| # taz.de -- Tahar Ben Jelloun über „Charlie Hebdo“: „Keine Religion akze… | |
| > Der Bestseller-Autor Tahar Ben Jelloun über seine Freunde von „Charlie | |
| > Hebdo“, das Problem mit Le Pen und den üblen, neuen Witz Houellebecqs. | |
| Bild: Schnell ausverkauft: die neue Ausgabe des Satiremagazins „Charlie Hebdo… | |
| taz.am wochenende: Sie haben zwei Freunde bei dem Anschlag auf Charlie | |
| Hebdo verloren. Die Zeichner Cabu und Wolinksi. Wie haben Sie davon | |
| erfahren? | |
| Tahar Ben Jelloun: Telefonisch. Ich habe zunächst nicht gewusst, dass es so | |
| dramatisch ist. Aber das war eine Exekution, das war hart. Dass sie am Ende | |
| noch gesagt haben, dass der Prophet gerächt wurde, hat mich sehr wütend | |
| gemacht. Der Prophet hat nicht darum gebeten. Das zeigt, wie leicht man | |
| heutzutage Menschen zu Mördern machen kann. Sie spüren diese Jungs auf, | |
| teils im Ausland, die eine geistige, eine kulturelle Leere haben. | |
| Es ist leicht, sie zu manipulieren: Wenn es jemandem nicht gut geht, er | |
| keine Arbeit hat, sich von der Gesellschaft nicht akzeptiert fühlt, keinen | |
| Verantwortungssinn besitzt. Wenn er keine Struktur vermittelt bekommen hat. | |
| Da sie ungebildet sind, bekommen sie ein schematisches Bild vom Islam | |
| vermittelt. Einen Islam der Slogans. | |
| Wo lernen sie denn etwas über den Islam? Es ist von außen schwer zu | |
| verstehen, wie der Islam in Frankreich organisiert ist. | |
| Das ist es ja, eigentlich lernen sie gar nichts richtig. Das Problem des | |
| Islam ist, dass es keinen Vertreter, keine Hierarchie gibt. Keine Priester, | |
| keine Bischöfe, keinen Papst. Jeder, der will, kann sich zum Imam erklären. | |
| Ich miete eine Garage, hier im fünften Arrondissement, und sage: Ich bin | |
| Imam, das ist meine Moschee. Die Leute kommen, und ich kann erzählen, was | |
| ich will. Es gibt keine Kontrolle. | |
| Gibt es keine Prüfung für Imame? | |
| Nein. Das ist das Problem. Und weil Frankreich ein laizistisches Land ist, | |
| kann der Staat nicht intervenieren. Ich finde, dass alle Imame in | |
| Frankreich vom Staat bezahlt und kontrolliert werden sollten. Und nicht | |
| etwa von Saudi-Arabien. Aber das geht halt nicht, weil der Staat keiner | |
| religiösen Gruppe – egal ob jüdisch, christlich oder muslimisch - Geld | |
| geben darf. In den Gefängnissen kann man die Missionierung noch eher | |
| unterbinden als in den Moscheen. Es gibt die muslimischen Verbände, aber | |
| die haben auf die Jungen keinen Einfluss. Man sieht sie im Fernsehen, sie | |
| verurteilen die Attentate, sie sind am Sonntag mitmarschiert, aber sie sind | |
| nicht repräsentativ. | |
| Wenn der Staat so wenig Einfluss hat, dann müsste der Anstoß von innen | |
| kommen. | |
| Das kann dauern. | |
| Sind sie so pessimistisch? | |
| Ich bin sehr pessimistisch. Weil unter anderem der Islam so ist wie er ist, | |
| dass er keine Hierarchie hat und diese sich auch nicht so einfach einführen | |
| lässt – es sei denn man wird Schiit, die haben Ayatollahs, Mullahs. | |
| Dann braucht es die Initiative einzelner fortschrittlicher Imame wie die | |
| von Hassen Chalghoumi in Drancy, der sich gegen die Burka ausgesprochen | |
| hat. Warum gibt es so wenige wie ihn? | |
| Chalghoumi steht unter Polizeischutz. Es gibt auch fortschrittliche Leiter | |
| anderer Moscheen, in Bordeaux, in Paris, aber sie haben alle keine | |
| demokratische Legitimation. Und sie sind außerdem eine Minderheit. Bei den | |
| Mohammed-Karikaturen gab es einen Aufschrei unter allen Muslimen. Als man | |
