# taz.de -- Fußballfans bei den Taksim-Protesten: „Wir haben gewonnen“ | |
> Laut, fröhlich, kampfbereit und politisch – sagenumwoben waren sie schon | |
> immer. In den Tagen des Protests sind die Beşiktaş-Fans endgültig zu | |
> Volkshelden avanciert. | |
Bild: Als am 8. Juni die Çarsi-Leute auf dem Taksimplatz ankommen, wird es lil… | |
ISTANBUL taz | Taylan Kartal ist ein Junge aus gutem Haus. Er ist 29 Jahre | |
alt und hat einen Universitätsabschluss. Auch sein Vater und seine Mutter | |
haben studiert, beide arbeiten, der Großvater war Offizier in der | |
türkischen Armee. Kemalistisch, links, Mittelschicht. Er mag | |
Computerspiele, Techno und englischen Fußball. Die Ereignisse der | |
vergangenen Tagen und Wochen aber haben Taylan Kartal zu einem anderen | |
Menschen gemacht. | |
Seit Beginn des Aufstands in Istanbul und anderen Teilen der Türkei ist er | |
arbeitslos. Er hat seinen Job in einem Maklerbüro geschmissen, weil sein | |
Arbeitgeber im Ruf stand, der Regierungspartei AKP nahezustehen. Er hat | |
sich Zeit genommen, um seine fristlose Kündigung zu begründen. Die | |
Vertragsstrafe von umgerechnet 600 Euro hat Taylan Kartal in Kauf genommen. | |
Jetzt unterstützen ihn Verwandte und Freunde. | |
Kartal ist Fan des Istanbuler Fußballklubs Beşiktaş. Und er gehört der | |
Ultravereinigung Çarşı an. Einer Vereinigung, die viele als Schutzmacht des | |
Protests ansehen, die aber von staatlichen Stellen teilweise als | |
„kriminelle Vereinigung“ betrachtet wird. Unter diesem Vorwurf wurden | |
einige von Taylan Kartals Freunden festgenommen, zwei sitzen inzwischen in | |
Untersuchungshaft. Damit hat es auch zu tun, dass Taylan Kartal für diesen | |
Text weder seinen echten Namen nennen noch sich fotografieren lassen will. | |
„Der Gezi-Park wurde wieder dem Volk übergeben“, meldete der türkische | |
Fernsehsender NTV Anfang voriger Woche. „Derzeit wird es niemandem | |
gestattet, den Park zu betreten.“ Sieben Tage nach der [1][gewaltsamen | |
Räumung] bewacht weiterhin ein großes Polizeiaufgebot den Park. Auch der | |
angrenzende Taksimplatz wirkt wie ein Truppenübungsgelände. Schwer | |
bewaffnete [2][Sondereinsatzkommandos haben Stellung bezogen]. | |
„Die führen sich auf, als seien sie eine Besatzungsmacht“, sagt Kartal. Er | |
hat sich am Taksimplatz und in seinem Viertel Beşiktaş an den | |
Barrikadenkämpfen beteiligt und zehn Tage lang im Gezi-Park gezeltet. Doch | |
auch für ihn ist der Ausnahmezustand vorläufig beendet. | |
## Dunkle Ränder unter den Augen | |
An diesem Donnerstagnachmittag läuft er über den Taksimplatz. | |
Behördengänge. Taylan Kartal ist nicht allzu groß, aber muskulös. Er wirkt | |
wie jemand, der stets die Ruhe bewahren kann, sich aber auch zu verteidigen | |
weiß. Einer, den man in brenzligen Situationen gern an seiner Seite hat. | |
Kartal lacht viel, seine Stimme ist rauchig, und wenn er etwas erklärt, | |
legt er gern kleine Pausen ein, in denen er seinen Zuhörer freundlich | |
anblickt. Dann sieht man die dunklen Ränder um seine Augen noch deutlicher. | |
Er ist erschöpft. | |
„Ich erinnere mich noch sehr genau an die Kämpfe, die Organisierung im | |
Park, die Solidarität, die dort herrschte“, sagt er und legt wieder eine | |
