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# taz.de -- Fußballfans bei den Taksim-Protesten: „Wir haben gewonnen“
> Laut, fröhlich, kampfbereit und politisch – sagenumwoben waren sie schon
> immer. In den Tagen des Protests sind die Beşiktaş-Fans endgültig zu
> Volkshelden avanciert.
Bild: Als am 8. Juni die Çarsi-Leute auf dem Taksimplatz ankommen, wird es lil…
ISTANBUL taz | Taylan Kartal ist ein Junge aus gutem Haus. Er ist 29 Jahre
alt und hat einen Universitätsabschluss. Auch sein Vater und seine Mutter
haben studiert, beide arbeiten, der Großvater war Offizier in der
türkischen Armee. Kemalistisch, links, Mittelschicht. Er mag
Computerspiele, Techno und englischen Fußball. Die Ereignisse der
vergangenen Tagen und Wochen aber haben Taylan Kartal zu einem anderen
Menschen gemacht.
Seit Beginn des Aufstands in Istanbul und anderen Teilen der Türkei ist er
arbeitslos. Er hat seinen Job in einem Maklerbüro geschmissen, weil sein
Arbeitgeber im Ruf stand, der Regierungspartei AKP nahezustehen. Er hat
sich Zeit genommen, um seine fristlose Kündigung zu begründen. Die
Vertragsstrafe von umgerechnet 600 Euro hat Taylan Kartal in Kauf genommen.
Jetzt unterstützen ihn Verwandte und Freunde.
Kartal ist Fan des Istanbuler Fußballklubs Beşiktaş. Und er gehört der
Ultravereinigung Çarşı an. Einer Vereinigung, die viele als Schutzmacht des
Protests ansehen, die aber von staatlichen Stellen teilweise als
„kriminelle Vereinigung“ betrachtet wird. Unter diesem Vorwurf wurden
einige von Taylan Kartals Freunden festgenommen, zwei sitzen inzwischen in
Untersuchungshaft. Damit hat es auch zu tun, dass Taylan Kartal für diesen
Text weder seinen echten Namen nennen noch sich fotografieren lassen will.
„Der Gezi-Park wurde wieder dem Volk übergeben“, meldete der türkische
Fernsehsender NTV Anfang voriger Woche. „Derzeit wird es niemandem
gestattet, den Park zu betreten.“ Sieben Tage nach der [1][gewaltsamen
Räumung] bewacht weiterhin ein großes Polizeiaufgebot den Park. Auch der
angrenzende Taksimplatz wirkt wie ein Truppenübungsgelände. Schwer
bewaffnete [2][Sondereinsatzkommandos haben Stellung bezogen].
„Die führen sich auf, als seien sie eine Besatzungsmacht“, sagt Kartal. Er
hat sich am Taksimplatz und in seinem Viertel Beşiktaş an den
Barrikadenkämpfen beteiligt und zehn Tage lang im Gezi-Park gezeltet. Doch
auch für ihn ist der Ausnahmezustand vorläufig beendet.
## Dunkle Ränder unter den Augen
An diesem Donnerstagnachmittag läuft er über den Taksimplatz.
Behördengänge. Taylan Kartal ist nicht allzu groß, aber muskulös. Er wirkt
wie jemand, der stets die Ruhe bewahren kann, sich aber auch zu verteidigen
weiß. Einer, den man in brenzligen Situationen gern an seiner Seite hat.
Kartal lacht viel, seine Stimme ist rauchig, und wenn er etwas erklärt,
legt er gern kleine Pausen ein, in denen er seinen Zuhörer freundlich
anblickt. Dann sieht man die dunklen Ränder um seine Augen noch deutlicher.
Er ist erschöpft.
„Ich erinnere mich noch sehr genau an die Kämpfe, die Organisierung im
Park, die Solidarität, die dort herrschte“, sagt er und legt wieder eine
kleine Pause ein. „Aber ich merke, wie ich Tage und Ereignisse
durcheinanderbringe. Seit einer Woche denke ich: Ich muss aufschreiben, was
passiert ist, solange die Erinnerungen noch frisch sind.“
Rund um den Taksimplatz ist der Kampf um Erinnerungen schon beendet. Gleich
nach der [3][Erstürmung des Gezi-Parks am vergangenen Samstag] wurden die
Graffitis in der Umgebung, die vom [4][Witz und dem Esprit der Bewegung]
zeugten, übertüncht. So, als wollte jemand sagen: Es ist nichts passiert.
