# taz.de -- Migrations- und Asylpolitik der EU: Freiheitsentzug als Programm | |
> 2020 brannte das griechische Flüchtlingslager Moria ab. Die EU versprach | |
> einen Neustart und ließ neue Camps bauen. Wie leben die Ankommenden dort? | |
SAMOS/ LESBOS Alles hier ist grau. Das Grau hat so viele Schattierungen wie | |
im Frühling das Grün des Waldes: mehliggrau ist der staubige Schotter auf | |
dem Boden, bleigrau die Zaunmasten mit dem Klingendraht, mausgrau die | |
Zelte, ICE-grau die Wohncontainer und Klimaanlagen. Das Grau spiegelt sich | |
hell in den Sonnenbrillen der Polizisten, die in engen T-Shirts in | |
schattigen Ecken stehen, die Schlagstöcke am Gürtel. Private | |
Sicherheitsleute laufen herum, sie tragen weiße Hemden, kugelsichere | |
Westen, Pistolen im Holster. Sie arbeiten für G4S, einen britischen | |
Sicherheitskonzern. Rund um die Uhr bewachen sie das Registrierungszentrum | |
RIC auf einer Landzunge im Osten der Insel Lesbos. | |
Auf einer Bank sitzen zwei junge Afrikaner. Drei Männer in Zivil stehen vor | |
ihnen. „Wann bist du gekommen? Selbes Boot?“, fragt einer auf Englisch. Die | |
beiden verstehen ihn nicht. | |
1.500 Menschen wie diese jungen Geflüchteten leben heute im | |
Registrierungszentrum, das auf einem alten Schießplatz der Armee errichtet | |
wurde. Genau zwei Jahre ist es her, dass nur wenige Kilometer entfernt | |
Moria abgebrannt ist – ein von der EU bezahltes, damals zum Bersten | |
überfülltes Flüchtlingscamp, das einer Mischung aus Slum und Straflager | |
glich, voller Ratten, Krankheiten und Gewalt. | |
Der Brand fiel just in die Zeit, als Kommissionspräsidentin Ursula von der | |
Leyen versprach, alles anders zu machen. Damals stellte sie ihren „Asyl- | |
und Migrationspakt“ vor. „Unser altes System funktioniert nicht mehr, wir | |
brauchen einen neuen Start“, sagte sie. | |
Ihr Plan: Alle Menschen, die in der EU ankommen, sollen binnen fünf Tagen | |
erfasst und durchgecheckt werden. Wer aus einem Land stammt, aus dem | |
weniger als ein Fünftel der Asylanträge Erfolg hat, kommt in ein | |
beschleunigtes Prozedere in neue Lager an den EU-Außengrenzen. Nach drei | |
Monaten sollte jedes Verfahren beendet sein. Die Idee hatte das deutsche | |
Innenministerium, als es noch von Horst Seehofer geführt wurde. | |
## Taskforce in Brüssel | |
Um das abgebrannte Lager Moria sollte sich eine Taskforce in Brüssel | |
kümmern. Auf Lesbos sollte ein „Modellprojekt für ein neues Kapitel des | |
Migrationsmanagements“ entstehen, wo die Ideen der Kommission Anwendung | |
finden. Griechenland habe einem „gemeinsamen Pilotprojekt“ zugestimmt, | |
sagte von der Leyen damals. Entstanden ist auf diese Weise das RIC | |
(Reception and Identification Centre). | |
Dimitrios Kantemnidis leitet das Lager seit Mai. Er trägt ein | |
Helly-Hansen-T-Shirt und eine ockerfarbene Hose, seinen Container teilt er | |
sich mit zwei Assistenten. An der Wand hängt ein Plakat gegen | |
Menschenhandel. Die Fee Tinkerbell aus dem Märchen Peter Pan fliegt aus | |
einem zerberstenden Käfig. „Break the Chains“ steht darauf. Durch die | |
Gitterstäbe vor dem Fenster leuchtet das Meer. | |
Kantemnidis war zuvor Soldat. Er stammt aus Lesbos, war 20 Jahre bei der | |
Marine, erst auf See, dann in der Zentrale in Athen. „Gut organisiert“ sei | |
hier alles, ganz anders als in Moria, sagt er. | |
Sein Handy klingelt. „Mein aktuelles Projekt“, sagt er nach dem Gespräch | |
und deutet auf das Telefon. Kinder aus dem Lager sollen die Inselschule | |
besuchen dürfen. Das wünsche er „mit all meiner Kraft“. | |
Die Hälfte der Lagerbewohner stammt aus Afghanistan, rund ein Viertel aus | |
Somalia. Jeder hier werde versorgt, versichert Kantemnidis. „Als Erstes | |