kleine Pause ein. „Aber ich merke, wie ich Tage und Ereignisse | |
durcheinanderbringe. Seit einer Woche denke ich: Ich muss aufschreiben, was | |
passiert ist, solange die Erinnerungen noch frisch sind.“ | |
Rund um den Taksimplatz ist der Kampf um Erinnerungen schon beendet. Gleich | |
nach der [3][Erstürmung des Gezi-Parks am vergangenen Samstag] wurden die | |
Graffitis in der Umgebung, die vom [4][Witz und dem Esprit der Bewegung] | |
zeugten, übertüncht. So, als wollte jemand sagen: Es ist nichts passiert. | |
„Es ist aber passiert“, sagt Kartal. „Und wir haben gewonnen.“ Er sagt … | |
nicht triumphierend, aber bar jeden Zweifels. „Meine Generation hat ihre | |
Lethargie abgelegt. Wir, die wir nie über Politik geredet haben, sprechen | |
plötzlich mit wildfremden Menschen über Politik. Wir hören einander zu, wir | |
können tolerieren, wenn andere Leute andere Meinungen haben. Wir standen | |
zusammen im Gasnebel, deshalb begegnen wir uns mit Respekt. Egal, was aus | |
dieser Bewegung wird: Die Regierung kann nie wieder darauf vertrauen, dass | |
sie tun und lassen kann, was sie will. Künftig wird sie sich bei jedem | |
Vorhaben fragen: Was wird das Volk dazu sagen? Ja, wir haben gewonnen.“ | |
Dieses gesellschaftliche Gespräch, das im Gezi-Park begann, setzt sich seit | |
einigen Tagen in anderen Parks der Stadt, aber auch in Parks in Ankara, | |
Izmir oder Eskisehir fort. Menschen [5][treffen sich Abend für Abend], um | |
sich darüber auszutauschen, wie sie weitermachen. Einige wollen mit einer | |
„Çapulcu-Partei“, einer „Partei der Marodeure“, bei den Kommunalwahlen | |
antreten, andere lehnen es strikt ab, sich parteiförmig zu organisieren. | |
Aber irgendeine Form der Institutionalisierung wollen alle. Als Nächstes | |
will man sich auf ein gemeinsames Manifest verständigen. | |
„Es ist gut, dass die Straßenkämpfe vorbei sind und wir jetzt reden statt | |
zu kämpfen. Das ist ein ziviler Aufstand, er muss zivile Bahnen finden“, | |
meint Kartal. Und doch hadert er mit der [6][„Taksim-Solidarität“], einem | |
nicht ganz transparenten Zusammenschluss verschiedener Gruppen, der die | |
Besetzung des Parkes koordiniert hatte. Kartal wirft der | |
„Taksim-Solidarität“ vor, sie hätte Absprachen mit der Polizei getroffen | |
und im Vertrauen darauf, dass diese den Park nicht angreifen würde, der | |
[7][Schleifung der Barrikaden] rund um den Taksimplatz am Dienstag | |
vergangener Woche zugestimmt. „Natürlich hätten wir die Barrikaden am Ende | |
nicht militärisch halten können. Aber sie waren ein Symbol. Dass sie | |
geschleift wurden, hat die Menschen entmutigt. Deshalb ging ein paar Tage | |
später die Räumung des Parks so leicht über die Bühne.“ | |
## Abbasaga-Park wird zu Gezi | |
Donnerstagabend im Abbasaga-Park im Stadtteil Beşiktaş: Das vierte Treffen | |
in Folge, wieder sind mehr Menschen gekommen als am Vorabend, gut 3.000 | |
dürften es sein, weit mehr, als auf den Steinstufen des Amphitheaters Platz | |
finden. Die Soundanlage ist so laut, dass die Menschen, die in an anderen | |
Ecken des Parks in kleineren Runden zusammensitzen, sich nur mit größter | |
Mühe verständigen können. Erstmals sind Fliegende Händler da, die Getränke | |
und Snacks verkaufen, ein paar linke Zeitungen haben Stände aufgebaut, und | |