„Es ist aber passiert“, sagt Kartal. „Und wir haben gewonnen.“ Er sagt …
nicht triumphierend, aber bar jeden Zweifels. „Meine Generation hat ihre
Lethargie abgelegt. Wir, die wir nie über Politik geredet haben, sprechen
plötzlich mit wildfremden Menschen über Politik. Wir hören einander zu, wir
können tolerieren, wenn andere Leute andere Meinungen haben. Wir standen
zusammen im Gasnebel, deshalb begegnen wir uns mit Respekt. Egal, was aus
dieser Bewegung wird: Die Regierung kann nie wieder darauf vertrauen, dass
sie tun und lassen kann, was sie will. Künftig wird sie sich bei jedem
Vorhaben fragen: Was wird das Volk dazu sagen? Ja, wir haben gewonnen.“
Dieses gesellschaftliche Gespräch, das im Gezi-Park begann, setzt sich seit
einigen Tagen in anderen Parks der Stadt, aber auch in Parks in Ankara,
Izmir oder Eskisehir fort. Menschen [5][treffen sich Abend für Abend], um
sich darüber auszutauschen, wie sie weitermachen. Einige wollen mit einer
„Çapulcu-Partei“, einer „Partei der Marodeure“, bei den Kommunalwahlen
antreten, andere lehnen es strikt ab, sich parteiförmig zu organisieren.
Aber irgendeine Form der Institutionalisierung wollen alle. Als Nächstes
will man sich auf ein gemeinsames Manifest verständigen.
„Es ist gut, dass die Straßenkämpfe vorbei sind und wir jetzt reden statt
zu kämpfen. Das ist ein ziviler Aufstand, er muss zivile Bahnen finden“,
meint Kartal. Und doch hadert er mit der [6][„Taksim-Solidarität“], einem
nicht ganz transparenten Zusammenschluss verschiedener Gruppen, der die
Besetzung des Parkes koordiniert hatte. Kartal wirft der
„Taksim-Solidarität“ vor, sie hätte Absprachen mit der Polizei getroffen
und im Vertrauen darauf, dass diese den Park nicht angreifen würde, der
[7][Schleifung der Barrikaden] rund um den Taksimplatz am Dienstag
vergangener Woche zugestimmt. „Natürlich hätten wir die Barrikaden am Ende
nicht militärisch halten können. Aber sie waren ein Symbol. Dass sie
geschleift wurden, hat die Menschen entmutigt. Deshalb ging ein paar Tage
später die Räumung des Parks so leicht über die Bühne.“
## Abbasaga-Park wird zu Gezi
Donnerstagabend im Abbasaga-Park im Stadtteil Beşiktaş: Das vierte Treffen
in Folge, wieder sind mehr Menschen gekommen als am Vorabend, gut 3.000
dürften es sein, weit mehr, als auf den Steinstufen des Amphitheaters Platz
finden. Die Soundanlage ist so laut, dass die Menschen, die in an anderen
Ecken des Parks in kleineren Runden zusammensitzen, sich nur mit größter
Mühe verständigen können. Erstmals sind Fliegende Händler da, die Getränke
und Snacks verkaufen, ein paar linke Zeitungen haben Stände aufgebaut, und
einige Leute übernachten bereits hier. Von Tag zu Tag erinnert Abbasaga ein
bisschen mehr an den Gezi-Park.
Kartal findet das nicht gut. Nicht nur, weil das Kampieren der Polizei eine
Begründung geben könnte, den Park zu stürmen. „Die Menschen aus dem Viertel
nutzen diesen Park. Sie gehen hier spazieren, ihre Kinder spielen hier. Ich
will nicht, dass sie sich belästigt fühlen.“
Taylan Kartal ist ein Junge aus dem Viertel. Das ist für ihn noch wichtiger
als alles andere: Beşiktaş-Fan, Çarşı-Mitglied, undogmatischer Linker,
undogmatischer Kemalist. „Ich bin hier nicht als Çarşı-Mitglied, sondern
als jemand aus dem Viertel“, betont er.
