# taz.de -- Soziale Bewegungen in Berlin: Lahmer Protest | |
> Anlässe für Demonstrationen hätte es zuletzt genug gegeben, aber auf den | |
> Straßen tut sich wenig bis nichts. Woran liegt das? | |
Bild: Wenn schon bei Demos der Liegestuhl bereitgestellt wird: DGB-Protest am 1… | |
BERLIN taz | Es hätte das Bewegungshighlight des Sommers werden können: | |
Mitte Juli rief das Bündnis „Rückschrittskoalition stoppen“ zum [1][Prote… | |
gegen den neuen schwarz-roten Senat]. Die ersten vier Monate der | |
CDU-geführten Regierung hatten zahlreiche Aufregerthemen produziert: | |
drohende [2][Haushaltskürzungen], abgewürgte [3][Verkehrswende], | |
ignorierter Enteignungs-[4][Volksentscheid]. Empörungspotenzial, wohin man | |
auch schaute. | |
Prominent war auch die Liste der Redner:innen: von der Bildungsgewerkschaft | |
GEW über die Initiativen 100% Tempelhofer Feld und Deutsche Wohnen & Co | |
Enteignen bis zur Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt. Nur: | |
Es kam fast niemand. Zum Start der Kundgebung vor dem Roten Rathaus war der | |
Platz fast leer. | |
Doch das ist nur ein Flop von vielen: Bei der „Großdemonstration“ von | |
Klimaneustart Berlin im März vor dem Brandenburger Tor zeichnete sich | |
angesichts der übersichtlichen Menge der am nächsten Tag [5][verlorene | |
Volksentscheid] schon ab. Von einer Krisen-Demo von Verdi und weiteren | |
Großorganisationen am selben Wochenende haben nur Eingeweihte Notiz | |
genommen. Und [6][der 1. Mai] wenige Tage nach der Wahl Kai Wegners (CDU) | |
zum Regierenden Bürgermeister? Business as usual. | |
Die Protestszene der Stadt ist wie gelähmt. Die gesellschaftliche | |
außerparlamentarische Linke ist – [7][ebenso wie die Partei Die Linke] – in | |
der Krise, womöglich der größten seit Jahrzehnten. Doch woran liegt das? | |
## Kollektive Hoffnungslosigkeit | |
Der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung | |
spricht von einem „Moment kollektiver Hoffnungslosigkeit“. In der Linken | |
herrsche derzeit das Gefühl, „nirgendwo richtig Oberwasser zu kriegen“. Von | |
Migration bis Klimapolitik sei die Gegenseite in der Offensive. Hinzu komme | |
ein Ansteckungseffekt: „Wenn Proteste in einem Feld nicht durch die Decke | |
gehen, schränkt das bei anderen Akteuren die Motivation ein, selbst viel | |
Energie in die Mobilisierung zu stecken.“ | |
Sucht man einen Ausgangspunkt für diese Krise, landet man im Herbst des | |
vergangenen Jahres und einem bundespolitischen Thema, das kaum Aussicht auf | |
reale Wirksamkeit bot: der Preiskrise. [8][Ein halbes Dutzend verschiedener | |
linker Akteure] hatte sich in Berlin auf den Weg gemacht, Sozialproteste zu | |
initiieren – es aber nicht geschafft, dabei gemeinsam vorzugehen. Der | |
„heiße Herbst“ war vorab herbeigeschrieben worden – und an den Erwartung… | |
[9][krachend gescheitert]. | |
Von einem „ausgebliebenen Protestereignis“ spricht Mara Hauser, Mitglied | |
der AG Soziale Kämpfe des linksradikalen Bündnisses Interventionistische | |
Linke (IL). | |
Klassische Demonstrationen seien „nicht das richtige Format gewesen, um | |
jene zu erreichen, die von der Preiskrise am stärksten betroffen sind“, | |
sagt sie. Aber auch die ebenfalls mit IL-Beteiligung initiierte Kampagne | |
[10][„Wir zahlen nicht“] – ein Aufruf, kollektiv die Stromrechnung zu | |
boykottieren – ging völlig unter. | |
## Linke kann mit sozialer Gerechtigkeit nicht mobilisieren | |
Die Linke war in ihrem ureigenen Thema, der sozialen Gerechtigkeit, | |
wirkungslos geblieben. Ein Grund neben der selbst gemachten Spaltung: Das | |
heraufbeschworene Katastrophenszenario von kalt bleibenden Wohnungen war | |
ausgeblieben. Das zumindest sagt Jonas Schelling, seit vielen Jahren aktiv | |
in Berlins Mietenbewegung sowie der IL. | |
Folgt man Teunes Theorie der Ansteckung, fehlt es den Linken seit dem | |
