| # taz.de -- 35 Jahre Waldsterben: Hysterie hilft | |
| > Professoren warnten uns, dass der Wald bald sterben werde. Heute gibt es | |
| > ihn immer noch. Alles Panikmache – oder die Geschichte einer Rettung? | |
| Bild: Protest gegen das Waldsterben im Erzgebirge, 1997. | |
| So muss ein deutscher Wald aussehen: Schlanke Buchen ragen dreißig Meter in | |
| den Himmel und schaffen das Gefühl, im Halbdunkel einer Kathedrale zu | |
| stehen. Auf dem Boden vermodern Blätter, auf ihrem Teppich liegen gefallene | |
| Baumriesen. Dazwischen strecken sich Buchensprösslinge zum Licht. Im Winter | |
| rutschen hier die Autos vom verschneiten Forstweg. Im Sommer plagen Mücken. | |
| Irgendwo in der Stille ruft einsam ein Vogel. | |
| Auf den zweiten Blick ist die Natur nicht mehr ganz so unberührt. Zwischen | |
| den Bäumen stehen Plastikwannen, in denen sich Niederschlag, Laub und | |
| Zweige sammeln. Um die glatten Buchenstämme schlängelt sich eine | |
| Regenrinne, die das Wasser auffängt. In einer kleinen Schutzhütte wird den | |
| Baumwurzeln mit Glasflaschen die Flüssigkeit abgezapft. Die zehn Hektar | |
| Buchenmischwald sind von einem Maschendrahtzaum mit Zahlenschloss | |
| geschützt. Denn Wildschweine auf Futtersuche haben keinen Respekt vor der | |
| Wiege der deutschen Umweltbewegung. | |
| Die liegt – natürlich – mitten im Wald. Auf 527 Meter Höhe an der Großen | |
| Blöße, dem höchsten Berg im Solling-Mittelgebirge, 50 Kilometer | |
| nordwestlich von Göttingen. Wo die Asphaltstraße hinter dem Dorf Dassel | |
| irgendwann in einen rumpeligen Forstweg übergeht und kilometerlang durch | |
| den Wald führt, liegt dieses Freiluftlabor der Nordwestdeutschen | |
| Forstlichen Versuchsanstalt. Hier, mitten in der scheinbar intakten Natur | |
| eines deutschen Mittelgebirges, begann ein politisches und ökologisches | |
| Erdbeben, das die Bundesrepublik vor 35 Jahren erschütterte und bis heute | |
| nachwirkt. | |
| Zwischen den Buchen und Fichten des Sollings fielen einem Professor für | |
| Bodenkunde der Universität Göttingen, Bernhard Ulrich, seltsame „neuartige | |
| Waldschäden“ auf. Aus diesem Datenschatz zog Ulrich Schlussfolgerungen, die | |
| die Geschichte der Ökobewegung in Deutschland und weltweit prägten: „Die | |
| ersten großen Wälder werden schon in den nächsten fünf Jahren sterben“, | |
| warnte Ulrich ab 1980. „Sie sind nicht mehr zu retten.“ | |
| ## Der Wald stirbt! | |
| Schnell gab es keine Parteien mehr, sondern nur noch Waldschützer: | |
| Konservative Forstbesitzer, marxistisch geprägte Umweltschützer und die | |
| junge Partei Die Grünen, Journalisten, Wissenschaftler und Schulklassen. | |
| Auch die ab 1982 CDU-geführte Bundesregierung unter Helmut Kohl erinnerte | |
| sich daran, dass „konservativ“ eigentlich „bewahrend“ bedeutet. | |
| Die Reaktionen auf das Waldsterben haben die deutsche Umweltpolitik so | |
| nachhaltig geprägt wie keine andere Ökodebatte. Die Wohlstandsgesellschaft | |
| sah die Grenzen des Wachstums, vor denen der „Club of Rome“ zehn Jahre | |
| zuvor abstrakt gewarnt hatte, plötzlich beim Sonntagsspaziergang mit | |
| eigenen Augen vor sich. | |