Beşiktaş ist ein besonderes Stück Istanbul: Der nordwestlich des
Taksimplatzes gelegene Bezirk ist eine säkulare Hochburg. In 36 der 39
Stadtbezirke ist die AKP an der Macht, nur drei werden von der
kemalistisch-sozialdemokratischen CHP regiert: Kadiköy, das Stadtzentrum
der anatolischen Seite, das nordöstlich des Taksimplatzes gelegene Şişli,
dessen Bürgermeister seine Gezi-Park Dixieklos aufstellen ließ und seine
[8][Müllmänner zur Unterstützung schickte]. Und eben das am Bosporus
gelegene Beşiktaş.
Das Zentrum von Beşiktaş ist eine typische Mittelschichtsgegend. Wer hier
wohnt, ist nicht so reich wie die Leute in den ebenfalls zum Bezirk
gehörenden Vierteln Bebek oder Etiler, aber wohlhabender als die meisten
anderen Istanbuler. Viele Beamte leben hier, Selbstständige, Unternehmer,
Intellektuelle, Studenten. Touristen verirren sich nur selten nach
Beşiktaş, Frauen mit Kopftüchern sieht man in den engen Gassen der Altstadt
noch seltener, in den Fischrestaurants herrscht eine familiäre Atmosphäre.
Nirgends ist es lauter, wenn in diesen Tagen abends um neun auf Pfannen und
Töpfen klopfend protestiert wird.
## Beşiktaş wurde gehalten
Als in den ersten Tagen des Aufstandes die Straßenkämpfe rund um den
Taksimplatz zeitweise nach Beşiktaş überschwappten, war fast das ganze
Viertel unterwegs, um das Eindringen der Polizei in die Innenstadt zu
verhindern. Tatsächlich gelang es den Sondereinsatzkommandos nicht, aus den
heftig umkämpften Hauptzufahrtsstraßen, dem Barbaros-Boulevard am Bosporus
und der steil landeinwärts führenden Akaretler-Straße, in die Innenstadt
vorzudringen.
Anwohner beteiligten sich am Barrikadenbau, behandelten die Kämpfer, riefen
von ihren Balkonen die neuesten Nachrichten durch, die sie im kleinen
linken Fernsehsender [9][Halk TV] gehört hatten oder sorgten mit Pfannen
und Töpfen stundenlang für einen ohrenbetäubenden Lärm. „So ziemlich jeder
war dabei, und jeder tat das, was er sich zutraute“, erzählt eine
Mittdreißigerin aus der Nachbarschaft. Dass sich in diesen Tagen jeder mehr
zutraute, als er selbst je vermutet hätte, lag an den Jungs, die die
vorderste Front bildeten: Çarşı, die Ultras von Beşiktaş.
Sagenumwoben waren sie schon immer. In den Tagen des Aufstands sind die
Beşiktaş-Fans endgültig zu Volkshelden avanciert – jedenfalls unter jenen
50 Prozent der Bevölkerung, die nicht [10][hinter der Erdogan-Regierung
stehen].
Çarşı-Leute waren dabei, als es darum ging, in den ersten Tagen der
Parkbesetzung die Fliegenden Händler zu vertreiben – in der „Republik Gezi…
sollte eigentlich kein Geld zählen. Sie schlichteten Streitereien zwischen
den miteinander verfeindeten Gruppen und versuchten, für die Sicherheit
aller zu sorgen. Nach der ersten Räumung des Gezi-Parks waren sie es, die
die Polizeiketten sprengten, den Park zurückeroberten und dafür sorgten,
dass sich die Polizei zeitweise völlig aus der Innenstadt zurückzog.