einige Leute übernachten bereits hier. Von Tag zu Tag erinnert Abbasaga ein | |
bisschen mehr an den Gezi-Park. | |
Kartal findet das nicht gut. Nicht nur, weil das Kampieren der Polizei eine | |
Begründung geben könnte, den Park zu stürmen. „Die Menschen aus dem Viertel | |
nutzen diesen Park. Sie gehen hier spazieren, ihre Kinder spielen hier. Ich | |
will nicht, dass sie sich belästigt fühlen.“ | |
Taylan Kartal ist ein Junge aus dem Viertel. Das ist für ihn noch wichtiger | |
als alles andere: Beşiktaş-Fan, Çarşı-Mitglied, undogmatischer Linker, | |
undogmatischer Kemalist. „Ich bin hier nicht als Çarşı-Mitglied, sondern | |
als jemand aus dem Viertel“, betont er. | |
Beşiktaş ist ein besonderes Stück Istanbul: Der nordwestlich des | |
Taksimplatzes gelegene Bezirk ist eine säkulare Hochburg. In 36 der 39 | |
Stadtbezirke ist die AKP an der Macht, nur drei werden von der | |
kemalistisch-sozialdemokratischen CHP regiert: Kadiköy, das Stadtzentrum | |
der anatolischen Seite, das nordöstlich des Taksimplatzes gelegene Şişli, | |
dessen Bürgermeister seine Gezi-Park Dixieklos aufstellen ließ und seine | |
[8][Müllmänner zur Unterstützung schickte]. Und eben das am Bosporus | |
gelegene Beşiktaş. | |
Das Zentrum von Beşiktaş ist eine typische Mittelschichtsgegend. Wer hier | |
wohnt, ist nicht so reich wie die Leute in den ebenfalls zum Bezirk | |
gehörenden Vierteln Bebek oder Etiler, aber wohlhabender als die meisten | |
anderen Istanbuler. Viele Beamte leben hier, Selbstständige, Unternehmer, | |
Intellektuelle, Studenten. Touristen verirren sich nur selten nach | |
Beşiktaş, Frauen mit Kopftüchern sieht man in den engen Gassen der Altstadt | |
noch seltener, in den Fischrestaurants herrscht eine familiäre Atmosphäre. | |
Nirgends ist es lauter, wenn in diesen Tagen abends um neun auf Pfannen und | |
Töpfen klopfend protestiert wird. | |
## Beşiktaş wurde gehalten | |
Als in den ersten Tagen des Aufstandes die Straßenkämpfe rund um den | |
Taksimplatz zeitweise nach Beşiktaş überschwappten, war fast das ganze | |
Viertel unterwegs, um das Eindringen der Polizei in die Innenstadt zu | |
verhindern. Tatsächlich gelang es den Sondereinsatzkommandos nicht, aus den | |
heftig umkämpften Hauptzufahrtsstraßen, dem Barbaros-Boulevard am Bosporus | |
und der steil landeinwärts führenden Akaretler-Straße, in die Innenstadt | |
vorzudringen. | |
Anwohner beteiligten sich am Barrikadenbau, behandelten die Kämpfer, riefen | |
von ihren Balkonen die neuesten Nachrichten durch, die sie im kleinen | |
linken Fernsehsender [9][Halk TV] gehört hatten oder sorgten mit Pfannen | |
und Töpfen stundenlang für einen ohrenbetäubenden Lärm. „So ziemlich jeder | |
war dabei, und jeder tat das, was er sich zutraute“, erzählt eine | |
Mittdreißigerin aus der Nachbarschaft. Dass sich in diesen Tagen jeder mehr | |
zutraute, als er selbst je vermutet hätte, lag an den Jungs, die die | |
vorderste Front bildeten: Çarşı, die Ultras von Beşiktaş. | |
Sagenumwoben waren sie schon immer. In den Tagen des Aufstands sind die | |
Beşiktaş-Fans endgültig zu Volkshelden avanciert – jedenfalls unter jenen | |
50 Prozent der Bevölkerung, die nicht [10][hinter der Erdogan-Regierung | |
stehen]. | |
