# taz.de -- Zeit erforschen in der Kunst: Das flüchtige Element Luft | |
> Das ZKM Karlsruhe zeigt die erste Retrospektive der Künstlerin Soun-Gui | |
> Kim in Europa. Sie verfolgt Konzept der Muße, der Beobachtung und | |
> Reflexion. | |
Bild: Zeichnung für „Situation plastique II,“ 1971, Wasserfarbe auf Papier | |
„Lazy Clouds“ ist der Titel der Schau von Soun-Gui Kim im ZKM Karlsruhe. | |
Übersetzt bedeutet er so viel wie „faule, träge Wolken“. Alles easy, nur | |
kein Stress? Die nahe Paris auf dem Land lebende Multimedia-Künstlerin | |
verfolgt, wie sie selber sagt, ein „Konzept der Muße“, doch handelt es sich | |
um eine tätige Muße. Schon die Fülle der gezeigten Filme, Installationen, | |
Dokumentationen, Papierarbeiten, Zeichnungen und Projektskizzen belegen | |
eine unablässige Produktivität. Auch lehrte die Künstlerin an verschiedenen | |
Kunsthochschulen, in Marseille, Lyon und in Hamburg. Ausstellungen – meist | |
im Kontext der Medienkunst – führten sie rund um den Globus. | |
Die sich über zwei Lichthöfe erstreckende Retrospektive ist eine Übernahme | |
des National Museum of Modern and Contemporary Art Seoul. Da es sich um die | |
erste Retrospektive der französisch-koreanischen Soun-Gui-Kim in Europa | |
handelt, ist es eine späte Würdigung einer Künstlerin, die früh Verfahren | |
wie gemeinschaftliches Arbeiten oder Multimedia praktizierte. Mit ihr wird | |
auch an eine Kunstära erinnert, in der es um ästhetische | |
Grundlagenforschung ging. | |
Das Intro verbreitet gleich entspannte Stimmung – und feiert eine Obsession | |
der Künstlerin. Auf riesigen, im Lichthof schwebenden Flatscreens laufen | |
wackelige Doku-Videos von Werken aus den 1970er Jahren, als Soun-Gui Kim in | |
Nizza und Marseille studierte. Im Wind flatternde, farbige Tücher, eine | |
ganze Armada von Drachen am Himmel, über dem Wasser tanzende weiße Ballons. | |
Diese „situation plastique“ genannten, mit vielen Helfern realisierten | |
Aktionen feierten nicht zuletzt das flüchtige Element Luft. | |
Als Kind träumte Soun-Gui Kim davon, als Reisende den Mond zu besuchen. Sie | |
blieb am Boden und löste sich auf ihre Weise von der Schwerkraft. | |
Ihre experimentellen Sprachspiele, die etwa den Zusammenhang von | |
materieller Farbe und deren Bezeichnung neu verorten, stehen im | |
Zusammenhang mit ihrem frühen, bereits als Studentin in Korea begonnenen | |
Projekt der [1][Dekonstruktion der Malerei]. Zu ihren jüngeren Arbeiten | |
hingegen gehört „rear window“, Fenster zum Hof, in dem die Malerei auf | |
andere Weise befragt wird. Sie nahm ein ganzes Jahr lang den Blick aus | |
einem Fenster zum Garten auf: In ein und derselben Einstellung | |
dokumentierte sie eine Version des ewigen Kreislaufs der Jahreszeiten. | |
## Fokussierung mit Pfeil und Bogen | |
Ihre Strategie, möglichst wenig zu tun, dafür genau zu beobachten und zu | |
reflektieren, hat auch mit ihrer kulturellen Prägung zu tun. Die 1946 in | |
der Republik Korea geborene Soun-Gui Kim wurde von ihrer Mutter in die | |
Kalligrafie eingeführt; auf das Erlernen des Bogenschießens drang sie als | |
College-Schülerin selbst. | |
Zu den einprägsamsten Bildern der Karlsruher Ausstellung gehören | |
Filmaufnahmen, die Soun-Gui Kim zeigen, wie sie vollkommen fokussiert Pfeil | |
und Bogen spannt. Der rotierende Pfeil rast in Zeitlupe trudelnd auf die | |
Zielscheibe zu und bliebt vibrierend in der Zielscheibe stecken. Die | |
Einschüsse überklebt und übermalt die Künstlerin später und präsentiert d… | |
solchermaßen bearbeiteten Gegenstand als Bild. | |
Jede ihrer künstlerischen Entscheidungen könnte als Akt des Bogenschießens | |
verstanden werden, der eine entspannte Form der Konzentration erfordert. | |
Wie etwa ihre Experimente mit einer einfachen Lochkamera, mit der sie ihre | |
Küche oder den Waldboden aufnahm. Die Voraussetzungen waren denkbar | |
einfach. Ihre Leistung lag im Verzicht auf die moderne Technik, um ein | |
nicht kalkulierbares Ergebnis zu erreichen. Das Ergebnis sind unscharfe | |
Aufnahmen, die ungemein malerisch wirken. | |
Der f[2][ranzösische Philosoph Jean-Luc Nancy] sagte über die Künstlerin: | |
„Soun-Gui Kim experimentiert mit der Materie der Zeit und der Zeit der | |
Materie.“ | |
## Nähe zu Fluxus | |
Wichtig waren für sie auch die frühen Freundschaften zu dem Fluxus-Künstler | |
Nam June Paik und zu dem US-Komponisten John Cage, der nach der Lektüre des | |
Buchs der Wandlungen „I Ging“ die Idee der Komposition neu erforschte. | |
Berühmt ist sein Stück „4’33“, in dem der Pianist nicht ein einziges Mal | |
die Tasten berührte. Was das Publikum hörte, waren allein die selbst | |
verursachten Geräusche. Soun-Gui Kim brauchte keinen Konzertsaal. Sie | |
zeichnete einfach die Spuren von verschiedenen Vögeln im Schnee nach, die | |
sie an ihrem Haus fand, und übertrug die Wege in Grundrissskizzen. | |
Viele ihrer Werke haben den Charakter von Tagebuchaufzeichnungen. Selbst | |
eine ihrer neuesten Medienkunstarbeiten spielt auf ihre Art, zu leben und | |
zu arbeiten, an. Die aber ist nicht gänzlich vom philosophischen Buddhismus | |
geprägt. Soun-Gui Kim soll auch ein Technikfreak sein, in ihrem Haus | |
türmten sich Video-Equipment aus Jahrzehnten, heißt es im Katalog. | |
[3][Der weibliche Roboter] namens Yeong-Hee jedenfalls, den sie „bored | |
fool“ oder auch „lazy cloud“ nennt, steht ihr besonders nahe. Yeong-Hee | |
rezitiert ab und zu Gedichte der Künstlerin in Französisch oder Koreanisch. | |
Sie sitzt auf einer Bank unter einer Kiefer, ein Buch auf den Knien. | |
Yeong-Hee steht für „gelangweilte Närrin“. Sie sei „die wichtigste | |
Blumenknospe der Kunst“, schreibt Soun-Gui Kim. | |
30 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Carmela Thiele | |
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