| Bernhard Ulrich und seine Kollegen wie der Münchner Forstbotaniker Peter | |
| Schütt fanden vor 35 Jahren Beweise, dass die Bäume nicht nur in der | |
| Abgasfahne von Kraftwerken und Chemiebetrieben leiden, sondern dass das | |
| Schwefeldioxid aus der Öl- und Kohleverbrennung als „saurer Regen“ in alle | |
| Winkel des Landes vordringt, die Bäume schädigt und die Waldböden | |
| versauert. | |
| Heute ist der deutsche Wald lebendig. Das Waldsterben aber auch. Das ist | |
| nur eine der Öko-Absurditäten, mit denen wir seit der Hysterie wegen der | |
| kahlen Bäume zu leben gelernt haben. Seitdem stellen wir effizientere | |
| Produkte her und verbrauchen trotzdem mehr Strom; seitdem sind wir | |
| umweltbewusst wie nie und rotten trotzdem immer schneller Tiere und | |
| Pflanzen aus. Seitdem sind wir Weltmeister im Klimaschutz und sammeln | |
| gleichzeitig Bonusmeilen beim Fliegen. Und seitdem wissen wir, wie | |
| notwendig schnelle Antworten auf Umweltprobleme wie Klimawandel oder | |
| Artenschwund sind – handeln aber so, als hätten wir jede Menge Zeit. | |
| Damals herrschte übertriebene Panik. Heute irrationale Ruhe. | |
| Das Waldsterben ist weniger eine abgeschlossene Epoche der bundesdeutschen | |
| Geschichte als vielmehr ein Gründungsmythos. Hier liegen die Wurzeln der | |
| großen Erfolge der Ökorepublik Deutschland: Energiewende, Grüner Punkt, die | |
| Klimaziele der EU, der Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung und der | |
| Exportschlager „Green Tech made in Germany“ – aber hier finden auch heute | |
| noch Klimaskeptiker, Anti-Ökos und Industrielobbys ihre Argumente, um vor | |
| „Ökohysterie“ zu warnen. | |
| Mit dem Spiegel-Titel „Der Wald stirbt“ beginnt 1981 das Rauschen im | |
| Blätterwald. Auch wenn es nie eine wissenschaftlich exakte Definition von | |
| „Baumsterben“ geben wird: Was bis dahin Förstern und Waldbesitzern Sorgen | |
| machte – marode Stämme, braune Nadeln, gelichtete Kronen –, wird plötzlich | |
| als allgemeine Bedrohung wahrgenommen. „Erst stirbt der Wald, dann stirbt | |
| der Mensch“, plakatieren Waldschützer, die sich Robin Wood nennen. Hans | |
| Hartz besingt mit Laubsägenstimme seine Angst um „meinen Freund, den Baum“. | |
| Überall droht am Ende der sozialliberalen Fortschrittsträume die | |
| Apokalypse: Hunderttausende gehen gegen Atomkrieg und Nato-Doppelbeschluss | |
| auf die Straße. Im italienischen Seveso war 1976 die Bevölkerung mit dem | |
| besonders giftigen Dioxin TCDD verseucht worden, 1979 schmolz im | |
| US-Atomkraftwerk Harrisburg der Reaktorkern zu Strahlenmüll. | |
| In den Medien wird der Wald Dauerthema, Zeitschriftentitel warnen vor dem | |
| „sauren Tod“, Fernsehen und Radio liefern stundenlange Sondersendungen, | |
| Bild am Sonntag prahlt: „Wir pflanzen 1 Million neue Bäume!“ 1984 meldet | |
| die erste bundesweite Waldschadensinventur „über 50 Prozent der Waldfläche | |
| sichtbar geschädigt“, der Bund deutscher Forstleute warnt: „Der Wald ist | |
| krank, teilweise todkrank“, der Spiegel schockt mit Titeln wie „Saurer | |
| Regen – Lebensgefahr für Babys“. Die frisch gegründete taz schreibt von | |