wieder einmal gescheiterten Versuch, das Proletariat zu organisieren, an | |
der Energie, sich selbst zu mobilisieren. Es ist auffällig, dass man die | |
Leute „nicht mehr massenhaft vom Sofa holen kann“, sagt Rosa Winter von der | |
linksradikalen Gruppe Theorie Organisation Praxis (TOP.) Das gilt für | |
lokale, aber auch größere Themen. | |
Was derzeit völlig fehlt, sind spontane Momente, wie es sie zuletzt 2020/21 | |
gab: Als sich der FDPler Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum | |
Ministerpräsidenten Thüringens wählen ließ, der Mietendeckel gekippt wurde | |
oder in Griechenland das Flüchtlingslager Moria brannte, trieb es Tausende | |
auf die Straße. | |
Als diesen Sommer die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems | |
(GEAS) beschlossen wurde, passierte nichts dergleichen. Noch vor wenigen | |
Jahren schaffte es die Kampagne Seebrücke dagegen, antirassistische | |
Forderungen weit über das linksradikale Milieu hinauszutragen. | |
## Apathie angesichts der Erfolge der Rechten | |
Womöglich sind die Erfolge der Rechten einfach zu groß und wuchtig, um noch | |
mit Hoffnung darauf zu reagieren. Die Folge: Die Apathie zieht sich durch | |
fast alle politischen Bereiche. | |
Eine Antifa, die Akzente setzt angesichts einer AfD im Allzeithoch, die | |
demnächst Landtagswahlen gewinnen könnte? Fehlanzeige – [11][auch weil der | |
Ermittlungsdruck im Zuge des Verfahrens gegen die Gruppe Lina E. die | |
Handlungsspielräume einschränkt.] Mietenproteste für die Verteidigung des | |
Volksentscheids und gegen die immer schneller steigenden Mieten? Gibt es | |
nicht. | |
Dabei war die [12][Mietenbewegung] fast über ein Jahrzehnt der verlässliche | |
Treiber für Proteste in der Hauptstadt. Nun sagt Schelling: „Es fehlt nicht | |
die Wut, es fehlt die Hoffnung.“ Der Mietendeckel wurde gerichtlich | |
gekippt, das Ende des Vorkaufsrechts verhindert, dass sich organisierende | |
Hausgemeinschaften wie Pilze aus dem Boden sprießen, und das Ignorieren des | |
erfolgreichen Enteignungs-Volksentscheids hat viele nachhaltig deprimiert. | |
Ergo: „Es gibt kein politisches Projekt mit einer | |
Durchsetzungsperspektive.“ Viele würden sich deshalb nun mehr auf | |
Stadtteilarbeit und Organizing konzentrieren. Arbeit am Aufbau einer | |
Mieter-Gewerkschaft statt öffentlichkeitswirksamer Aktionen. | |
## Von Corona nicht erholt | |
Auch die Nachwirkungen von Corona sind weiter zu spüren. Manche | |
Häusergruppen und Kiez-Initiativen seien, so Schelling, nach der | |
Pandemiepause nie wieder erwacht. Hauser sagt: „Corona hat reingehauen und | |
Strukturen zerschlagen. | |
Auch in der IL haben diese Jahre deutliche Spuren hinterlassen.“ Zu den | |
wichtigsten Akteuren, die in den vergangenen Jahren von der Bildfläche | |
verschwanden, gehört das [13][Bündnis Unteilbar] – das letzte Großbündnis, | |
das dem gesellschaftlichen Rechtsruck noch Massen entgegenzustellen | |
vermochte und sich vor einem Jahr auflöste. | |
Doch das Problem geht noch weiter, wie Hauser sagt: „Corona und auch der | |
Krieg haben heftige Debatten in der gesellschaftlichen Linken ausgelöst.“ | |
Bei beiden Themen wirke nach, dass es „keine klaren Positionen gab, auf die | |
sich alle einigen konnten“. Und nach außen konnten Linke nicht in zwei | |
Sätzen erklären, wie ihre Positionen zu diesen Themen sind. | |
## Immer weniger linke Freiräume | |
Rosa Winter, deren Gruppe an einigen der vergangenen Bewegunsgserfolge in | |
der Stadt beteiligt war – wie den [14][Protesten gegen den Google-Campus] | |
2018 oder der [15][Blockade des Aufmarsches des 3. Wegs] in | |
Hohenschönhausen 2020 – nennt einen weiteren Punkt: „Das Verschwinden | |
linker Orte und Freiräume“ durch eine regelrechte [16][Räumungswelle] in | |
den vergangenen Jahren. | |
Und jene, die sich noch halten, brauchen dafür oft „alle Energie“. Von | |
