| # taz.de -- Prozess gegen Flüchtlingshelfer: Warten auf ein freies Leben | |
| > Wer vor der griechischen Küste Menschenleben rettet, muss mit Anklagen | |
| > und Gefängnis rechnen. So wie Rettungstaucher Sean Binder. | |
| Bild: Empfangen Geflüchtete an der griechischen Künste: Mitglieder des ERC im… | |
| Berlin taz | Sean Binder sitzt in seiner Londoner Wohnung am Küchentisch, | |
| das Licht scheint durchs Fenster auf sein Gesicht, eine schwarze Katze | |
| läuft immer wieder vor die Zoomkamera. „Was ich jetzt mache?“, fragt er. | |
| „Warten. Ich werde jetzt warten.“ | |
| Genau wie in den fünf Jahren zuvor: Warten auf Entlassung aus der Haft, | |
| warten auf die Anklage, [1][warten auf einen Prozesstermin, auf die | |
| Verhandlung, das Urteil]. Aus der Untersuchungshaft wurde Sean Binder 2018 | |
| entlassen, trotzdem kann er bis heute nicht frei über sein Leben bestimmen. | |
| Es geht um ein Verfahren, das „Handlungen kriminalisiert, die Menschenleben | |
| retten“, so beschrieb es am 10. Januar Liz Throssell, die | |
| UN-Menschenrechtsbeauftragte. Da verhandelte ein Gericht auf der | |
| griechischen Ägäisinsel Lesbos zum ersten Mal gegen Binder und 23 weitere | |
| Angeklagte. Sie alle waren aktiv beim Emergency Response Centre (ERC), | |
| einer kleinen griechischen NGO, die es mittlerweile nicht mehr gibt. | |
| Sie halfen Flüchtlingen, die mit Booten nach Lesbos kamen. Die Vorwürfe der | |
| griechischen Staatsanwaltschaft könnten die Aktivist:innen für | |
| Jahrzehnte ins Gefängnis bringen. | |
| ## Unglück an der Küste | |
| Binder hat einen deutschen Pass, wuchs in Irland auf, machte eine | |
| Ausbildung als Rettungstaucher. 2017, er war 21, unterbrach er sein | |
| Studium, um als Freiwilliger nach Griechenland zu gehen. Was er dort tat, | |
| schildert Binder so: | |
| „Jede Nacht verlief gleich. Ich stand auf dem Felsen und schaute auf das | |
| Wasser.“ 16 Kilometer sind es von dieser Stelle an der [2][Südwestspitze | |
| von Lesbos bis zur türkischen Küste]. Um Mitternacht begann Binder seine | |
| Schicht, um 7 Uhr früh endete sie. Er nahm einen Erste-Hilfe-Rucksack mit, | |
| aber das Wichtigste waren seine Ohren: „Die Schmugglerboote haben kein | |
| Licht, und niemand an Bord, der weiß, wie man navigiert. Aber wenn sie sich | |
| der Küste nähern, hört man Schreie.“ | |
| 433 Menschen starben 2018 in der Ägäis. Anders als im zentralen | |
| [3][Mittelmeer, wo die Wege viel weiter sind,] verunglückten viele bei der | |
| Ankunft an der Küste. | |
| „Wenn wir der Meinung waren, dass wir ein Flüchtlingsboot entdeckt hatten, | |
| haben wir die Küstenwache und unser eigenes medizinisches Team alarmiert“, | |
| erklärt Binder. Das ERC hatte ein kleines medizinisches Zentrum im Süden | |
| der Insel errichtet. Von dort rückten die Helfer:innen aus. „Wenn man | |
| erst Hilfe aus der Inselhauptstadt angefordert hätte, hätte das zu lange | |
| gedauert.“ Und so waren die Helfer:innen um Binder schnell vor Ort. Bis | |
| zum 21. August 2018. | |
| An jenem Tag begann die Polizei damit, Mitarbeiter:innen von drei NGOs | |
| auf Lesbos zu verhaften – darunter das ERC. Die NGOs hätten „systematisch | |
| die Überfahrt von Migranten von der Türkei nach Lesbos unterstützt und | |
| diesen so bei der illegalen Einreise nach Griechenland geholfen“. Dabei | |
| hätten sie auch mit organisierten Schleppern zusammengearbeitet, behauptete | |
| die Polizei. | |
| Unter den Verhafteten war auch die ehemalige syrische Leistungsschwimmerin | |