| „Waldermordung“ und der „Waldkosmetik“ der Regierung. | |
| Die Franzosen lachen über „Le Waldsterben“, der Rest der Welt über die | |
| „German Angst“. | |
| Durch das Waldsterben wurde der Umweltschutz zur deutschen Volksbewegung, | |
| schreibt der Historiker Joachim Radkau in seinem Standardwerk „Die Ära der | |
| Ökologie“. Anders als der Kampf um die Energiepolitik spaltet die Sorge um | |
| die Bäume die Bevölkerung nicht in links und rechts, sondern führt sie | |
| zusammen. Schließlich geht es beim Wald um eine sehr deutsche | |
| Angelegenheit. | |
| ## Quelle von Baumaterial, Nahrung und Märchen | |
| Über Jahrhunderte bezogen die Deutschen hier ihr Baumaterial, ihre | |
| Ernährung, ihren Schutz und ihre Märchen, die deutsche Romantik ist ohne | |
| die dunkel wogenden Wälder nicht zu verstehen. Was anderen Ländern das Meer | |
| bedeutet, war für die Deutschen immer der Forst. Auch deshalb beschließt | |
| die neue schwarz-gelbe Bundesregierung 1983 die | |
| „Großfeuerungsanlangenverordnung“, die Grenzwerte für den Ausstoß von | |
| Schadstoffen in Kraftwerken festlegt und Schluss macht mit der SPD-Politik, | |
| einfach immer höhere Schornsteine zu bauen. | |
| Es beginnen zwei Jahrzehnte mit erfolgreichem technischem Umweltschutz: | |
| Filter für Schornsteine, Katalysatoren für Autos, Kläranlagen für | |
| Chemiefirmen verringern die Giftspritzen für Luft, Boden und Wasser bis | |
| heute enorm. Die neuen Vorschriften vertreiben einerseits die dreckige | |
| Industrie ins Ausland und treiben andererseits die deutschen Ingenieure zu | |
| Höchstleistungen an. | |
| Gleichzeitig geht es mit dem Waldsterben zum ersten Mal auch um die | |
| Globalisierung der Umweltprobleme. Noch 1972 hatte Schweden verzweifelt und | |
| erfolglos versucht, den „sauren Regen“ aus britischen und deutschen | |
| Kohlekraftwerken, der die schwedischen Wälder und Seen zerstörte, als | |
| Problem zu thematisieren. Was heute jedes Kind weiß, war damals neu: | |
| Umweltprobleme machen vor Grenzen nicht halt; Schadstoffe brauchen kein | |
| Visum. | |
| Nur im Sozialismus gibt es offiziell keine Probleme. „Sterbende Wälder“ und | |
| „saurer Regen, das ist bei uns nicht so“, erklärt noch 1986 SED-Chef Erich | |
| Honecker, als im Erzgebirge schon die Baumleichen stehen. Wer in Westberlin | |
| lebt, kann sich in diesen Jahren wundern, dass im Westen der Stadt | |
| Smogalarm herrscht, während im Osten weiter Braunkohle verheizt wird und | |
| Zweitaktmotoren die Luft verpesten. | |
| Ohnehin ist die Geschichte des Baumsterbens reich an Ironie: Das | |
| Forschungsprojekt von Bernhard Ulrich im Solling diente ursprünglich gar | |
| nicht der Ökoforschung, sondern sollte Möglichkeiten aufzeigen, wie der | |
| Forst effizienter Holz produzieren könnte. | |
| Die Experimentierfläche, auf der die Vergiftung der Atmosphäre nachgewiesen | |
| wurde, abseits der Städte und Industrieschlote, galt eigentlich als | |
| „Reinluftgebiet“. Und ausgerechnet die erste und bislang einzige grüne | |
| Bundeslandwirtschaftsministerin, Renate Künast, erklärt 2003 das | |
| Waldsterben für „überwunden“ – während noch ein Jahrzehnt später Fors… | |