offensiven Forderungen wie jener der Besetzen-Kampagne nach einem sozialen | |
Zentrum sei nichts geblieben, stattdessen baue die CDU nun einen [17][Zaun | |
um den Görli], so Winter. | |
Als wäre das alles nicht genug, färbt auch die Stimmung der Partei Die | |
Linke, zumindest auf Bundesebene, auf die Bewegung ab. Ihre | |
„Spaltungslinien sind ebenso für die Bewegungslandschaft relevant“, sagt | |
Protestforscher Teune. Lange Zeit sei Die Linke ein Akteur gewesen, der | |
„mit Ressourcen und bei Mobilisierungen unterstützend präsent war“. Das | |
falle nun überwiegend aus, so Teune. | |
Hinzu kommt für Mara Hauser (Interventionistische Linke) das Problem, dass | |
die gesellschaftliche Wahrnehmung der Linken „massiv durch die Partei | |
geprägt ist“. Mietenaktivist Schelling, der mit Deutsche Wohnen & Co | |
Enteignen immer wieder Bezugspunkte zur Partei hat, sagt: „Ihr peinliches | |
Zerfleischen schadet der Bewegungslinken.“ | |
Anders, aber nicht besser ist es mit den Grünen. „Die Beteiligung der | |
Grünen an der Bundesregierung fällt der Klimabewegung und der | |
Antifabewegung auf die Füße“, sagt Hauser. Das Ergebnis sei eine große | |
Frustration bei vielen, die sich in den Bereichen engagieren. Auch Rosa | |
Winter sagt: „Menschen in linksliberalen Kreisen, die Hoffnungen auf die | |
Grünen hatten, sind mit Lützerath oder GEAS komplett ernüchtert.“ | |
## Bewegung bei Klimaprotesten | |
Dabei ist der Bereich Klimapolitik und Verkehr momentan der einzige, in der | |
die Bewegung noch mobilisierungsfähig ist. 20.000 Menschen waren zuletzt | |
gegen die Stadtautobahn A100 auf der Straße, ebenso viele bei Fridays for | |
Future. Währenddessen sorgt die Letzte Generation mir ihren Aktionen dafür, | |
dass Klimaproteste dauerhaft wahrnehmbar sind. Erfolge aber sucht man auch | |
hier vergebens. | |
Kann sich die Linke aus dieser Situation befreien? Jonas Schelling sagt: | |
„Angesichts der gesellschaftlichen Großwetterlage fällt es mir schwer, | |
nicht in den totalen Pessimismus zu verfallen.“ Die quasi verfehlte | |
Aufgabe, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, oder die | |
Landtagswahlen im Osten im kommenden Jahr machten „große Angst“. Auch | |
Hauser ist konsterniert: „Die Handlungsunfähigkeit im Zuge der Preiskrise | |
hat mich ratlos zurückgelassen.“ Gleichzeitig gelte: „Die Bedingungen | |
machen es immer notwendiger, dass wir aus diesem Tal herauskommen müssen.“ | |
Als möglicher Kristallisationspunkt für Proteste fällt immer wieder | |
[18][geplante Ausbau der A100]. Ein Erfolgskonzept aus der Vergangenheit | |
sei es oft gewesen, sich ein „konkretes lokales Projekt zu suchen, wo man | |
im begrenzten Rahmen etwas Großes erzählen kann“, sagt Winter. Derzeit sei | |
es schwierig, dem „konservativen Konsens“ die große Antwort | |
entgegenzuhalten. Stattdessen müsse man diesen mit „vielen offensiven | |
Projekten zerlöchern“. Notwendig bleibe zudem, Antifaarbeit sichtbarer zu | |
machen und etwa mit Klimaaktivismus zu verbinden. „Antifa ist nicht alles. | |
Aber ohne Antifa schwindet der Raum für alle emanzipativen Forderungen“, so | |
Winter. | |
Sicher ist, die Probleme werden nicht kleiner, an objektiven Bedingungen | |
für Proteste fehlt es nicht. „Das Konfliktpotenzial wird wieder zunehmen“, | |
sagt Schelling. Protestforscher Teune konstatiert: „Es brennt überall.“ F�… | |
Berlin komme hinzu: Eine CDU-Regierung mache es „in der Regel leichter, | |
Proteste zu organisieren“. | |
Teunes Beobachtung: Soziale Bewegungen verlaufen in Wellenformen: „Ich | |
halte es für ausgemacht, dass irgendwann wieder mehr Leute auf die Straße | |
gehen, weil wieder die Stimmung da ist, dass man damit einen Unterschied | |
macht.“ Nur sei es schwer, dies willentlich herbeizuführen. | |
25 Sep 2023 | |
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