# taz.de -- Unser Schulsystem in Zeiten der Pandemie: Unter Dampf | |
> Eltern interessieren sich hierzulande nicht für die Gemeinschaft, sondern | |
> nur für ihr Kind. In der derzeitigen Situation ist das ein Supergau. | |
Bild: Helikoptereltern gibt's in der BRD schon lange: Szene aus einer Stuttgart… | |
Als ich an meinem ersten Elternabend in einem westdeutschen Kindergarten | |
teilnahm, war ich etwas erstaunt: Es ging weniger bis gar nicht um die | |
Belange der Gruppe, sondern hauptsächlich um die des einzelnen Kindes. | |
Meine Tochter. Mein Sohn. Mein Kind. Hat, braucht, möchte nicht. | |
In der Schule verschärfte sich diese Situation, und ich durchlitt die | |
Elternabende mit einem andauerndem Herzrasen, ich sah mich nicht in der | |
Lage, mich zu Wort zu melden, da ich in den meisten Fällen andernfalls | |
drohte, ausfallend zu werden. | |
Ich komme aus einer Gesellschaft, in der die Gemeinschaft über das | |
Individuum gestellt wurde. Dieses Projekt ist gescheitert und das ist hier | |
nicht das Thema. Aber wie, frage ich mich noch immer, soll eine | |
Gesellschaft funktionieren, in der sich die Menschen nur dafür | |
interessieren, dass es „ihrem Kind“ gut geht? In der das eigene Kind als | |
Erweiterung des eigenen Ichs angesehen wird, und in der alles, wirklich | |
alles dafür getan werden muss, dass dieses Ich in seinen individuellen | |
Bedürfnissen befriedigt wird? | |
Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem die Schule eine | |
respekteinflößende Institution war, eine Vorbereitung auf die | |
Staatsbürgerschaft. Lehrer*Innen waren Respektspersonen, denen man nur | |
selten widersprach. Elternabende waren dafür da, die Eltern zu informieren, | |
über organisatorische, schulische Belange oder über Probleme, die das Kind | |
machte, weil das Kind sich falsch benahm. | |
Jetzt haben wir ein in etwa entgegengesetztes System. Eltern genehmigen es | |
dem Staat gnädig oder ungnädig, das eigene Kind zu unterrichten. Die | |
Kompetenz von Lehrer*innen wird von Eltern und Schüler*innen immerfort | |
angezweifelt. Elternabende sind dazu da, dass Eltern sich über die | |
schlechte Behandlung ihres Kindes beschweren können. Wenn das Kind eine | |
schlechte Arbeit geschrieben hat, muss die Arbeit zu schwer, das Kind zu | |
schlecht darauf vorbereitet worden sein. Dem Kind selbst wird keine | |
Verantwortung für sein Handeln auferlegt. Das Kind kann gar nichts falsch | |
machen, weil das Kind ja mein Kind ist. | |
Jetzt haben wir den Supergau in diesem netten Schulsystem, wir haben eine | |
Pandemie, die erfordert, dass wir Rücksicht nehmen. Im Schulsystem der DDR, | |
das ich sonst in vielen Punkten ablehne, wäre das nahezu problemlos | |
verlaufen. Wir waren es gewohnt, uns hinten anzustellen. Unser derzeitiges | |
Schulsystem hier ist in derartigen Extremsituation ein Dampfkessel. | |
Wie soll auf die Probleme jedes „mein Kind“ eingegangen werden, angesichts | |
der diversen nagelneuen Schwierigkeiten, die auf die Schulleitung, die | |
Lehrer*innen und auf Eltern und Kinder zukommen? Als Blitzableiter sehen | |
sich die Schulleitungen. Obwohl sie über die Maskenpflicht gar nicht | |
entscheiden, müssten sie sie verteidigen. Sie sehen sich Hass und Wut | |
gegenüber. | |
An der Ida-Ehre-Schule in Hamburg gab es letzte Woche einen | |
Corona-Massentest, aufgrund eines immer unkontrollierbareren Ausbruchs. Das | |
kommt vor und wird weiter vorkommen. Aber diese Probleme lassen sich nicht | |
durch Pöbeleien und Vorwürfe lösen, sondern nur, indem jeder seine | |
privaten, vielleicht gar nicht mal so wichtigen Probleme für sich behält, | |
damit die Schulleiter*innen und Lehrer*innen sich mit den wirklich | |
wichtigen Dingen beschäftigen können. Wie man die Lehrer*innen und | |
Schüler*innen schützen und ein sinnvoller Unterricht durchgeführt werden | |
kann, bei dem die Schüler*innen etwas lernen. | |
Darum sollte es gehen und nicht darum, dass Lehrer X eine Klassenarbeit zu | |
spät für „mein Kind“ angekündigt hat, mäh, mäh, nicht darum, dass „m… | |
Kind“ sich mit der Maske nicht so gut fühlt – ich fühl mich auch nicht gut | |
mit der Maske, niemand fühlt sich gut damit. Aber es ist keine Katastrophe. | |
Es ist ein kleiner Beitrag, und wir sollten unsere Kinder dazu erziehen, am | |
persönlichen Befinden Abstriche zu machen, im Dienste der Gemeinschaft, die | |
auch die ihre ist, und deren Rückhalt jeder Mensch braucht. | |
18 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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