| widersprechen. Dem Ökosystem Wald gehe es keineswegs besser als zu den | |
| Hochzeiten des Waldsterbens. Die Bäume verlieren heute wegen der | |
| Säurealtlasten im Boden genauso viele oder mehr Blätter und Nadeln als | |
| damals. | |
| Im September 2013, dreißig Jahre nach dem Höhepunkt der Waldsterbenpanik, | |
| begrüßt der Pressechef des UN-Klimarats IPCC etwa 50 Journalisten, die es | |
| ins Konferenzzentrum nach Stockholm geschafft haben: „Ich bin sehr erfreut, | |
| Sie zur Pressekonferenz zur Zusammenfassung für Entscheidungsträger zum | |
| Bericht der Arbeitsgruppe I zu begrüßen.“ | |
| So klingt die Warnung vor der Apokalypse im Jahr 2013. Mit tonloser Stimme | |
| berichtet dann der Schweizer Klimawissenschaftler Thomas Stocker der Welt | |
| von den Ergebnissen, die mehr als tausend Autoren über Jahre | |
| zusammengestellt haben: Erwärmung um mindestens 4 Grad Celsius, die | |
| Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, die Ozeane versauern durch | |
| die Aufnahme von Kohlendioxid aus der Luft, feuchte Gebiete werden | |
| feuchter, Dürregebiete noch trockener. In allen realistischen Szenarien | |
| „werden wir die 2-Grad-Grenze überschreiten“, sagt Stocker. Einen | |
| Wissenschaftler gruselt es bei der Lektüre des Berichts: die Aussicht auf | |
| ein Freilandexperiment, das die biologischen und sozialen Grundlagen des | |
| Lebens auf der Erde bedroht. | |
| ## Versauert für Jahrhunderte | |
| An den Weltuntergang haben wir uns seit dem Waldsterben gewöhnt. Und wir | |
| haben damals ein Gegenmittel erfunden: das Vorsorgeprinzip. Wenn die | |
| Alarmsignale deutlich genug sind, besagt es, muss man handeln, auch bevor | |
| hundertprozentige Sicherheit besteht. Die Filteranlagen für die Kraftwerke | |
| und die Katalysatoren wurden verordnet, als der letzte Beweis noch nicht | |
| erbracht war. Statt zu einer „self-fulfilling“ wird der Waldsterben-Alarm | |
| zu einer „self-refuting prophecy“, schreibt Joachim Radkau, also zu einer | |
| Prophezeiung, die sich nicht selbst erfüllt, sondern sich selbst an ihrem | |
| Wahrwerden hindert: „Er gab den Anstoß zu Maßnahmen, die die Waldschäden | |
| verminderten.“ | |
| Die Hysterie hat geholfen. Heute steht in Deutschland auf einem Drittel der | |
| Landesfläche Forst, so dicht wie seit Jahrhunderten nicht. 90 Milliarden | |
| Bäume. Aber weil die Katastrophe im Wald ausgeblieben ist, wüten Anti-Ökos | |
| immer wieder gern gegen die Warner von damals und heute. „Begrabt das | |
| Waldsterben!“, fordern Kritiker, die von einem „Medienmärchen“ sprechen, | |
| die FAZ lässt sich über die „Natur der Hysterie“ aus, und das „angeblic… | |
| Waldsterben“ darf auf keiner Website von Leugnern des Klimawandels fehlen. | |
| Der Journalist und Ökokritiker Burkhard Müller-Ulrich wendet sich in dem | |
| Sammelband „Das Waldsterben – Rückblick auf einen Ausnahmezustand“ gegen | |
| den „apokalyptischen Charakter der Berichterstattung“, der auch heute noch | |
| Krankheitssymptome im Wald finde, „nachdem doch nun unbestreitbar ist, dass | |
| die Waldflächen zunehmen“. | |
| Da sieht jemand den Wald vor lauter Bäumen nicht. Denn dass es wieder mehr | |
