spanien, mit seinen Bauruinen, Mahnmäler fehlgeleiteter Innovationen, | |
Kilometer um Kilometer an den Stränden entlang. Werfen wir einen Blick in | |
die Solidarkliniken in Griechenland, in denen sich die Menschen ohne | |
Krankenversicherung drängen; in die amerikanische Provinz, wo die | |
Arbeitslosenzahlen nicht zurück gehen wollen; in die Innenstädte in | |
Nordeuropa, wo scheinbar noch alles stabil ist, wir aber doch schnell | |
spüren: So richtig voran geht es nicht mehr, es ist allenfalls Stagnation | |
bei immer härterer Konkurrenz um den Wohlstand, ohne jede | |
Zukunftszuversicht. Kurzum: Die Maschine funktioniert nicht mehr richtig. | |
Die Frage ist also: Was, wenn die keynesianischen Instrumente heute auch | |
nicht mehr greifen? | |
## Gigantische Kreditexplosion | |
Der amerikanische Ökonom Robert Brenner hat schon vor zwanzig Jahren in | |
seinem Buch „The Economics auf Global Turbulance“ eine solche Entwicklung | |
konstatiert – und eine krisenhafte Zukunft vorausgesagt. Brenner prägte den | |
Begriff der „säkularen Stagnation“, also einer lang andauernden Stagnation. | |
Brenners Analyse hat Charme: Sie erklärt das Ende des Nachkriegsbooms und | |
den langsamen Abstiegs aus endogenen Tendenzen, also logischen inneren | |
Dynamiken des Kapitalismus. Damit liegt der Schluss nahe: Wenn sie auch nur | |
grob stimmen, dann lassen sich die Krisentendenzen nicht einfach durch eine | |
andere Politik aus der Welt schaffen. Der entwickelte Kapitalismus stößt | |
einfach an Grenzen, die hohe Wachstumsraten und Produktivitätszuwächse | |
nicht mehr zulassen. | |
Reduziertes Wachstum ist aus vielerlei Gründen ein Systemproblem. Um das zu | |
verstehen, müssen wir einen Blick auf einen entscheidenden Faktor des | |
Kapitalismus werfen. Was ihn so erfolgreich machte, war der | |
Investitionskredit, also die Verschuldung. Unternehmen nehmen Kredite auf, | |
verschulden sich, um zu investieren, aber diese Investitionen rentieren | |
sich nur, wenn es ausreichend Wachstum gibt. Gibt es das nicht, gibt es | |
Pleitewellen. | |
Wenn wir die vergangenen 20 Jahre einigermaßen nüchtern betrachten, müssen | |
wir feststellen, dass es eine schier gigantische Kreditexplosion gab, aber | |
nur relativ geringes Wirtschaftswachstum. Nun würde die allgemeine | |
ökonomische Lehre möglicherweise kritisch anmerken, dass das Wachstum nicht | |
nachhaltig sei, dass es in falsche Kanäle geleitet würde, dass das Kapital | |
nicht an die richtigen Stellen alloziert würde, aber sie würde nicht daran | |
rütteln, dass mit Kreditausweitung dieser Dimension erhebliches Wachstum | |
generiert würde. | |
Kann man sich also vorstellen, dass der Kapitalismus ein Kaputtalismus ist, | |
also schon das Kainsmal des Niedergangs auf der Stirn trägt? | |
## Große Innovationen sind Geschichte | |
„Das Bild, das ich vom Ende des Kapitalismus habe – ein Ende, von dem ich | |
glaube, dass wir mitten drin stecken, – ist das von einem | |
Gesellschaftssystem im chronischen Verfall“, formulierte schon vor zwei | |
Jahren der deutsche Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck. | |
Eine permanente Quasistagnation mit allenfalls Miniwachstumsraten, | |
explodierender Ungleichheit, Privatisierung von allem, endemische | |
Korruption und Plünderung, da realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer | |
geringer werden, ein daraus folgender moralischer Niedergang, ein schwächer | |
werdender, taumelnder Westen, was Desintegrationsprozesse an der | |
Peripherie, Krisen und Brandherde schürt. | |
Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Robert J. Gordon hat untersucht, | |
ob nicht zumindest für die USA „das Wirtschaftswachstum vorbei ist?“ Die | |
Wachstumsraten gewannen 1750 an Dynamik, erreichten ihre rasanteste Phase | |
in der Mitte des 20. Jahrhunderts und gingen anschließend langsam zurück. | |
Große Innovationen, die sowohl Produktivitätsfortschritte als auch Wachstum | |
generieren, seien Geschichte, schreibt Gordon in einem viel diskutierten | |
Papier. | |
Auch die dritte industrielle Revolution mit Computerisierung und den damit | |
verbundenen Arbeitsersparnissen habe ihre wesentlichen Effekte zwischen | |
1960 und den späten 1990er-Jahren gezeigt, sei aber seit den 2000er Jahren | |
