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# taz.de -- Krawall beim Istanbul-Derby: Auswärtssieg für Erdogan
> Nach dem Abbruch des Spiels zwischen Besiktas und Galatasaray wird über
> die Motive gestritten. Fest steht jedenfalls, wem der Spielabbruch nützt.
Bild: Da flog viel, aber nicht mehr der Ball
ISTANBUL taz | Fangen wir mit der Nebensache an: dem Fußball. Besiktas geht
als Favorit in das erste Istanbul-Derby der Saison. Mit dem neuen Trainer,
dem früheren kroatischen Nationaltrainer [1][Slaven Bilic], ist das Team
mit vier glänzenden Siegen in die Saison gestartet. Anders Galatasaray: Nur
sechs Punkte aus vier Spielen, dazu am Dienstag die blamable 1:6-Niederlage
in der Champions League gegen Real Madrid.
Beim Derby ist Besiktas zwar Heimmannschaft, aber weil das nahe dem
Taksimplatz gelegene Inönü-Stadion komplett neu gebaut wird, spielt
Besiktas zu Saisonbeginn im „Atatürk Olympia Stadium“. Das ist zwar weit
abgelegen – auf dem Weg dahin kann man weidende Kühe sehen –, aber bietet
immerhin eines: Platz. 76.126 Zuschauer sind es an diesem Sonntagabend
offiziell, türkischer Ligarekord. Ausnahmslos Besiktas-Fans wohlgemerkt.
Denn Gästefans sind bei Derbys in Istanbul grundsätzlich nicht zugelassen.
Das Spiel ist von Beginn umkämpft, wobei Besiktas die besseren Chancen hat
und in der 18. Minute nach einer schönen Kombination durch den ehemaligen
Bremer Hugo Almeida in Führung geht. In der zweiten Hälfte dreht
Galatasaray auf. [2][Didier Drogba], der gegen Madrid verletzt
ausgeschieden und für das Derby fitgespritzt worden war, organisiert das
Spiel, hilft in der Defensive, holt und verteilt Bälle. Und vor allem: er
erzielt die Tore, wobei beide Male schwere individuelle Abwehrfehler bei
Besiktas vorausgehen.
Ganz sauber ist das zweite Tor nicht, vor seinem Zuspiel auf Drogba hatte
Burak Yilmaz den Ball mit dem Arm gestoppt. Schiedsrichter Firat Aydinus
ahndet das nicht und zieht damit und nach weiteren streitbaren
Entscheidungen den Zorn der Besiktas-Fans auf sich. Gegen Ende kämpft sich
Besiktas zurück. Doch die restlichen drei Minuten der Nachspielzeit werden
nicht mehr gespielt. Womit wir beim anderen Thema wären: den Fans. Und der
Politik.
## „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“
Bei den Gezi-Protesten im Frühjahr hatten Angehörige von Çarsi, der
Ultravereinigung von Besiktas, [3][eine wichtige Rolle gespielt]. Die
Proteste sind gegenwärtig zwar abgeflaut, die politische Lage im Land aber
ist weiterhin extrem, die Gesellschaft polarisiert. Ein Ausdruck dessen:
das Verbot von politischen Parolen, das der türkische Verband für
Fußballspiele verfügt hat. Doch obwohl den Klubs bei Verstößen schwere
Sanktionen drohen, haben sich Fans zahlreicher Klubs nicht abschrecken
lassen.
Seit Saisonbeginn skandierten sie immer wieder in der 34. Minute – 34 ist
das Autokennzeichen von Istanbul, dem Zentrum der Proteste – „Überall ist
Taksim, überall ist Widerstand“. Den originellsten Beitrag lieferten dabei
Fans von Gençlerbirligi aus Ankara, als sie bei ihrem ersten Heimspiel
skandierten: „Politische Parole, politische Parole!“
Auch am Samstag riefen Tausende Fans von Fenerbahçe Parolen der
Gezi-Bewegung, die bis zur Pause andauerten. Der übertragende Fernsehsender
Lig-TV drehte den Ton aus dem Stadion ab, Mitglieder des AKP-nahen Fanclubs
Genç Fenerbahçeliler griffen Mitglieder des linken Fanclubs Sol Açik an.
