# taz.de -- Kein linker „heißer Herbst“: Die ausgefallene Revolte | |
> Der linke „heiße Herbst“ ist gescheitert – es fehlt das revolutionäre | |
> Subjekt. Aber Gründe gibt es mehr. Eine Annäherung. | |
Bild: Demonstration des Bündnisses Solidarischer Herbst im November | |
Berlin taz | Die Stimmung ist elektrisierend, als sich am Mittwoch, den 17. | |
August, [1][200 Menschen in der Reinhardtstraße vor der FDP-Parteizentrale | |
versammeln]. Es ist das Gefühl, Teil von etwas Großem, am Beginn von etwas | |
Historischem dabei zu sein. Da stört es kaum, dass der erste linke | |
Sozialprotest des sogenannten heißen Herbstes nur klein ist – es soll ja | |
auch nur der erste Protest von vielen sein. Empathisch wird immer wieder | |
erklärt: Die soziale Frage ist zurück. | |
Vier Monate später ist davon wenig übrig. Ein Blick in die Demokalender | |
entblößt bezogen auf Sozialproteste eine gähnende Leere. „Früher hätten … | |
gesagt: Es herrscht keinerlei revolutionäre Stimmung“, sagt [2][Uwe Hiksch, | |
Mitinitiator von Heizung, Brot und Frieden], einem der drei größeren | |
Berliner Protestbündnisse. In der Spitze konnte das bewegungsnahe | |
[3][Bündnis Umverteilen 7.000 Menschen auf die Straße bringen]. Die meisten | |
anderen Demos blieben wesentlich kleiner – und stets erschien vor allem das | |
bereits politisierte, aktivistische Spektrum. | |
Das linke Projekt heißer Herbst ist gescheitert. Wahrscheinlich war der | |
Optimismus, dass diese so ins gesellschaftliche Abseits gedrängte Linke aus | |
dem Stand heraus eine soziale Revolte ausrufen kann, von Beginn an | |
realitätsfremd. Vor allem ist es nicht gelungen, die eigentlich Betroffenen | |
zu mobilisieren. „Die, ich sage mal, normalen Menschen nehmen der Linken | |
nicht mehr ab, eine Kraft für positive Veränderung zu sein“, resümiert | |
Hiksch nüchtern. | |
Gespalten hat die Linke Russlands Krieg in der Ukraine. Die Stimmen, die | |
ernsthaft mit Russland sympathisieren, blieben stark marginalisiert, | |
ungeklärt dagegen sind auch für junge Aktivist:innen die Fragen nach | |
Sanktionen und Waffenlieferungen. „Unser Konsens ist, dass wir Putins | |
Angriffskrieg verurteilen, aber die Sanktionsfragen haben wir im Bündnis | |
ausgeklammert“, sagt selbst Toni Michels vom Umverteilen-Bündnis, in dem | |
sich die sozialen Bewegungen – von Fridays for Future bis zur | |
anarchistischen Perspektive Selbstverwaltung – zusammengeschlossen haben. | |
## Zerstrittenheit als Zeichen der Schwäche | |
„Das, was in der antifaschistischen Tradition ja häufig gelingt, dass also | |
Gruppen miteinander auf die Straße gehen, die sonst wenig miteinander zu | |
tun haben, hat nicht funktioniert“, sagt auch Hiksch. Auf den Protesten von | |
Heizung, Brot und Frieden wurden die Sanktionen durchaus zur Ursache der | |
sozialen Verwerfungen erklärt. Für Hiksch ist die linke Zerstrittenheit ein | |
Zeichen der eigenen Schwäche: „Je geringer der Einfluss einer Strömung ist, | |
umso stärker werden die theoretischen Unterschiede ausdiskutiert.“ | |
Doch allein an der Unsicherheit in der Sanktionsfrage liegt es nicht, dass | |
die Sozialproteste keine Wucht entfalten konnten. Auch die häufig von | |
rechtsextremen Gruppen organisierten Montagsdemos sind zuletzt nicht mehr | |
angewachsen. Zum groß angekündigten [4][Protest der AfD gegen die | |
Energiepreise] unter dem Motto „Unser Land zuerst“ im Oktober kamen zwar | |
10.000 Menschen – auch hier erschien aber vor allem die eigene, | |
rechtsradikale Stammklientel. In Umfragen hat die AfD dennoch zuletzt | |
zugelegt. | |
Eine naheliegende Erklärung für die fehlenden Unruhen ist, dass die Ampel | |
mit Entlastungen dämpfend auf die Proteststimmung eingewirkt hat: 200 | |
Milliarden Euro zur Abfederung der Energiekosten, Preisbremsen, | |
49-Euro-Ticket, Übergewinnsteuer auf EU-Ebene – alles zentrale Forderungen | |
der Sozialproteste. „Ehrlich gesagt ist, wenn auch stark verwässert, | |
inzwischen unser halber Forderungskatalog erfüllt“, sagt [5][Ines | |
Schwerdtner von der Protestplattform Genug ist genug]. | |
## Die Not existiert | |
Doch nach wie vor greift die Armut um sich: Die Löhne werden von der | |
Inflation aufgefressen, als Streikerfolg gilt inzwischen, wenn der | |
Reallohnverlust wenigstens nicht allzu hoch ist. Wegen der drastischen | |