praktisch zum Stillstand gekommen. Entgegen des oberflächlichen Eindrucks | |
hätten sich Innovationen in den vergangen 15 Jahren „auf Entertainment- und | |
Kommunikationsgadgets konzentriert, die kleiner, smarter und | |
leistungsstärker wurden, die aber die Arbeitsproduktivität nicht mehr | |
fundamental veränderten“. | |
## Das Ende der Normalität | |
In seinem jüngsten Buch „The End of Normal“ geht der Ökonom James K. | |
Galbraith noch einen Schritt weiter. Die Prosperitätsphase zwischen 1850 | |
und 1970 habe in der ökonomischen Zunft die unausgesprochene Gewissheit | |
verankert, dass stetiges Wachstum die „Normalität“, Stagnation und Krise | |
dagegen die „Ausnahme“ sei. Galbraiths Verdacht lautet nun: „Was unter den | |
Bedingungen der Vergangenheit funktioniert hat, funktioniert aber | |
möglicherweise heute nicht mehr.“ | |
Folgt man Galbraith, tragen heute Innovationen nicht mehr nur zur | |
Prosperität des Kapitalismus als Gesamtsystem bei. Sie haben ambivalente | |
Auswirkungen. Die neuen digitalen Technologien dienen hauptsächlich dazu, | |
Kosten zu reduzieren und neue Märkte auf Kosten älterer Firmen zu erobern. | |
Das hat vor allem zur Folge, dass Arbeitsplätze vernichtet werden, ohne | |
dass neue entstehen. Damit unterscheidet sich die gegenwärtige | |
Innovationsphase von vorherigen: Früher verschwanden durch „schöpferische | |
Zerstörung“ alte und oft schlechte Jobs (etwa in der Landwirtschaft), dafür | |
aber entstanden massenhaft neue und oft auch bessere (etwa in der | |
Autoindustrie). | |
Klar: Es ist längst nicht ausgemacht, dass der Kapitalismus sterben wird. | |
Die Geschichte ist voller Zusammenbruchstheorien, die nicht eingetroffen | |
sind. Aber zugleich sollten wir nicht allzu zuversichtlich sein, dass er | |
überleben wird. | |
Angesichts dieser Symptome, die allesamt Indizien für einen chronischen | |
Niedergang sind, tun wir gut daran, die Frage zu stellen, wie die | |
Gesellschaft von Morgen gestaltet werden sollte, wenn die Krisenpropheten | |
Recht haben. | |
Womöglich ist ja auch ein langsamer, sukzessiver Übergang vom | |
kapitalistischen Wirtschaftssystem zu einer anderen Wirtschaftsordnung | |
denkbar. Und, ja, vielleicht stecken wir schon in diesem Übergang. Das wäre | |
natürlich die beste Möglichkeit. Indizien dafür gibt es. | |
## Die Miteinander-Ökonomie | |
Man muss nur mit offenen Augen durch die Welt gehen, schon begegnen einem | |
auf Schritt und Tritt Initiativen, NGOs, Firmen und Kooperativen, die alle | |
zusammen so eine Art Netzwerk bilden, einen Nukleus eines Sozialismus neuer | |
Art. Eine Form von Gemeinwirtschaft, von Miteinander-Ökonomie, die völlig | |
dezentral organisiert ist – ein Sozialismus, der nichts mehr mit dem | |
bürokratischen Moloch früherer Staatswirtschaften gemein hat. | |
Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden – ohne sie wäre | |
die Krise praktisch unüberlebbar. „Ich glaube“, schreibt der britische | |
Wirtschaftsautor Paul Mason in seinem Buch „Postcapitalism“, „dass diese | |
Projekte uns eine Rettungsgasse bieten – aber nur, wenn diese Projekte des | |
Micro-Levels gehätschelt werden, wenn wir sie bewerben und wenn sie | |
geschützt werden, indem die Regierungen anders handeln.“ | |
Vielleicht müssen wir nur lernen, die Dinge richtig zu betrachten. Wie bei | |
diesen berühmten Vexierbildern, bei denen man, wenn man sie von der einen | |
Seite betrachtet, etwas völlig Chaotisches, Undefinierbares sieht, und | |
erst, wenn man richtig hinschaut, ein Bild entsteht? | |
Womöglich ist das mit unserer Wirtschaft nicht anders: Wir glauben, wir | |
leben in einer Ökonomie, in der sich alles nur um Kommerz, Profit, | |
materiellen Reichtum und den daraus resultierenden Status dreht. Alle | |
anderen Formen von Wirtschaften erscheinen uns daher als irgendwie | |
außerökonomisch, als Aktivität irgendwelcher Irrer mit komischen Spleens, | |
als Beschäftigungstherapie für Gutmenschen. Seien es Selbsthilfegruppen, | |
Tauschringe, Kooperativen oder altruistische Hilfsprojekte. Aber vielleicht | |
sehen wir unsere Welt damit ja völlig falsch. | |
3 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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