| Buchen, Fichten und Tannen gibt, ist nur die halbe Wahrheit. Die andere | |
| Hälfte liegt tiefer, irgendwo zwischen 60 Zentimeter und 3 Meter tief. | |
| Dort, im Waldboden, steckt die Altlast aus den achtziger Jahren, das | |
| Schwefeldioxid, das durch Regen zu Schwefelsäure wurde und dann im Boden | |
| versickert ist. | |
| Der Waldboden ist so versauert, dass es dem Ökosystem Wald „heute | |
| schlechter geht als vor 30 Jahren“, sagt Klaus von Wilpert von der | |
| Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg. Die Bäume | |
| verlieren in den sauren Böden Nährstoffe, ihre Funktion als Wasserfilter | |
| leide. Dazu kommt der Stress durch den Klimawandel. Ein Alarm, den niemand | |
| so richtig hören will. | |
| ## 90 Prozent weniger Schwefel | |
| Die Warnung bestätigt auch Nicole Wellbrock vom Thünen-Institut für | |
| Waldökosysteme des Bundesforschungsinstituts für Ländliche Räume und Wald: | |
| „Dem Wald geht es nicht besser als damals“, sagt sie, das zeige eine | |
| flächendeckende Inventur der Waldböden. Die Luft sei durch den Rückgang der | |
| Schwefelfracht zwar sauberer als damals, auch bei der Belastung mit | |
| Stickstoff gebe es Fortschritte, „aber ohne die Maßnahmen wie das Kalken je | |
| nach Standort wären viele Böden deutlich saurer und problematischer“. | |
| Die einfachste Erklärung dafür, warum der Wald noch steht, geht so: Als | |
| Bernhard Ulrich seine Daten sammelte, regneten im Jahr pro Hektar 100 Kilo | |
| purer Schwefel auf den Wald. Heute sind es 90 Prozent weniger. Aber die | |
| Forscher können trotzdem nicht wissenschaftlich belegen, dass die | |
| hektischen Aktivitäten in den achtziger Jahren den Wald gerettet hätten – | |
| weil flächendeckend gehandelt wurde und es eben keinen Vergleich gibt, wie | |
| Bäume und Böden ohne die Filter auf den Schornsteinen aussähen. | |
| Haben die Wissenschaftler damals übertrieben und Panik geschürt? Ulrich | |
| selbst sagt heute: „Die Lautstärke der Medien hätte nicht so groß sein | |
| müssen.“ Der Mann mit dem charakteristischen weißen Haarschopf findet | |
| eigentlich, mit den Fragen nach dem Waldsterben müsse es jetzt auch mal gut | |
| sein. Aber wenn ein Journalist den Weg zu ihm findet, in das einfache Haus | |
| in Bösinghausen bei Göttingen, dann sind ihm die Erinnerungen wieder | |
| präsent. Ulrich spricht und bewegt sich langsam, er ist fast neunzig Jahre | |
| alt. Der Forscher, der die Republik verändert hat, sitzt jetzt in der | |
| Bibliotheksecke seines Wohnzimmers und blickt in den Obstgarten. Es habe | |
| durchaus „Anklänge von Hysterie gegeben“, erinnert sich Ulrich, aber nicht | |
| bei ihm, dem Wissenschaftler, sondern in den Medien und der Öffentlichkeit. | |
| „Ich bin immer auf dem Boden der Fakten geblieben.“ Er gibt allerdings zu: | |
| Die Entwarnung, dass der Wald doch nicht stirbt, hätte früher und | |
| deutlicher kommen können. | |
| Seine Aussage, der Wald sei nicht mehr zu retten, habe er getroffen in der | |
| Annahme, dass alles so weiterlaufen werde wie zuvor, sagt der | |
| Wissenschaftler. „Das Problem wurde zuerst überhaupt nicht ernst genommen.“ | |