Çarşı-Leute waren dabei, als es darum ging, in den ersten Tagen der | |
Parkbesetzung die Fliegenden Händler zu vertreiben – in der „Republik Gezi… | |
sollte eigentlich kein Geld zählen. Sie schlichteten Streitereien zwischen | |
den miteinander verfeindeten Gruppen und versuchten, für die Sicherheit | |
aller zu sorgen. Nach der ersten Räumung des Gezi-Parks waren sie es, die | |
die Polizeiketten sprengten, den Park zurückeroberten und dafür sorgten, | |
dass sich die Polizei zeitweise völlig aus der Innenstadt zurückzog. | |
Besonders von sich reden machten Çarşı-Leute mit einer Aktion am | |
Dolmabahçepalast, als einige von ihnen einen Bagger kaperten, mit ihm auf | |
die Wasserwerfer zufuhren und diese verdrängten. Ministerpräsident Recep | |
Tayyip hätte es aus seinem Arbeitszimmer verfolgen können, das er sich in | |
einem Seitenflügel der genau zwischen dem Taksimplatz und dem Zentrum von | |
Beşiktaş gelegenen letzten Residenz des osmanischen Sultans hat einrichten | |
lassen. | |
## Verantwortung statt Wunder | |
Im Laufe des Protests begann den Ultras ihr Ruf vorauszueilen. So machte in | |
jenen Tagen Mitte Juni, als es in Istanbul ruhig war, in [11][Ankara aber | |
heftige Straßenschlachten tobten], das Gerücht die Runde, dass Çarşı-Leute | |
zur Hilfe eilen würden. Und unter den Menschen, die am Abend der Räumung | |
des Gezi-Parks [12][im Divan-Hotel eingeschlossen waren], brach Jubel aus, | |
als sich die Nachricht verbreitete, die Ultras seien auf dem Weg, um sie | |
rauszuprügeln. „Einen solchen Ruf zu haben, ehrt uns“, sagt Kartal in wenig | |
peinlich berührt. Aber die Leute sollten von Çarşı keine Wunder erwarten: | |
„Wir versuchen nur, unseren Teil der Verantwortung zu übernehmen.“ | |
Und das kann verschiedene Formen annehmen: Als vor ein paar Tagen der | |
[13][Fernsehsender Halk TV], der im Unterschied zu den großen Sendern die | |
Proteste rund um die Uhr begleitet hatte, wegen Aufwiegelung zur Gewalt zu | |
einer drastischen Geldstrafe wurde, verkündete Çarşı: „Gebt uns eure | |
Kontonummer, wir zahlen das.“ Nein, nein, versichert Taylan Kartal, sie | |
hätten kein Festgeldkonto, von dem sie die Überweisung tätigen könnten. | |
„Aber wenn Halk TV unsere Hilfe brauchen sollte, würden wir das Geld in | |
Beşiktaş sammeln. Und wir würden es zusammenkriegen“, erzählt er beim | |
Spaziergang durchs Viertel. | |
Dabei grüsst Kartal ständig jemanden; man merkt, dass er hier aufgewachsen | |
ist und wie wohl er sich in seinem Viertel fühlt. Sogar mit Polizisten aus | |
dem hiesigen Revier nickt er sich freundlich zu. „Wir haben mit unseren | |
Polizisten kein Problem. Unser Problem sind die Sondereinsatzkommandos.“ | |
Das Viertel, in dem er lebt, ist vielleicht auch der Grund, weshalb er | |
anders als viele andere Demonstranten keine Islamisierung fürchtet. „Das | |
ist mit der türkischen Gesellschaft nicht zu machen“, sagt er. Er sei auf | |
die Barrikaden gegangen, weil das Land unter Erdogan und der AKP auf eine | |
Diktatur zusteuere. | |
Dabei sind die Beşiktaş-Fans nicht nur Frontkämpfer und Aufpasser der | |
Bewegung. Im Gezi-Park war die Ecke mit ihren Zelten stets die lauteste, | |
bei den Aufmärschen war ihr Block der fröhlichste. Genau eine Woche vor der | |