| Sarah Mardini, die mit Binder beim ERC aktiv war. „Ich hatte Glück, mit ihr | |
| verhaftet zu sein“, ist Binder sich sicher. Denn Mardini war damals schon | |
| berühmt – und wurde es seither noch mehr. | |
| ## Netflix-Serie über Mitaktivistin | |
| Sie floh mit ihrer Schwester Yusra im August 2015 über die Türkei nach | |
| Griechenland. Dafür setzten sie sich mit 18 weiteren Flüchtlingen in ein | |
| Schlauchboot. Der Außenbordmotor fiel aus, das überfüllte Boot drohte zu | |
| sinken. Mit weiteren Insassen, die schwimmen konnten, zogen die beiden | |
| Schwestern das Boot über mehrere Stunden bis an das Ufer von Lesbos. | |
| Sarah und Yusra Mardini zogen nach Berlin, trainierten dort weiter, Yusra | |
| war 2016 Teil der Flüchtlingsmannschaft bei Olympischen Spielen in Rio de | |
| Janeiro und 2020 in Tokio. Die Schwestern bekamen Asyl in Deutschland. | |
| Sarah ging im Herbst 2016 nach Lesbos zurück – und engagierte sich dort | |
| beim ERC. | |
| Netflix hat die Geschichte der beiden verfilmt. [4][„Die Schwimmerinnen“ | |
| hatte im September 2022] beim Filmfest von Toronto Premiere, im November | |
| kam der Film in die deutschen Kinos. | |
| „Netflix hat uns die Möglichkeit gegeben, unsere Geschichte auf einer | |
| größeren Plattform zu erzählen“, sagt Binder etwas umständlich. „Das war | |
| eine Möglichkeit, Migration anders zu schildern.“ | |
| Größer schätzt Binder aber den Einfluss von Human Rights Watch und Amnesty | |
| International ein. Die befassten sich intensiv mit dem Fall und starteten | |
| Kampagnen. „Wenn die das nicht gemacht hätten, wären wir immer noch in | |
| U-Haft.“ | |
| Mardini und Binder waren im Korydallos-Gefängnis in Athen gelandet, wo sie | |
| 106 Tage in Untersuchungshaft blieben. Gegen eine Kaution von 5.000 Euro | |
| konnten sie Griechenland verlassen. | |
| Gegen Mardini verfügte Griechenland eine Einreisesperre wegen | |
| „Sicherheitsbedenken“ – zum Verfahren durfte sie nicht kommen. Achtmal hat | |
| sie dagegen Widerspruch einlegen lassen, ohne Erfolg. Gerechtfertigt hätten | |
| die Behörden ihre Entscheidung nie, sagt Binder. „Sehr schmerzhaft“, sei | |
| für Mardini gewesen, dass sie sich nicht selbst verteidigen konnte. | |
| Mardini, die in Berlin lebt, gibt keine Interviews mehr. Ihr Zustand sei | |
| nicht gut, heißt es. | |
| In Griechenland hat die Justiz die Vorwürfe gegen die Helfer:innen in | |
| separate Verfahren aufgeteilt. Eins behandelt Ordnungswidrigkeiten und das | |
| andere Verbrechen. Bei der Verhandlung am 6. Januar waren die | |
| Ordnungswidrigkeiten dran: Fälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, | |
| Spionage. Als Verbrechen werden den 24 Geldwäsche, die Bildung einer | |
| kriminellen Organisation und Beihilfe zu illegalen Einreise vorgeworfen. | |
| Aber die Aufteilung macht stutzig. Praktisch überall auf der Welt ist | |
| Spionage ein schweres Vergehen – hier nur eine Ordnungswidrigkeit? | |
| „Sie haben jetzt einfach die Straftatbestände als Ordnungswidrigkeit | |
| beschleunigt verhandelt, die nach fünf Jahren verjähren“, erklärt Binder. | |
| Das wäre im kommenden Februar passiert. Also musste die Justiz handeln, | |
| nachdem der erste angesetzte Termin im November 2021 wegen Formfehlern | |
| ausgefallen war. | |
| ## Keine Anwaltslizenz für Seenotretter | |
| Am 10. Januar sprach das Gericht die Angeklagten vom Vorwurf der „illegalen | |
| Nutzung von Funkfrequenzen“ frei. Die Vorwürfe der Fälschung und der | |
| Spionage verwies es zurück an die Staatsanwaltschaft. Es gilt als | |
| ausgeschlossen, dass die vor Ablauf der Verjährungsfrist einen neuen | |