| mich damals dazu befragt hat, habe ich gesagt: Für mich ist der Prophet ein | |
| Geist und über einen Geist kann man sich nicht lustig machen. Das trifft | |
| mich nicht. Für mich ist das nicht der Prophet, den man da sieht. Der ist | |
| ein großer Geist, etwas Spirituelles. Ob er eine große Nase oder einen Bart | |
| hat, ist völlig egal. Aber die Gläubigen haben sich beleidigt gefühlt. | |
| Haben Sie mit ihren Freunden von Charlie Hebdo darüber diskutiert? | |
| Schon. Aber sie haben vor nichts Respekt. Das ist ihr Grundsatz. Sie | |
| respektieren weder Juden noch Christen, sogar über den Dalai Lama haben sie | |
| sich lustig gemacht. Sie machen Spaß. Das ist ihre Rolle. Charlie Hebdo ist | |
| kein Wirtschaftsmagazin, sondern eine Satirezeitschrift. Das muss man | |
| akzeptieren, es sind Leute, die vor nichts und niemandem Respekt haben. | |
| Verträgt sich Ironie überhaupt mit dem Islam? | |
| Keine Religion akzeptiert Ironie. Man braucht nur an Umberto Ecos „Der Name | |
| der Rose“ denken. Das Lachen war untersagt in der Kirche. Wer lachte, wurde | |
| zum Tode verurteilt. Denn Lachen und Ironie bedeutet Zweifeln, und Zweifeln | |
| heißt Infragestellen. Und wer etwas in Frage stellt, ist nicht religiös. | |
| Gleich nach den Anschlägen, als die Verfolgungsjagd noch lief, wurde von | |
| vielen die Angst vor zunehmender Islamophobie geäußert. „Die Muslime sind | |
| die ersten Opfer“, hieß es teilweise. Das wirkt wie ein Reflex, der die | |
| Sicht auf die eigentlichen Opfer verstellt und Empathie verhindert. | |
| Vor der Revolution war die Kirche in Frankreich sehr mächtig. Damit das | |
| Land säkular werden konnte, hat es jahrhundertelange Kämpfe gegeben. Der | |
| Islam in Frankreich befindet sich in einem Umfeld, das Religion keine | |
| besondere Achtung schenkt. Den Muslimen, die nach Frankreich gekommen sind, | |
| hat man nicht erklärt, was die Trennung von Staat und Kirche bedeutet. Man | |
| muss ihnen erklären: Wir sind in einem Land, wo es die Freiheit gibt, zu | |
| glauben oder nicht zu glauben. Gleichzeitig ist die Glaubensneutralität | |
| nicht das gleiche wie Atheismus. Jeder übt seine Religion so aus, wie er | |
| will. Das bleibt Privatangelegenheit. | |
| Das verstehen viele Muslime nicht. Das hat einerseits zu einer Ablehnung | |
| der Franzosen gegenüber den Muslimen geführt und andererseits zu einem | |
| Rückzug der Muslime auf sich selbst, das ist katastrophal, für alle Seiten. | |
| Als ich am Mittwoch von den Toten im Namen des Propheten gehört habe, wurde | |
| mir schwindelig. Die Muslime werden teuer dafür bezahlen. Gestern hat man | |
| für die vergangenen Tage 50 Anschläge auf Moscheen in Frankreich gezählt. | |
| Für jüdische Einrichtungen gibt es - zu Recht - mehr Schutz. Trotzdem | |
| verletzt das viele Muslime: dass sie im Vergleich mit zweierlei Maß | |
| gemessen werden. Auch sie haben Angst. Sie fühlen sich nicht richtig | |
| geschützt. | |
| Müssen die Schulen mehr intervenieren? | |
| Das ist eine langfristige Aufgabe. Ab der Grundschule sollte man | |
| Religionsgeschichte unterrichten und das laizistische Modell erklären. | |
| Kurzfristig muss man eine Lösung für die Moscheen zu finden und in den | |
| Gefängnissen besondere Arbeit leisten, die ein idealer Ort geworden sind, | |
| um Islamisten zu rekrutieren. Und außerdem müsste der französische Staat | |
| die muslimische Bevölkerung beruhigen. | |
| Trotzdem kann man unter jungen Muslimen einen gewissen Antisemitismus | |
| feststellen. | |