Räumung hatten die Fans der drei großen Klubs den Taksimplatz in das | |
gleißende Lila ihrer Bengalos getaucht. Der Aufzug der Beşiktaş-Fans war | |
der größte und bunteste: 40.000 Menschen liefen auf den Platz, mit Fahnen | |
und Bengalos, aber peinlich genau darauf achtend, dass niemand die Blumen | |
auf der Fahrbahnbegrenzung zertrampelt. | |
## Straßenkämpfe kennen sie | |
Auseinandersetzungen mit der Polizei sind Taylan Kartal und seine Jungs | |
gewöhnt – erst wenige Wochen vor Beginn des Aufstands, am letzten Spieltag | |
der Liga, kam es in Beşiktaş zu heftigen Straßenkämpfen, als die | |
Uniformierten den Fans, die wie immer geschlossen ins nahe gelegene Stadion | |
laufen wollten, den Weg versperrten. Die Fans hatten sich auf ein | |
besonderes Spiel gefreut, das letzte im alten Inönü-Stadion vor dessen | |
Abriss. Noch so ein Tropfen in jenes Fass, das mit den Abrissarbeiten im | |
Gezi-Park überlief. | |
Erfahrungen mit Barrikadenkämpfen hatten die Ultras jedoch keine. „Als wir | |
rund um den Gezi-Park sie ersten Barrikaden bauten, haben militante Linke | |
uns gezeigt, wie man das macht. Da waren etliche junge Frauen dabei“, | |
erzählt Kartal. „Sehr schöne Frauen.“ | |
Für ihn haben Sprüche wie „Steh nicht rum wie eine Frau“ ausgedient. Bei | |
den früheren Auseinandersetzungen rund um das Stadion seien die Frauen aus | |
seiner Clique noch geflüchtet, sagt er. „Aber im Gezi-Park standen sie in | |
der zweiten Reihe hinter uns und haben uns mit Wasser versorgt und uns | |
Gesicht und Augen mit Talcid-Lösungen und Zitronen abgewischt, um die | |
Wirkung des Pfeffergases zu lindern. Das war für sie eine neue Erfahrung. | |
Und für uns auch.“ Nach einer seiner rhetorischen Pausen fügt er hinzu: | |
„Auch diese Erfahrung wird bleiben.“ Der Straßenkampf als Motor der | |
Gleichberechtigung. | |
Kartal und seine engsten Freunde – alles junge Männer in seinem Alter, die | |
studiert haben und in Banken, Werbeagenturen oder Computerfirmen arbeiten, | |
liebend gern Fangesänge grölen, ansonsten aber freundlich und wohlerzogen | |
auftreten – gehörten zu den rund 30 Çarşı-Leuten, die als Erste zur | |
Unterstützung der Parkbesetzer kamen. Damals, in den letzten Maitagen, war | |
noch nicht abzusehen, wie militant die Auseinandersetzungen werden würden; | |
dass sich der Konflikt um einen Stadtpark zu einem veritablen Aufstand | |
gegen die Erdogan-Regierung ausweiten würde. | |
Wer vermutet, dass es den Ultras von Beşiktaş nur um Krawall geht, tut | |
ihnen also Unrecht. Sich an politischen Aktionen zu beteiligen, ist für | |
Çarşı-Leute nichts Ungewöhnliches. Nicht umsonst erinnert das „Ç“ im L… | |
an eine Sichel, das traditionelle Symbol der Sozialisten, nicht umsonst ist | |
das „A“ zum Anarchie-A eingekreist. Çarşı steht links. Keine 1.Mai-Demo | |
findet ohne sie statt. | |
## „Wir waren schon immer Armenier“ | |
Als nach der [14][Ermordung des armenisch-türkischen Publizisten Hrant | |
Dink] die Parole „Wir sind alle Armenier“ skandiert wurde und darauf Fans | |
von Trabzon – jener Stadt am Schwarzen Meer, aus der die Mörder kamen – ein | |
riesiges Transparent mit der Aufschrift „Wir sind alle Türken“ entfalteten, | |
konterte die Beşiktaş-Tribüne mit einem noch größeren Transparent: „Wir | |
