# taz.de -- Menschenrechtsverein gibt auf: Nicht helfen und nicht helfen lassen | |
> Der Verein Mare Liberum hat Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Nun | |
> gab er seine Auflösung bekannt. Repression verunmögliche die Arbeit. | |
Bild: Aktivist:innen von Mare Liberum üben Seenotrettung | |
Am Montag gaben sie auf: Mare Liberum, ein Berliner Verein zur | |
[1][Menschenrechtsbeobachtung in der Ägäis, gab seine Auflösung bekannt]. | |
Die Arbeit ist den jungen Aktivist:innen nicht ausgegangen: | |
Griechenland ist eines der EU-Länder, die vor allem seit 2020 offen [2][auf | |
massenhafte Pushbacks von Flüchtenden setzen] – illegal, mit Gewalt, | |
bisweilen tödlich. Dass darüber heute so viel bekannt ist, ist auch das | |
Verdienst von NGOs wie Mare Liberum, deren Freiwillige es sich 2018 zur | |
Aufgabe gemacht hatten, diese Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. | |
Es waren, so schreiben sie nun, die „zunehmende Repression“ und die | |
„Gesetzgebung der rechts-konservativen Regierung“, die ihre Arbeit | |
unmöglich gemacht hätten. Um die Sicherheit der Aktiven nicht zu gefährden, | |
sehe sich der Verein gezwungen, seine Arbeit einzustellen. | |
Einschüchterungen, Auslaufverbote, eine „Festhalteverfügung“, das Schiff | |
wurde gestürmt, durchsucht, Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet – lange | |
habe man trotz solcher Angriffe weitergemacht. Jetzt nicht mehr: „In | |
Griechenland ist nun jedoch eine neue Ebene erreicht und lässt uns keinen | |
Handlungsspielraum mehr.“ | |
Flucht und Migration sind heute immer öfter begleitet von Gewalt, | |
Entrechtung und Tod. Und wer darauf aufmerksam macht, lebt gefährlich: | |
Migrant Defenders, die die Verletzung von Menschenrechten dokumentieren und | |
Notleidende unterstützen, geraten vielerorts ins Visier eines globalen | |
Systems, das darauf abzielt, Mobilität von Menschen mit Gewalt zu | |
kontrollieren – so wie die Aktivist:innen von Mare Liberum. Vom | |
sogenannten „Shrinking Space“, dem schrumpfenden Handlungsspielraum der | |
Zivilgesellschaft, sind deshalb jene immer öfter betroffen, die die | |
Entrechtung Migrierender anklagen oder die mit praktischer Solidarität das | |
Vakuum füllen, das Staaten bei deren Versorgung lassen. | |
Von rechtlichen oder räumlichen Beschränkungen ihres Handelns über | |
Diffamierungskampagnen bis hin zu Gefängnisstrafen und angedrohter Gewalt | |
werden heute viele Facetten politischer Repression gegen jene angewandt, | |
die sich an die Seite von Geflüchteten und Migrant:innen stellen. Sogar | |
Selbstverständlichkeiten wie das Verteilen von Wasser oder Essen, | |
Rechtsberatung oder die Rettung aus Seenot werden heute teils | |
strafrechtlich verfolgt. Die Kriminalisierung der Migrant Defenders ist | |
heute zu einem zentralen Baustein in einer auf Abwehr ausgerichteten | |
Migrationspolitik geworden. | |
## Migration und globale Ungleichheit | |
Dieses Vorgehen steht in engem Zusammenhang mit globalen Verteilungs- und | |
Gerechtigkeitsfragen. Migration ist auch Ausdruck globaler Ungleichheit – | |
Menschen versuchen, am Wohlstand teilzuhaben, der ihnen vorenthalten wird, | |
und in Sicherheit zu leben. Und der Globale Norden versucht, ebendies zu | |
verhindern – obwohl er immer stärker auf Zuwanderung angewiesen ist. Der | |
wachsende Einfluss autoritärer und extrem rechter Akteure hat die teils | |
militärische Abriegelung der Zielländer vor Migrant:innen und | |
Flüchtlingen in den vergangenen Jahren noch verschärft. | |
Die Angriffe auf die Helfer:innen erschweren ihr Engagement, zermürben | |
bisweilen psychisch und zerstören wirtschaftliche Existenzen. Sie bringen | |
ganz neue Erfordernisse für den Schutz der eigenen Arbeit, der | |
Kommunikation und der Mitarbeitenden mit sich. Sie absorbieren knappe | |
Ressourcen für die Arbeit. Teils müssen NGOs schließen oder ihre Arbeit | |
stark einschränken – worunter jene leiden, die auf ihre Hilfe angewiesen | |
sind. | |
Zu beobachten ist all dies nicht nur in autokratischen Staaten, deren | |
Regime ihre Macht mit Menschenrechtsbrüchen zu erhalten versuchen, sondern | |
teils auch in Demokratien. Denn auch diese wollen keine Zeug:innen, wenn | |
sie Flüchtlinge entrechten. | |
Die Repression gegen Flüchtlingshelfer:innen ist dabei bisher kaum | |
systematisch erfasst. [3][Anklagen, Verhaftungen, Ermittlungsverfahren oder | |
der Entzug von Akkreditierungen] werden nirgendwo zentral dokumentiert. In | |
mühsamer Kleinarbeit versuchen einzelne NGOs, ein Bild dieser Vorgänge zu | |
zeichnen. Mehr als ein Schlaglicht ist dies aber nicht. Hinzu kommt, dass | |
in autoritären Staaten viele aus Angst vor Repressalien scheuen, Angriffe | |
öffentlich zu machen. Die UN sprechen deshalb von „Secret Defenders“. | |
Die gute Nachricht ist trotz alldem, dass die Repression bislang wenig | |
Erfolg hatte: Die Netzwerke antirassistischer Solidaritätsarbeit sind in | |
den vergangenen Jahren stark gewachsen, haben sich professionalisiert und | |
verstetigt. Dort, wo einzelne Akteure aufgeben oder aufgeben müssen, | |
entstehen meist schnell neue. Das beste Beispiel ist die Seenotrettung im | |
Mittelmeer: Obwohl die NGOs dort seit Jahren mit Repressalien bis hin zu | |
Anklagen und Beschlagnahmen der Schiffe zu kämpfen haben, umfasst die | |
Flotte der Retter:innen heute mehr und modernere Schiffe denn je. | |
Hinweis: Der Autor hat den Jahresschwerpunkt zur Repression gegen „Migrant | |
Defenders“ im neuen „Atlas der Zivilgesellschaft“ 2023 geschrieben, den | |
Brot für die Welt am Mittwoch vorgestellt hat. Diesen kann man [4][auf der | |
Website der NGO runterladen]. | |
3 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Menschenrechtsverein-gibt-auf/!5931483 | |
[2] /Medien-Recherche-ueber-Pushbacks/!5910063 | |
[3] /Prozess-gegen-Fluechtlingshelfer/!5909162 | |
[4] https://www.brot-fuer-die-welt.de/themen/atlas-der-zivilgesellschaft/ | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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