| Antisemitismus hat es in Frankreich immer gegeben. Heute ist er | |
| verschwommen, zersplittert. Sicher gibt es junge Leute in den Banlieue, die | |
| Ressentiments gegen Juden haben, weil ihrer Meinung nach die französische | |
| Regierung diesen Sommer ausschließlich den israelischen Staat im Gazakrieg | |
| unterstützt hat, obwohl über 2.000 Palästinenser gestorben sind. Das hat | |
| man in den Banlieues sehr genau registriert. | |
| Machen Sie dort Lesungen? | |
| Das letzte Mal war es sehr schwierig. Die Jungen fragen sofort, warum | |
| machen die Israelis das, sie fühlen sich gedemütigt. Und es ist sehr | |
| schwer, ihnen zu vermitteln, dass man sich vor Rassismus in Acht nehmen | |
| muss. | |
| Haben Sie das neue Buch von Houellebecq gelesen? | |
| Ja. Ein Witz. Es ist ja am Tag des Attentats erschienen, und ich dachte, | |
| das wird seiner Karriere ein Ende bereiten. Das Gegenteil ist der Fall. Es | |
| zeigt, dass der Hass auf den Islam sehr verbreitet ist. Houellebecqs Sicht | |
| auf die Zukunft ist absolut lächerlich, unglaubwürdig. Im übrigen wird es | |
| nie einen muslimischen Präsidenten geben in Frankreich, der von allen | |
| Muslimen gewählt würde. Wie schon gesagt: Jedem sein Islam. Für mich ist er | |
| ein unverantwortlicher Schriftsteller. Es ist sein Recht zu schreiben, was | |
| er will. Aber ich muss es nicht mögen. Er gießt Öl ins Feuer. Und hat ein | |
| gutes Gespür fürs Marketing. | |
| Aber er spürt die Ängste der Leute auf. | |
| Er ist ein guter Beobachter, ein guter Soziologe. | |
| Wird die Spaltung in Frankreich jetzt tiefer? | |
| Das hängt von der Regierung ab. | |
| Die ist aber relativ schwach. | |
| Man kann Mentalitäten nicht einfach ändern. Die Angst der Leute vor dem | |
| Islam aus den Köpfen zu kriegen, ist nahezu unmöglich. Ich bin da sehr | |
| pessimistisch. | |
| Was fürchten Sie mehr, den Aufstieg von Marine Le Pen oder den des | |
| Fundamentalismus? | |
| Also Monsieur Houellebecqs Szenario ist lächerlich. Mit Le Pen haben wir | |
| tatsächlich ein großes Problem. Auch wenn sie kein glaubwürdiges | |
| politisches und ökonomisches Programm hat. Sie ist auch für Europa eine | |
| große Gefahr. Es ist sehr viel einfacher, gegen den Islamismus zu kämpfen | |
| als gegen Le Pen. Sie ist jetzt bei 25 Prozent. Es gibt viele, die glauben, | |
| dass Le Pen sie retten wird. | |
| Eine Titelgeschichte über „Die zerbrechliche Republik“ lesen Sie in der | |
| [1][taz.am wochenende vom 17./18. Januar 2015]. | |
| 17 Jan 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] /taw | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Seifert | |
| ## TAGS | |
| Islamismus | |
| Islam | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Charlie Hebdo | |
| Religion | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Paris | |
| Diskriminierung | |
| Gewalt | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Islam | |
| Istanbul | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Terrorismus | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Folter | |
| Libanon | |
| Saudi-Arabien | |
| Satire | |
| Charlie Hebdo | |
| Satirezeitschrift | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historie der Religionen weltweit: Getrieben von religiösen Motiven | |
| Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg hat eine nicht ganz | |
| unproblematische Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert | |
| vorgelegt. | |
| Unterricht und Religion in Frankreich: In die Schule mit Allahs Segen | |