Besonders von sich reden machten Çarşı-Leute mit einer Aktion am
Dolmabahçepalast, als einige von ihnen einen Bagger kaperten, mit ihm auf
die Wasserwerfer zufuhren und diese verdrängten. Ministerpräsident Recep
Tayyip hätte es aus seinem Arbeitszimmer verfolgen können, das er sich in
einem Seitenflügel der genau zwischen dem Taksimplatz und dem Zentrum von
Beşiktaş gelegenen letzten Residenz des osmanischen Sultans hat einrichten
lassen.
## Verantwortung statt Wunder
Im Laufe des Protests begann den Ultras ihr Ruf vorauszueilen. So machte in
jenen Tagen Mitte Juni, als es in Istanbul ruhig war, in [11][Ankara aber
heftige Straßenschlachten tobten], das Gerücht die Runde, dass Çarşı-Leute
zur Hilfe eilen würden. Und unter den Menschen, die am Abend der Räumung
des Gezi-Parks [12][im Divan-Hotel eingeschlossen waren], brach Jubel aus,
als sich die Nachricht verbreitete, die Ultras seien auf dem Weg, um sie
rauszuprügeln. „Einen solchen Ruf zu haben, ehrt uns“, sagt Kartal in wenig
peinlich berührt. Aber die Leute sollten von Çarşı keine Wunder erwarten:
„Wir versuchen nur, unseren Teil der Verantwortung zu übernehmen.“
Und das kann verschiedene Formen annehmen: Als vor ein paar Tagen der
[13][Fernsehsender Halk TV], der im Unterschied zu den großen Sendern die
Proteste rund um die Uhr begleitet hatte, wegen Aufwiegelung zur Gewalt zu
einer drastischen Geldstrafe wurde, verkündete Çarşı: „Gebt uns eure
Kontonummer, wir zahlen das.“ Nein, nein, versichert Taylan Kartal, sie
hätten kein Festgeldkonto, von dem sie die Überweisung tätigen könnten.
„Aber wenn Halk TV unsere Hilfe brauchen sollte, würden wir das Geld in
Beşiktaş sammeln. Und wir würden es zusammenkriegen“, erzählt er beim
Spaziergang durchs Viertel.
Dabei grüsst Kartal ständig jemanden; man merkt, dass er hier aufgewachsen
ist und wie wohl er sich in seinem Viertel fühlt. Sogar mit Polizisten aus
dem hiesigen Revier nickt er sich freundlich zu. „Wir haben mit unseren
Polizisten kein Problem. Unser Problem sind die Sondereinsatzkommandos.“
Das Viertel, in dem er lebt, ist vielleicht auch der Grund, weshalb er
anders als viele andere Demonstranten keine Islamisierung fürchtet. „Das
ist mit der türkischen Gesellschaft nicht zu machen“, sagt er. Er sei auf
die Barrikaden gegangen, weil das Land unter Erdogan und der AKP auf eine
Diktatur zusteuere.
Dabei sind die Beşiktaş-Fans nicht nur Frontkämpfer und Aufpasser der
Bewegung. Im Gezi-Park war die Ecke mit ihren Zelten stets die lauteste,
bei den Aufmärschen war ihr Block der fröhlichste. Genau eine Woche vor der
Räumung hatten die Fans der drei großen Klubs den Taksimplatz in das
gleißende Lila ihrer Bengalos getaucht. Der Aufzug der Beşiktaş-Fans war
der größte und bunteste: 40.000 Menschen liefen auf den Platz, mit Fahnen
und Bengalos, aber peinlich genau darauf achtend, dass niemand die Blumen
auf der Fahrbahnbegrenzung zertrampelt.
## Straßenkämpfe kennen sie
Auseinandersetzungen mit der Polizei sind Taylan Kartal und seine Jungs
gewöhnt – erst wenige Wochen vor Beginn des Aufstands, am letzten Spieltag
der Liga, kam es in Beşiktaş zu heftigen Straßenkämpfen, als die
Uniformierten den Fans, die wie immer geschlossen ins nahe gelegene Stadion
laufen wollten, den Weg versperrten. Die Fans hatten sich auf ein
besonderes Spiel gefreut, das letzte im alten Inönü-Stadion vor dessen
Abriss. Noch so ein Tropfen in jenes Fass, das mit den Abrissarbeiten im
Gezi-Park überlief.
