| # taz.de -- Sozialpädagoge über Schulschließungen: „Die Kinder wären eing… | |
| > Tobias Lucht, Leiter des Kinderprojekts Arche in Hamburg-Jenfeld, sorgt | |
| > sich um soziale Brennpunkte bei einer zweiten Schulschließung. | |
| Bild: Sorge um soziale Brennpunkte: Kinder spielen in einem Raum des Hilfsproje… | |
| taz: Herr Lucht, Sie leiten das Kinderprojekt Arche im Hamburger Stadtteil | |
| Jenfeld. Warum sagen Sie, wir sollten die Schulen offen halten? | |
| Tobias Lucht: Ich spreche aus Sicht der Kinder und Jugendlichen in den | |
| Hamburger Brennpunkten. Wir sind mit der Arche in drei Vierteln in Jenfeld, | |
| Billstedt und Harburg vor Ort, wo viele Kinder arm sind. Wir haben Schulen | |
| mit 65 bis 70 Prozent der Kinder, die von Hartz-IV- und anderen | |
| Transferleistungen leben. Für diese Kinder ist es auch ohne Corona eine | |
| Herausforderung, den Anschluss nicht zu verlieren. | |
| Wie wirkte die Schließung im Frühjahr? | |
| Der Lockdown war für die Kinder sehr, sehr schwer, auch weil sie die | |
| Wohnungen über Wochen quasi nicht verlassen durften. Wir haben hier in der | |
| Arche Kinder, die zu sechst, zu siebt, zu acht in zweieinhalb oder drei | |
| Zimmern wohnen. Die können dort kaum in Ruhe etwas für die Schule tun. Dazu | |
| kommt, dass viele Eltern für ihre Kinder das Beste wollen, aber von der | |
| Sprache her nicht helfen können. Da war der Lockdown hart. Wir hatten hier | |
| zwei elfjährige Jungen, die mit Suizid drohten, einfach, weil es Zuhause so | |
| angespannt war. | |
| Wie denn? | |
| Der eine Junge konnte nichts für die Schule tun. Er hatte kein Handy, | |
| keinen Laptop, die Mutter konnte das nicht mit dem Jobcenter organisieren. | |
| Er war so mit dem Rücken zur Wand, dass er solche Dinge sagte. Und der | |
| zweite Junge, da gab es viele Konflikte mit der Mutter. Das sind extreme | |
| Spitzen, die zeigen, was in den Familien los war. Wir haben erst nach den | |
| Sommerferien gemerkt, wie groß die Defizite sind. | |
| Wie merken Sie das? | |
| Wir haben in allen Häusern einen großen Förderbereich für Deutsch, Mathe, | |
| Englisch, aber auch andere Bereiche. Wenn dann Erstklässler kaum ein Wort | |
| Deutsch sprechen, weil Zuhause nur noch die Muttersprache benutzt wurde, | |
| und wenn auch bei Lesen, Englisch und Mathe die Grundlagen verloren gingen, | |
| zeigt uns das: Oh, da ist viel aufzuholen. Es kamen auch neue Kinder und | |
| baten um schulische Hilfe. Das liegt teils daran, dass andere Einrichtungen | |
| immer zu hatten oder mit sehr wenigen Kindern arbeiteten. | |
| Gab es andere Lockdown-Folgen? | |
| Ja. Kinder, die wir schon kannten, kamen mit Auffälligkeiten, mit Ticks und | |
| Aggressionen zu uns zurück. Kinder waren übergewichtig, weil sie sich wenig | |
| bewegten und ungesund ernährten. Es war ein breites Spektrum an Folgen zu | |
| sehen. | |
| Jetzt sind die Schulen offen. Läuft es gut, oder chaotisiert das | |
| Coronavirus? | |
| Wir bekommen schon jeden Tag mit, dass einzelne Klassen schließen und | |
| Kinder in Quarantäne sind. Weil die dann wieder auch nicht zur Arche kommen | |
| dürfen, bringen wir ihnen Hausaufgaben oder Spielmaterial. Das ist für die | |
| ein kleiner Lockdown. Aber ganz ehrlich: Mir ist es lieber, die Sachen | |
| fallen mal für zwei Wochen aus, als die komplette Schule. Ich spreche jetzt | |
| nur für die Brennpunkte. Hier bedeutet Schule für die Kinder: Hier sind | |
| meine verlässlichen Ansprechpartner. | |
| Sehen das die Kinder auch so? | |
| Wir haben ältere Jugendliche, die sagen: Sollte ich noch mal über Wochen | |
| eingesperrt sein, da kann ich auch von der nächsten Brücke springen. Das | |
| ist salopp daher gesagt, aber wenn das ein 16-Jähriger sagt, nehmen wir das | |
| ernst. Von daher sind wir eher dafür, stadtteilweise zu schauen und auf | |
| jeden Fall nicht im Gießkannenprinzip alle Schulen dicht zu machen, um | |
| etwaiges Infektionsgeschehen zu verhindern. Hier in den Brennpunkten haben | |
| wir Sorge vor einer zweiten flächendeckenden Schließung. | |
| Die Linke schlägt vor, Klassen zu teilen und in öffentliche Räume wie | |
| Bücherhallen auszulagern. Gibt es die in Jenfeld? | |
| Nicht so viele. Brennpunkte sind strukturschwache Stadtteile. Hier wurde | |
| die Bücherhalle geschlossen, es gibt kein Kino, keine Museen. Es gibt zwei | |
| Kirchen, noch zwei freie Gemeinden, vielleicht ein paar Turnhallen. | |
| Grundsätzlich finde ich das aber überlegenswert. Es fehlen aber nicht nur | |
| Räume. Man könnte auch sagen, der Unterricht wird auf Vormittag und | |
| Nachmittag geteilt. Nur fehlt dafür Personal. | |
| Wann hat die Arche denn auf? | |
| Zu uns kommen die Kinder täglich ab 13 Uhr. Teils auch ab 16 Uhr, wenn sie | |
| Ganztagsschulen haben. Es gibt ein kostenfreies Mittagsessen, es gibt | |
| Hausaufgabenhilfe, Sport und Freizeitangebote. Die Kinder kommen ja | |
| freiwillig zu uns. Unsere Mitarbeiter kennen sie über Jahre. Wir versuchen, | |
| sie gut durch den Schulabschluss in eine Ausbildung oder ein Studium zu | |
| begleiten. | |
| Muss die Arche auch wegen Corona den Zugang begrenzen? | |
| Leider ja. Jedes Kind darf zwei Nachmittage in der Woche kommen. Es sei | |
| denn, es hat Hausaufgaben. Für den schulischen Bereich machen wir Ausnahmen | |
| und nutzen auch schon Kirchenräume im Übrigen. | |
| Was fordern Sie von der Politik? | |
| Mehr Differenzierung der Maßnahmen je nach Stadtteil. | |
| Hat der Schulsenator Recht, wenn er die Schulen, so lange es geht, offen | |
| hält? | |
| Ich kann nur für die Brennpunkte sprechen: ja. Das mag in einem Stadtteil, | |
| wo die Kinder im Haus mit Garten leben oder ein anderer familiärer Rückhalt | |
| da ist, anders sein als hier, wo wirklich die Kinder eingesperrt sind. | |
| 16 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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