Noch heikler war aus Sicht der Staatsmacht die Lage beim Derby. Dort
sollten sich vier Staatsanwälte unter die Fans mischen, um gleich an Ort
und Stelle mit den Ermittlungen anzufangen – ein einmaliger Vorfall im
türkischen Fußball.
Bis zur 34. Minute wollen die Besiktas-Fans aber nicht warten. Vor Anpfiff
rufen Zehntausende Gezi-Parolen und singen oppositionelles Liedgut. Eine
kleine Minderheit pfeift dagegen an. Einmal dreht die Stadionregie die
Anlage so weit auf, dass nur noch ein brutal lautes Kreischen zu hören ist.
„Da werden Ermittlungsbehörden bei der Arbeit behindert“, witzelt jemand.
Laut ist es auch nach dem Anpfiff. Aber die Aufmerksamkeit der Fans gilt
dem Spiel. Auch die Parolen in der 34. Minute währen nur kurz; zu spannend
ist der Spielverlauf. Erst in der zweiten Halbzeit lässt der
ohrenbetäubende Lärm auf der Tribüne nach. Dafür kommt es kurz vor Schluss
auf den unteren Rängen der Gegengeraden zu einer Schlägerei zwischen Fans.
Einige Leute, darunter welche mit Kindern, flüchten auf die Laufbahn.
## Provozierende Gesten
Die Gegentribüne ist in Aufruhr. Als kurz darauf Galatasarays Felipe Melo
die Rote Karte sieht und mit provozierenden Gesten vom Platz geht, stürmen
aus der Mitte der Gegengeraden erst Dutzende, dann Hunderte Fans das
Spielfeld. Plastikstühle fliegen auf Ordner und Polizisten, die sich
bemerkenswert zurückhalten und den Ansturm erst vor der Haupttribüne mit
Tränengas stoppen.
Noch am Abend beginnt der Streit über die Deutung der Vorfälle. Ein
Abgeordneter der AKP twittert, dass Çarsi für die Gewalt verantwortlich
sei. Mehr oder weniger deutlich behaupten dies auch die regierungsnahen
Medien. Çarsi hingegen versichert, dass man am Platzsturm nicht beteiligt
war, und verweist darauf, dass die Çarsi-Leute auf den oberen Rängen saßen.
Türkische Oppositionelle hingegen machen Mitglieder des neuen Fanklubs
„1453 Kartalları“ für die Vorfälle verantwortlich. Bislang hatten sich a…
Besiktas-Fans unter dem Dach von Çarsi versammelten. „1453“ steht daher im
Verdacht, von der AKP gesteuert zu sein. Zumindest grenzt er sich
ausdrücklich von der politischen Linie von Çarsi ab, beteuert aber, mit der
Gewalt nichts zu tun zu haben. Angehörige von „1453“ saßen beim Derby in
der Nordkurve. Gerüchten zufolge sollen sie aber in der Pause auf die
Gegengerade gewechselt sein.
Fest steht jedenfalls, wem der Spielabbruch nützt: Für alle, die der
offiziellen Propaganda glauben, ist Çarsi diskreditiert. Und Besiktas wird
eine Strafe bekommen – von mindestens fünf Heimspielen vor leeren Tribünen
ist die Rede. In einem Geisterspiel ruft niemand politische Parolen. Die
nun folgenden Heimspiele wird Besiktas übrigens im Stadion des Istanbuler
Klubs Kasimpasa austragen. Das heißt ganz unpolitisch
Recep-Tayyip-Erdogan-Stadion.
23 Sep 2013
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## AUTOREN
Deniz Yücel
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