Erfahrungen mit Barrikadenkämpfen hatten die Ultras jedoch keine. „Als wir
rund um den Gezi-Park sie ersten Barrikaden bauten, haben militante Linke
uns gezeigt, wie man das macht. Da waren etliche junge Frauen dabei“,
erzählt Kartal. „Sehr schöne Frauen.“
Für ihn haben Sprüche wie „Steh nicht rum wie eine Frau“ ausgedient. Bei
den früheren Auseinandersetzungen rund um das Stadion seien die Frauen aus
seiner Clique noch geflüchtet, sagt er. „Aber im Gezi-Park standen sie in
der zweiten Reihe hinter uns und haben uns mit Wasser versorgt und uns
Gesicht und Augen mit Talcid-Lösungen und Zitronen abgewischt, um die
Wirkung des Pfeffergases zu lindern. Das war für sie eine neue Erfahrung.
Und für uns auch.“ Nach einer seiner rhetorischen Pausen fügt er hinzu:
„Auch diese Erfahrung wird bleiben.“ Der Straßenkampf als Motor der
Gleichberechtigung.
Kartal und seine engsten Freunde – alles junge Männer in seinem Alter, die
studiert haben und in Banken, Werbeagenturen oder Computerfirmen arbeiten,
liebend gern Fangesänge grölen, ansonsten aber freundlich und wohlerzogen
auftreten – gehörten zu den rund 30 Çarşı-Leuten, die als Erste zur
Unterstützung der Parkbesetzer kamen. Damals, in den letzten Maitagen, war
noch nicht abzusehen, wie militant die Auseinandersetzungen werden würden;
dass sich der Konflikt um einen Stadtpark zu einem veritablen Aufstand
gegen die Erdogan-Regierung ausweiten würde.
Wer vermutet, dass es den Ultras von Beşiktaş nur um Krawall geht, tut
ihnen also Unrecht. Sich an politischen Aktionen zu beteiligen, ist für
Çarşı-Leute nichts Ungewöhnliches. Nicht umsonst erinnert das „Ç“ im L…
an eine Sichel, das traditionelle Symbol der Sozialisten, nicht umsonst ist
das „A“ zum Anarchie-A eingekreist. Çarşı steht links. Keine 1.Mai-Demo
findet ohne sie statt.
## „Wir waren schon immer Armenier“
Als nach der [14][Ermordung des armenisch-türkischen Publizisten Hrant
Dink] die Parole „Wir sind alle Armenier“ skandiert wurde und darauf Fans
von Trabzon – jener Stadt am Schwarzen Meer, aus der die Mörder kamen – ein
riesiges Transparent mit der Aufschrift „Wir sind alle Türken“ entfalteten,
konterte die Beşiktaş-Tribüne mit einem noch größeren Transparent: „Wir
waren schon immer Armenier“ – eine Anspielung auf Alen Markaryan, den
langjährigen Çarşı-Anführer armenischer Abstammung.
Bei anderen Aktionen ging es um Atomenergie, Rassismus oder Hilfe für
Erdbebenopfer. Die Beşiktaş-Tribüne ist nicht nur die lauteste der Welt –
vor ein paar Jahren wurde im nur 32.000 Zuschauer fassenden Inönü-Stadion
der Weltrekord von 132 Dezibel aufgestellt –, sie ist vermutlich auch die
politischste. „Çarşı ist gegen alles außer Atatürk“, lautet eine Parol…
Mögen Kemalismus und Anarchismus für andere ein Widerspruch sein, für Çarş…
lässt sich beides prima miteinander vereinbaren. „Wir sind die einzigen
sozialdemokratischen Anarchisten der Welt“, sagt Taylan Kartal.