waren schon immer Armenier“ – eine Anspielung auf Alen Markaryan, den | |
langjährigen Çarşı-Anführer armenischer Abstammung. | |
Bei anderen Aktionen ging es um Atomenergie, Rassismus oder Hilfe für | |
Erdbebenopfer. Die Beşiktaş-Tribüne ist nicht nur die lauteste der Welt – | |
vor ein paar Jahren wurde im nur 32.000 Zuschauer fassenden Inönü-Stadion | |
der Weltrekord von 132 Dezibel aufgestellt –, sie ist vermutlich auch die | |
politischste. „Çarşı ist gegen alles außer Atatürk“, lautet eine Parol… | |
Mögen Kemalismus und Anarchismus für andere ein Widerspruch sein, für Çarş… | |
lässt sich beides prima miteinander vereinbaren. „Wir sind die einzigen | |
sozialdemokratischen Anarchisten der Welt“, sagt Taylan Kartal. | |
Wieder lacht er, doch er meint das ernst. Wenn er über seine politischen | |
Ziele spricht, erkennt man den Sozialdemokraten. Anders als die radikalen | |
Linken ist er weder grundsätzlich gegen Privatisierungen noch gegen | |
ausländische Investoren. „Ich will nur, dass das zum Wohle der | |
Allgemeinheit geschieht und nicht ein paar wenige das Volk ausplündern.“ | |
Wenn es um Fragen der Partizipation geht, merkt man hingegen den | |
Anarchisten. Auch die Organisationsform von Çarşı ist eher | |
basisdemokratisch. Es gibt zwar die Altvorderen, „Abi“, „großer Bruder�… | |
genannt, die die Choreografien im Stadion dirigieren. Aber diese „Abis“ | |
sind keine Kommandanten, erzählt Kartal. „Wir diskutieren in Internetforen | |
und auf dem Kazan, einem Platz in Beşiktaş.“ Und wenn einige Leute von | |
Çarşı entscheiden, an einer Protestaktion teilzunehmen, dann machen sie das | |
– ob mit Çarşı-Logo oder ohne. | |
Dann erzählt Kartal eine letzte Kriegsanekdote: Beim Rückzug von einer | |
Barrikade mussten die Çarşı-Leute eine große türkische Fahne, die sie dort | |
angebracht hatten, aufgeben. Bei der nächsten Gefechtspause forderten sie | |
die Übergabe der Fahne. Die Polizei ließ sich darauf ein, Taylan und drei | |
seiner Freunde trafen sich auf dem Schlachtfeld mit vier Beamten, die | |
unbewaffnet und mit der Fahne in der Hand rauskamen. Bei dieser Gelegenheit | |
vereinbarte man wegen allgemeiner Übermüdung für den Rest der Nacht einen | |
Waffenstillstand. | |
Auch für diesen neuen, aufgeklärten Nationalismus stehen Çarşı-Leute wie | |
Kartal: „Ich bin stolz Türke zu sein und ich kritisiere die PKK“, erläute… | |
Taylan. „Aber ich will, dass die die Kurden ihren Platz in der Gesellschaft | |
finden und niemand mehr mit der Waffe in der Hand kämpfen muss.“ | |
## Fans mit den meisten Fans | |
Mitgliedsausweise verteilt Çarşı nicht, und anders als bei den anderen | |
großen Istanbuler Klubs gibt es in Beşiktaş keine rivalisierenden Fanklubs, | |
sondern nur einen. „Wer Beşiktaş-Fan ist, ist auch Çarşı“, meint Karta… | |
Zwar hinkt sein Verein in der Zahl der Meisterschaften und der Menge der | |
landesweiten Fans der Konkurrenz aus Galatasaray und Fenerbahçe hinterher. | |
Dafür ist Çarşı vielleicht weltweit der Fanklub, der selber die meisten | |
Fans hat. | |
Auch deshalb erklärte Çarşı vor einigen Jahren die Selbstauflösung. „Zum | |
einen hatten Leute angefangen, mit Çarşı Geld zu verdienen. Zum anderen | |