| Die Spaziergänge durch den Wald, der hinter dem Haus beginnt, hat er | |
| aufgegeben, aber er weiß, dass die Bäume heute viel besser aussehen als | |
| damals. Das Bundesverdienstkreuz, den Ehrendoktor und die Umweltpreise hat | |
| er akzeptiert, auch wenn ihn die „Effekthascherei eher gestört hat“. Aber | |
| er habe als Wissenschaftler eine Verpflichtung gespürt, sich zu Wort zu | |
| melden. „Man ist ja auch Bürger.“ | |
| Wie viel Schwarzmalerei ist gerechtfertigt, um vor einer drohenden | |
| Katastrophe zu warnen? In der Klimadebatte, in der sich „Alarmisten“ und | |
| „Klimaskeptiker“ gegenseitig vorwerfen, die Wissenschaft zu verraten, ist | |
| diese Frage so aktuell wie nie zuvor. Darf ein Forscher dick auftragen, | |
| wenn er eine Gefahr sieht? Muss er das sogar? Oder soll er seine Daten für | |
| sich sprechen lassen? | |
| ## Reden gegen den Klimawandel | |
| Abstrakt ist diese Frage kaum zu beantworten. Konkret ist sie, was den | |
| Klimawandel angeht, wohl schon beantwortet. Wenn eine Klimatologin von | |
| ihren Computermodellen immer wieder vorgerechnet bekommt, dass wir einen | |
| weltweiten Verzicht auf fossile Brennstoffe brauchen, kann sie sich nicht | |
| einfach auf den nächsten Forschungsantrag konzentrieren. Wer begriffen hat, | |
| dass wir nur ein paar Jahrzehnte haben, um die globale Energieversorgung, | |
| die Produktion von Gütern, unsere Mobilität und Landwirtschaft | |
| umzukrempeln, für den ist Zurückhaltung keine Option. | |
| Wer sich angesichts des Klimawandels entspannt zurücklehnt, hat oft nicht | |
| alle Daten im Schrank. Wer sich dagegen nur ansatzweise in die Materie | |
| versenkt, dem tritt schnell der Schweiß auf die Stirn. Die halbwegs | |
| realistischen Szenarien gehen davon aus, dass uns selbst im günstigsten | |
| Fall immer mehr Überschwemmungen und Dürren, Missernten und Stürme, | |
| Flüchtlingsströme und Hitzewellen bevorstehen. Schon jetzt schmilzt das | |
| Arktiseis, verschieben sich Klimazonen, kämpfen Tier- und Pflanzenarten | |
| gegen das Aussterben, taut der Permafrostboden und verkürzt sich der | |
| Winter. Das Land des Waldsterbens antwortet mit einer Energiewende. Die | |
| Welt mit Klimakonferenzen. Wenn es gut läuft, kommen weniger Wald- und | |
| Klimakiller aus unseren Schornsteinen. Irgendwann. | |
| Die 150-jährigen Buchen an der Großen Blöße entrollen vorsichtig ihre | |
| neuen, hellgrünen Blätter und strecken sie in die Frühlingssonne. Einmal in | |
| der Woche fährt ein Mitarbeiter der Forschungsanstalt in den Solling, | |
| öffnet das Tor mit dem Zahlenschloss, läuft durchs Unterholz, leert die | |
| Eimer und liest die Instrumente ab. Alles wie seit 1969. Nein, nicht alles. | |
| Denn diese längste Datenreihe zum Zustand des deutschen Waldes zeigt nicht | |
| nur, wie gesund der Wald ist. Sondern auch, wie warm ihm wird: In den | |
| letzten 40 Jahren ist die durchschnittliche Temperatur um etwa 1 Grad | |
| Celsius gestiegen ist. Das liegt genau im Trend. Der Klimawandel ist auch | |
| im Solling angekommen. | |
| 30 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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