Wieder lacht er, doch er meint das ernst. Wenn er über seine politischen
Ziele spricht, erkennt man den Sozialdemokraten. Anders als die radikalen
Linken ist er weder grundsätzlich gegen Privatisierungen noch gegen
ausländische Investoren. „Ich will nur, dass das zum Wohle der
Allgemeinheit geschieht und nicht ein paar wenige das Volk ausplündern.“
Wenn es um Fragen der Partizipation geht, merkt man hingegen den
Anarchisten. Auch die Organisationsform von Çarşı ist eher
basisdemokratisch. Es gibt zwar die Altvorderen, „Abi“, „großer Bruder�…
genannt, die die Choreografien im Stadion dirigieren. Aber diese „Abis“
sind keine Kommandanten, erzählt Kartal. „Wir diskutieren in Internetforen
und auf dem Kazan, einem Platz in Beşiktaş.“ Und wenn einige Leute von
Çarşı entscheiden, an einer Protestaktion teilzunehmen, dann machen sie das
– ob mit Çarşı-Logo oder ohne.
Dann erzählt Kartal eine letzte Kriegsanekdote: Beim Rückzug von einer
Barrikade mussten die Çarşı-Leute eine große türkische Fahne, die sie dort
angebracht hatten, aufgeben. Bei der nächsten Gefechtspause forderten sie
die Übergabe der Fahne. Die Polizei ließ sich darauf ein, Taylan und drei
seiner Freunde trafen sich auf dem Schlachtfeld mit vier Beamten, die
unbewaffnet und mit der Fahne in der Hand rauskamen. Bei dieser Gelegenheit
vereinbarte man wegen allgemeiner Übermüdung für den Rest der Nacht einen
Waffenstillstand.
Auch für diesen neuen, aufgeklärten Nationalismus stehen Çarşı-Leute wie
Kartal: „Ich bin stolz Türke zu sein und ich kritisiere die PKK“, erläute…
Taylan. „Aber ich will, dass die die Kurden ihren Platz in der Gesellschaft
finden und niemand mehr mit der Waffe in der Hand kämpfen muss.“
## Fans mit den meisten Fans
Mitgliedsausweise verteilt Çarşı nicht, und anders als bei den anderen
großen Istanbuler Klubs gibt es in Beşiktaş keine rivalisierenden Fanklubs,
sondern nur einen. „Wer Beşiktaş-Fan ist, ist auch Çarşı“, meint Karta…
Zwar hinkt sein Verein in der Zahl der Meisterschaften und der Menge der
landesweiten Fans der Konkurrenz aus Galatasaray und Fenerbahçe hinterher.
Dafür ist Çarşı vielleicht weltweit der Fanklub, der selber die meisten
Fans hat.
Auch deshalb erklärte Çarşı vor einigen Jahren die Selbstauflösung. „Zum
einen hatten Leute angefangen, mit Çarşı Geld zu verdienen. Zum anderen
ging es nur noch um die Fans ging anstatt um den Verein und den Fußball“,
erzählt Kartal. „Aber als dann Çarşı-Gruppen aus anderen Stadtteilen
erklärten, sie würden unter diesem Namen weitermachen und plötzlich darüber
diskutierten, das Anarchie-A aus dem Logo zu entfernen, mussten wir die
Selbstauflösung rückgängig machen. Çarşı musste bleiben, wie es immer war…
Und dazu gehört nicht nur, dass die Beşiktaş-Ultras laut, politisch und
wenn es sein muss militant sind. Sie sind auch berühmt für ihren Humor und
ihre Kreativität, für ihre witzigen, zuweilen auch derben Lieder. Noch wenn
sie sich entschuldigen, weil sich jemand wegen Ruhestörung beschwert hat,
tun sie das gerne singend: „Wir sind Beşiktaş / Und ein bisschen irre /
Haben wir Sie gestört / Dann tut's uns leid.“ Den Witz haben sie von der
Tribüne auf die Straße getragen, es dürfte der wichtigste Beitrag der
Çarşı-Leute zu dieser Bewegung sein. Auch der Bulldozer vom
Dolmabahçepalast ist bereits in einem Lied verewigt.