| Die muslimische Mittelschule in Lille bildet die Ausnahme im Land des | |
| Laizismus. Nun rebellierte ein Lehrer gegen den Geist der Schule. | |
| Slavoj Žižek über „Charlie Hebdo“: „Der Liberalismus braucht die Linke… | |
| Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek über den Terror von Paris und die | |
| Bequemlichkeit gegenseitiger zivilisierter Toleranz. | |
| Debatte Solidarität mit „Charlie Hebdo“: Vom Terror gezeichnet | |
| Wenn es um den Nachdruck der Karikaturen geht, wollen jetzt nicht mehr alle | |
| Charlie sein. Aber auch das gehört zur Meinungsfreiheit dazu. | |
| Proteste gegen „Charlie Hebdo“: Kirchen im Niger angezündet | |
| Mindestens sieben Gotteshäuser sind in dem zentralafrikanischen Land | |
| zerstört worden. Das Titelbild der neuen Ausgabe ist Anlass für die Gewalt. | |
| Die Streitfrage: „Man muss über alle Götter lachen“ | |
| Soll man über höhere Wesen und ihre Propheten Witze machen? Ja, denn keine | |
| Unsterblichkeit währt ewig, schreibt der Autor Ralf Husmann. | |
| Religionskritik in Demokratien: Gottes Liebe ist bitter | |
| Religionen sind totalitäre Ideologien. Sie dürfen in einer Demokratie nur | |
| existieren, solange sie täglich aufs Schärfste angegriffen werden können. | |
| Bewegung gegen „Charlie Hebdo“: Demonstranten ehren Terroristen | |
| Demonstranten in Istanbul, Jerusalem und Amman protestieren gegen die | |
| Satirezeitschift „Charlie Hebdo“. Russland nimmt Sympathisanten fest. | |
| Schlagloch Dschihadismus: Die Opferfalle | |
| Muslime müssen sich von Terroristen distanzieren, die in ihrem Namen | |
| morden. Nur so können sie sich selbst definieren und stärken. | |
| Proteste gegen Mohammed-Karikaturen: „Nieder mit Charlie Hebdo“ | |
| Mehrere muslimische Länder verurteilen die Anschläge in Paris, kritisieren | |
| aber den Titel des neuen Hefts. In Pakistan gibt es Proteste, in Frankreich | |
| weitere Festnahmen. | |
| Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Beginnt die Pegidisierung Europas? | |
| Frankreich erholt sich nur langsam vom Schock der Morde. Die Angst vor den | |
| Islamhassern ist groß. Auch in den Nachbarländern. | |
| Blogger in Saudi-Arabien: Gefängnisarzt stoppt Auspeitschung | |
| Der saudische Blogger sollte am Freitag wieder 50 Peitschenhiebe erhalten. | |
| Aus „medizinischen Gründen“ ist die Folter vorerst ausgesetzt. | |
| Theatermacher Rabih Mroué: „Ein Krieg gegen die Intellektualität“ | |
| Wie man sich trotz eines Lebens voller Gewalt Denkräume offenhält, daran | |
| arbeitet der libanesische Theatermacher Rabih Mroué. | |
| Prügelstrafe für Blogger in Saudi-Arabien: Die nächsten 50 Peitschenhiebe | |
| Der Blogger Raif Badawi wird Freitag wieder ausgepeitscht. Er hatte sich | |
| mit dem religiösen Establishment angelegt. Seine Frau hofft auf | |
| internationalen Druck. | |
| Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Hinweise auf weitere Helfer | |
| Ermittler in Frankreich gehen Hinweisen auf mindestens einen weiteren | |
| Tatverdächtigen nach. Der Verkauf der aktuellen Ausgabe der „Charlie Hebdo“ | |
| läuft weiter. | |
| Mahnwache für „Charlie Hebdo“: Protestsoll nicht erfüllt | |
| Für einige waren zu wenige Muslime auf der Demo für die Opfer von Paris. So | |
| ein Quatsch! Es gehen ja auch mehr zu Mario Barth als zur NSU-Mahnwache. | |
| Neue Ausgabe von „Charlie Hebdo“: „Mehr als Heilige und Propheten“ | |
| Islamisten, der Papst, neue falsche Freunde – „Charlie Hebdo“ ist bissig | |
| wie eh und je. Mehrere Karikaturen sind bisher unveröffentlichte von den | |
| Opfern. |