| Prozesstermin durchsetzt. „Im Grunde sind diese Dinge fallen gelassen | |
| worden“, sagt Binder. Bleiben die „Verbrechen“. | |
| Für jeden einzelnen Fall der „Beihilfe zur illegalen Einreise“ können bis | |
| zu 20 Jahren Haft verhängt werden – und es geht um Hunderte Fälle. Die | |
| Angeklagten versuchen sich untereinander zu koordinieren, berichtet Binder. | |
| Einfach sei das nicht. Bei rund einem Drittel handelt es sich um | |
| Griech:innen, die im Land geblieben seien. Die anderen sind über viele Orte | |
| verstreut. | |
| Der Fall von Binder und Mardini ist besonders bekannt. Doch die rechtlichen | |
| Verfolgungen humanitärer Helfer:innen häufen sich: „Das feindselige | |
| Umfeld, in dem Menschenrechtsverteidiger in Griechenland arbeiten, gibt | |
| seit mehreren Jahren Anlass zur Sorge“, erklärt die | |
| Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović. Die | |
| Verfolgung von Menschen, die sich solidarisch engagieren, sei „mit den | |
| internationalen Verpflichtungen der Staaten unvereinbar und hat eine | |
| abschreckende Wirkung auf die Menschenrechtsarbeit“, führt sie weiter aus. | |
| „Das Verfahren, die Kampagne, das nimmt mein ganzes Leben in Anspruch“, | |
| sagt Binder. Er würde sich „gern um meine Zukunft kümmern“. Er hat in | |
| London Jura studiert und seinen Abschluss gemacht. Nun will er als Anwalt | |
| arbeiten. Doch das geht nicht. Gegen wen ein Strafverfahren läuft, der | |
| bekommt keine Lizenz. | |
| Binder müsste eine Anhörung beim „Wohlverhaltenskomitee“, der | |
| Schlichtungsstelle des Anwaltsgerichtshofs in London, durchlaufen. „Man hat | |
| mir sehr davon abgeraten“, begründet Binder, dass er das noch nicht hat. | |
| Die Wahrscheinlichkeit sei sehr hoch, dass er danach über Jahre für den | |
| Anwaltsberuf gesperrt sei. | |
| Sicherer sei, einen Freispruch abzuwarten. Er hofft, dass Bewegung in die | |
| Sache kommt, nachdem die „Ordnungswidrigkeiten“ fallen gelassen wurden und | |
| sich der Europarat und die UN zu dem Verfahren geäußert und die Angeklagten | |
| unterstützt haben. Doch ob das den Anwaltsgerichtshof wirklich beeindruckt, | |
| weiß niemand. | |
| So lange heißt es für Sean Binder: warten. Eine Weile arbeitete er in einem | |
| Bioladen, dann bekam er ein Stipendium für ein rechtswissenschaftliches | |
| Forschungsprojekt. Es gibt eine Webseite für die Solidaritätskampagne mit | |
| Binder, Mardini und den anderen Angeklagten. [5][„Free Humanitarians“] | |
| heißt sie, im Impressum steht eine Berliner Adresse. Die in Kreuzberg | |
| ansässige NGO Borderline Europe steht dahinter. „Sie kümmern sich um die | |
| Spendensammlung“, erläutert Binder. „Das ist viel besser, als wenn wir in | |
| eigener Sache selber Geld sammeln würden.“ | |
| Bis 2038 kann sich die Justiz Zeit lassen. Erst dann verjähren auch die | |
| übrigen Vorwürfe. Aber bisher ist unklar, ob und wann. „Hoffentlich | |
| passiert das vor 2038“, wünscht sich Binder. Die Verfahren so zu | |
| verschleppen, wie es schon jetzt geschehen sei, hält er für eine | |
| „Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien.“ | |
| 30 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Prozess-gegen-Fluechtlingsaktivistinnen/!5812517 | |
| [2] /Migrations--und-Asylpolitik-der-EU/!5880241 | |
| [3] /Flucht-ueber-das-Mittelmeer/!5904481 | |
| [4] /Netflix-Film-Die-Schwimmerinnen/!5898486 | |
| [5] https://www.freehumanitarians.org/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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