Strom- und Gaspreise sitzen viele auch im Dezember noch in der kalten | |
Wohnung. Und die Schlangen vor den Tafeln werden immer länger. Erklären | |
kann also auch das Handeln der Regierung die fehlenden Proteste nicht | |
komplett. | |
Hiksch sagt: „Es ist der herrschenden Theorie gelungen, die soziale | |
Marktwirtschaft fest in den Köpfen vieler Arbeiter:innen zu verankern.“ | |
Das sei aber nicht nur ein Erfolg der neoliberalen Dekaden, sondern auch | |
Resultat der Schwäche der Linken. „Die gesellschaftliche Linke konnte in | |
den letzten 30 Jahren im sozialpolitischen Bereich keinen einzigen Erfolg | |
erringen“, sagt Hiksch. Selbst die Hartz-IV-Proteste, der letzte große von | |
links geführte Sozialprotest, seien schließlich gescheitert. | |
Anders als in Frankreich oder Griechenland fehle schlicht das Bewusstsein, | |
dass auf der Straße zu kämpfen tatsächlich zu Verbesserungen führen kann – | |
selbst in der Linken. „Antifa-Gruppen aus Sachsen haben mir erzählt, die | |
Sozialproteste seien das erste Mal gewesen, dass sie überhaupt etwas | |
Produktives nach vorne machen“, berichtet Schwerdtner. Mit dem Problem | |
hängt zusammen, dass die gesellschaftliche Linke offenbar nicht mehr in der | |
Lage ist, die vorhandene Wut über die Zustände zu kanalisieren – was | |
wiederum den Faschisten in die Hände spielt. | |
## Entfernung von den Menschen | |
Gründe dafür seien etwa der fehlende Kampfgeist der Gewerkschaften – aber | |
auch, dass sich die radikale Linke von den „normalen Menschen“ entfernt | |
habe, sagt Hiksch. Tatsächlich sind linke Strukturen oft verschlossen für | |
diejenigen, die sich nicht als privilegiert fühlen und die Dos and Don’ts | |
der Szene beherrschen. Für Demos mobilisiert die radikale Linke häufig | |
hauptsächlich in der eigenen Szene – und beschneidet sich damit selbst. | |
Laut Hiksch seinen zudem viele Großdemonstrationen der vergangenen Jahre – | |
etwa gegen das Freihandelsabkommen TTIP – vom „rot-grünen | |
Bildungsbürgertum“ getragen worden. Dieses sei aber vor dem | |
Querfrontverdacht, den Politiker:innen zu Beginn des Herbstes | |
streuten, zurückgeschreckt. Zudem sehe sich das Milieu häufig von der Ampel | |
politisch repräsentiert. | |
Und so fehlt es der Linken schlicht an einem revolutionären Subjekt. Die | |
Linke verfügt nicht mehr über die nötige Verankerung und Glaubwürdigkeit in | |
der Bevölkerung, um zu großen Sozialprotesten aufzurufen. „Die | |
Beschäftigten sind ja angepisst. Nur ist das, was die gesellschaftliche | |
Linke macht, bisher nicht sehr ansprechend“, sagt Schwerdtner. | |
Das muss aber nicht so bleiben. Anzeichen dafür, dass ein Umdenken | |
eingesetzt hat, gibt es einige. Mit Deutsche Wohnen & Co enteignen ist eine | |
Massenbewegung entstanden, die den Anspruch hat, einen Klassenstandpunkt zu | |
vertreten. Die Berliner Krankenhausbewegung hat indes gezeigt, dass | |
Arbeitskämpfe nicht isoliert geführt werden müssen, sondern die | |
Gesellschaft als Ganzes angehen. | |
Ein Erfolg des lauen Protestherbstes war, dass sich etliche linke | |
Aktivist:innen erstmals intensiv mit der sozialen Frage befasst haben. | |
„Wann gab es denn mal eine Demo, wo Antifagruppen, #IchBinArmutsbetroffene | |
und die Berliner Krankenhausbewegung zusammen auf die Straße gegangen | |
sind?“, fragt Michels vom Umverteilen-Bündnis. Antikapitalismus habe stets | |
„zum Kern“ der gesellschaftlichen Linken gehört, das Bewusstsein, dass die | |
Verteilungsfrage alle Themenbereiche betrifft, sei durch die Proteste aber | |
gestärkt worden. | |
Und so wollen die entstandenen Krisenbündnisse aktiv bleiben, Vorträge | |
halten, sich in Organizing stürzen, sich bereithalten, um zu intervenieren, | |
sollte die Stimmung doch noch einmal hochkochen. | |
Die Sozialproteste im Herbst waren das Zucken einer Linken, die nach vier | |
neoliberalen Dekaden keine Lust mehr hat, sich auf die ewigen Abwehrkämpfe | |
zu beschränken. Ja, der heiße Herbst ist gescheitert, angesichts der | |
gegenwärtigen Schwäche der Linken war von etwas anderem auch gar nicht | |
auszugehen. Doch das Scheitern könnte auch erst der Anfang sein. Es gibt | |
schließlich eine Welt zu gewinnen. | |
30 Dec 2022 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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