ging es nur noch um die Fans ging anstatt um den Verein und den Fußball“, | |
erzählt Kartal. „Aber als dann Çarşı-Gruppen aus anderen Stadtteilen | |
erklärten, sie würden unter diesem Namen weitermachen und plötzlich darüber | |
diskutierten, das Anarchie-A aus dem Logo zu entfernen, mussten wir die | |
Selbstauflösung rückgängig machen. Çarşı musste bleiben, wie es immer war… | |
Und dazu gehört nicht nur, dass die Beşiktaş-Ultras laut, politisch und | |
wenn es sein muss militant sind. Sie sind auch berühmt für ihren Humor und | |
ihre Kreativität, für ihre witzigen, zuweilen auch derben Lieder. Noch wenn | |
sie sich entschuldigen, weil sich jemand wegen Ruhestörung beschwert hat, | |
tun sie das gerne singend: „Wir sind Beşiktaş / Und ein bisschen irre / | |
Haben wir Sie gestört / Dann tut's uns leid.“ Den Witz haben sie von der | |
Tribüne auf die Straße getragen, es dürfte der wichtigste Beitrag der | |
Çarşı-Leute zu dieser Bewegung sein. Auch der Bulldozer vom | |
Dolmabahçepalast ist bereits in einem Lied verewigt. | |
## Ein Lied, das bleibt | |
Es ist aber ein Spottlied auf die Polizei, das zum Gemeingut unter den | |
Demonstranten geworden ist, neben einem alten Schlachtruf aus den | |
Siebzigern („Schulter an Schulter gegen den Faschismus“) und der in diesen | |
Tagen geborenen Parole „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Dies… | |
Lied entstammt ursprünglich der Beşiktaş-Tribüne: „Los, schieß dein Gas / | |
Los, schieß sein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, | |
dass du dich traust.“ Es ist der einzige Gesang, auf den sich Kemalisten | |
und Kurden, Linke und Liberale, Fans von Fenerbahçe, Galatasaray und | |
Beşiktaş verständigen können. Oder auf das schlichte [15][„Pfeffergas, | |
olé!“], auch das eine Kreation von Çarşı. | |
Am Donnerstagabend erklärt im Abbasaga-Park ein Psychologe die Wirkung | |
solcher Lieder: „Wenn Menschen, die gerade eben mit Reizgas beschossen | |
wurden, noch mit roten Augen ,Pfeffergas, olé!' rufen, also darüber lachen | |
können, dann verhindert dies Traumatisierungen, die angesichts solcher | |
Erfahrungen leicht passieren können.“ Kartal hört das gern. Er und sein | |
Freund neben ihm nicken sich zu, so als wollten sie sagen: „Das haben wir | |
gemacht.“ | |
Dabei ist Kartal nicht wichtig, wer sich an welcher Stelle an den Kämpfen | |
beteiligt hat. Auch Çarşı kann man nicht vorwerfen, sich in den Vordergrund | |
zu drängen. Zwar ging die noch Initiative für die Parkforen von den Ultras | |
aus, auch der schlaksige Endzwanziger, der seit Tagen die Diskussion im | |
Abbasaga-Park moderiert, soll der Beşiktaş-Fankurve entstammen. Und | |
natürlich sind die drei „Abis“, die am Vormittag aus der Untersuchungshaft | |
entlassen wurden, an diesen Abend im Park, halten sich aber zurück. „Wir | |
sind hier nicht als Çarşı, sondern als Bürger von Beşiktaş“, sagt Karta… | |
## Sogar Fans von Galatasaray und Fenerbahçe dürfen kommen | |
In diesen Tagen tolerieren er und seine Freunde sogar, dass Leute mit | |
Trikots von Galatasaray und Fenerbahçe in ihr Viertel kommen, um an den | |
Versammlungen im Abbasaga-Park teilzunehmen – bis vor einigen Wochen noch | |
undenkbar. „Als Bürger und Teil der Aufstandsbewegung finde ich das gut“, | |