## Ein Lied, das bleibt
Es ist aber ein Spottlied auf die Polizei, das zum Gemeingut unter den
Demonstranten geworden ist, neben einem alten Schlachtruf aus den
Siebzigern („Schulter an Schulter gegen den Faschismus“) und der in diesen
Tagen geborenen Parole „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Dies…
Lied entstammt ursprünglich der Beşiktaş-Tribüne: „Los, schieß dein Gas /
Los, schieß sein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig,
dass du dich traust.“ Es ist der einzige Gesang, auf den sich Kemalisten
und Kurden, Linke und Liberale, Fans von Fenerbahçe, Galatasaray und
Beşiktaş verständigen können. Oder auf das schlichte [15][„Pfeffergas,
olé!“], auch das eine Kreation von Çarşı.
Am Donnerstagabend erklärt im Abbasaga-Park ein Psychologe die Wirkung
solcher Lieder: „Wenn Menschen, die gerade eben mit Reizgas beschossen
wurden, noch mit roten Augen ,Pfeffergas, olé!' rufen, also darüber lachen
können, dann verhindert dies Traumatisierungen, die angesichts solcher
Erfahrungen leicht passieren können.“ Kartal hört das gern. Er und sein
Freund neben ihm nicken sich zu, so als wollten sie sagen: „Das haben wir
gemacht.“
Dabei ist Kartal nicht wichtig, wer sich an welcher Stelle an den Kämpfen
beteiligt hat. Auch Çarşı kann man nicht vorwerfen, sich in den Vordergrund
zu drängen. Zwar ging die noch Initiative für die Parkforen von den Ultras
aus, auch der schlaksige Endzwanziger, der seit Tagen die Diskussion im
Abbasaga-Park moderiert, soll der Beşiktaş-Fankurve entstammen. Und
natürlich sind die drei „Abis“, die am Vormittag aus der Untersuchungshaft
entlassen wurden, an diesen Abend im Park, halten sich aber zurück. „Wir
sind hier nicht als Çarşı, sondern als Bürger von Beşiktaş“, sagt Karta…
## Sogar Fans von Galatasaray und Fenerbahçe dürfen kommen
In diesen Tagen tolerieren er und seine Freunde sogar, dass Leute mit
Trikots von Galatasaray und Fenerbahçe in ihr Viertel kommen, um an den
Versammlungen im Abbasaga-Park teilzunehmen – bis vor einigen Wochen noch
undenkbar. „Als Bürger und Teil der Aufstandsbewegung finde ich das gut“,
sagt Kartal. „Aber mein Beşiktaş-Herz sagt mir: Zieh denen die Trikots aus
und jag sie aus dem Viertel.“
Wie sehr die Erdogan-Regierung die Fußballfans im Allgemeinen und die von
Beşiktaş im Besonderen fürchtet, zeigt sich nicht nur in der Anklage gegen
insgesamt 22 Çarşı-Leute wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, was
mit Flugabwehrgeschützen und anderen schweren Waffen begründet wird, die
angeblich bei Hausdurchsuchungen gefunden wurden. Auch bei [16][Erdogans
Kundgebung am vergangenen Sonntag] waren Fahnen der drei Istanbuler Klubs
und von Çarşı zu sehen – allerdings derart schlechte Imitate, dass Çarş�…
nicht einmal für nötig befand, dies richtigzustellen.
Dann erzählt Taylan Kartal von einem Gespräch mit seinem Vater. Der hat ihm
immer vorgehalten, seine Generation sei unpolitisch, auch zu Beginn des
Gezi-Aufstands war er noch skeptisch. „Aber dann hat er mich aber angerufen
und gesagt: Junge, macht das, was wir nicht geschafft haben, macht aus
diesem Land eine echte Demokratie.“
Was Kartal seinen Kindern erzählen wird? „Nicht davon, dass ich auf
Barrikaden gekämpft habe. Ich werde ihnen erzählen, wofür wir aufgestanden
sind. Von der Solidarität untereinander. Dann werden wir auch wissen, ob
sich das Ganze gelohnt hat, ob wir wirklich gewonnen haben.“
22 Jun 2013
## LINKS
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[15] http://www.youtube.com/watch?v=PZSXjuM6N5Q
[16] /!118237/
## AUTOREN
Deniz Yücel
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