sagt Kartal. „Aber mein Beşiktaş-Herz sagt mir: Zieh denen die Trikots aus | |
und jag sie aus dem Viertel.“ | |
Wie sehr die Erdogan-Regierung die Fußballfans im Allgemeinen und die von | |
Beşiktaş im Besonderen fürchtet, zeigt sich nicht nur in der Anklage gegen | |
insgesamt 22 Çarşı-Leute wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, was | |
mit Flugabwehrgeschützen und anderen schweren Waffen begründet wird, die | |
angeblich bei Hausdurchsuchungen gefunden wurden. Auch bei [16][Erdogans | |
Kundgebung am vergangenen Sonntag] waren Fahnen der drei Istanbuler Klubs | |
und von Çarşı zu sehen – allerdings derart schlechte Imitate, dass Çarş�… | |
nicht einmal für nötig befand, dies richtigzustellen. | |
Dann erzählt Taylan Kartal von einem Gespräch mit seinem Vater. Der hat ihm | |
immer vorgehalten, seine Generation sei unpolitisch, auch zu Beginn des | |
Gezi-Aufstands war er noch skeptisch. „Aber dann hat er mich aber angerufen | |
und gesagt: Junge, macht das, was wir nicht geschafft haben, macht aus | |
diesem Land eine echte Demokratie.“ | |
Was Kartal seinen Kindern erzählen wird? „Nicht davon, dass ich auf | |
Barrikaden gekämpft habe. Ich werde ihnen erzählen, wofür wir aufgestanden | |
sind. Von der Solidarität untereinander. Dann werden wir auch wissen, ob | |
sich das Ganze gelohnt hat, ob wir wirklich gewonnen haben.“ | |
22 Jun 2013 | |
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Deniz Yücel | |
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Die Republik Gezi-Park: Die Internationale der Ignoranz | |
Wenn die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzt, siegt | |
Erdogan. Doch der Gezi-Park verkörpert den europäischen Gedanken nicht: er | |
übertrifft ihn. | |
Proteste in Istanbul: Beten gegen Twitter | |
Demonstranten legen Nelken am Taksimplatz nieder. Die Polizei antwortet mit | |
Wasserwerfern, Reizgas und Gummigeschossen. | |
Kommentar Proteste weltweit: Sommer der Wut | |
In Ländern wie Brasilien und der Türkei gehen die Gewinner des letzten | |
Jahrzehnts auf die Straße. Sie wollen weiter von den Modernisierungen | |
profitieren. | |
Riesenprotest in Köln gegen Erdogan: „Überall ist Taksim!“ | |
Zehntausende Menschen haben in Köln gegen den türkischen Premier Erdogan | |
demonstriert. Friedlich bleibt es wohl auch, weil Erdogan-Anhänger zuhause | |
blieben. | |
Auf der anderen Seite des Bosporus: Die schweigende Mehrheit der Türkei | |
In den islamisch geprägten Istanbuler Vororten stehen viele zu Erdogan. | |
Doch die Begeisterung bröckelt. Ein Besuch im asiatischen Teil der Stadt. | |
Proteste in der Türkei: 18 Mitglieder der Sozialisten in Haft | |
Eine Zeitung und eine Nachrichtenagntur wurden durchsucht. Der | |
Sozialistischen Partei der Unterdrückten wird die „Zerstörung öffentlicher | |
Güter“ vorgeworfen. | |
Kolumne Die Liebeserklärung: Gas, schmerzt es dich? | |
Töten wollte das Gas nicht, nur wach machen. Aber nun ist es knapp geworden | |
und braucht Hilfe von Istanbul bis Rio. Der Aufstand ist noch nicht zu | |
Ende. | |
Kolumne Besser: Warum ich in Istanbul bin | |
Die Proteste in der Türkei vereinen Bänker, Anarchisten und Feministinnen. | |
Das ist schöner und demokratischer als der Bürokratenverein namens EU. |