fragen wir: Bist du okay? Bist du krank?“ Ärzte, Psychologen, | |
Sozialarbeiter kümmerten sich um die Ankommenden. | |
Er schildert die Aufnahmeprozedur wie den ersten Tag in einer Kurklinik. | |
Doch bei der Registrierung geht es vor allem darum zu prüfen, welchen | |
Schutzanspruch jemand hat. Wer aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan | |
oder Bangladesch stammt und über die Türkei eingereist ist, wird in der | |
Regel nicht mehr zum normalen Asylverfahren zugelassen. Das Prinzip | |
entspricht dem, was von der Leyen angekündigt hatte. Doch weil ihr | |
„Asylpakt“ bisher keine Mehrheit findet, setzt Griechenland das Konzept | |
einstweilen leicht modifiziert in Eigenregie um und hat die Türkei-Klausel | |
eingeführt. | |
## Mehr als die Hälfte wird abgelehnt | |
Im einstigen Lager Moria warteten die Menschen teils Jahre auf ihr | |
Asylinterview. „Zwei Wochen bis ein Monat“, sagt Kantemnidis, dann liege | |
jetzt die Entscheidung vor. Wer anerkannt wird, könnte nach wenigen Tagen | |
aufs Festland reisen. Doch weit über die Hälfte der Bewerber:innen | |
werden abgelehnt oder gar nicht zugelassen. Widerspruch dagegen ist | |
möglich. „Das kann sehr lange dauern“, sagt Kantemnidis. | |
„Dann bleibt man in einem der Hunderten von Containern, die vom Hersteller | |
als „Iso-Boxen“ verkauft werden und dicht an dicht auf dem Lagergelände | |
stehen. Jeder soll acht Menschen Platz bieten.“Eine Cateringfirma verteilt | |
mittags Essen an drei Ausgabestellen. Dazu gibt es 75 Euro pro Erwachsenem | |
und Monat, aber nur, solange das Asylverfahren läuft. Nach der ersten | |
Ablehnung wird das Geld gestrichen. | |
Hilfsorganisationen betreiben einen Kindergarten und eine Bibliothek. 23 | |
NGOs sind im Lager registriert, rund hundert auf der Insel, auf der heute | |
rund 2.000 Flüchtlinge leben. Griechenland hat seit 2015 mehr | |
internationale Hilfe je aufgenommenen Flüchtling bekommen als jedes andere | |
Land auf der Welt. Doch die Lebensbedingungen waren lange so elend, dass | |
sie private Hilfe im Übermaß mobilisierten. Wenn sie Glück haben, gestattet | |
der Staat den Helfer:innen heute, das zu tun, was er selbst nicht | |
leistet. | |
Merhawit Hailu hat aus einer alten Kiste einen Käfig gebaut. Er ist auf | |
einer Seite offen, trotzdem steht ein Rabe darin. Sein Flügel war verletzt, | |
Hailu hat ihn gepflegt. Vor vielen Jahren verließ die junge Frau Eritrea, | |
aus Angst vor dem obligatorischen Militärdienst. Ihre Tochter ist sieben, | |
geboren im Libanon. 2021 kamen die beiden auf einem Boot hierher. Zusammen | |
bewohnen sie eine der Iso-Boxen. Drinnen sind Betten, Matratzen, ein | |
Kocher, Kosmetikartikel. Auf dem Boden stapeln sich die schwarzen | |
Plastikboxen, in denen das Essen geliefert wird. In der Hitze wölbt sich | |
der Deckel. | |
„Geschenkt oder vom Müll“, sagt Hailu, seien die meisten Dinge in ihrem | |
Container. Sie wartet auf ihren Asylentscheid. „Ich bin müde“, sagt sie. | |
„Aber ich will Arbeit.“ Am liebsten in Athen. Aus dem Lager möchte sie weg, | |
sobald es geht. Vor allem wegen ihrer Tochter. „Manche der Männer hier | |
fassen sie an.“ | |
Es kommen weniger 10.500 neue Flüchtlinge und Migrant:innen hat | |
Griechenland seit Anfang des Jahres registriert, rund 3.000 davon kamen auf | |
den Inseln Lesbos und Samos an. Im Vergleich zu den Vorjahren ist das ein | |
niedriger Wert. Anfang September sagte Migrationsminister Notis Mitarachi, | |
Griechenland habe seit Januar 150.000 Menschen „am Grenzübertritt | |
gehindert“. Seit Jahren schlagen Menschenrechtsorganisationen Alarm, weil | |
bei den Pushbacks Gewalt eingesetzt, Flüchtlinge auf See zurückgeschickt | |
oder gar ins Meer gestoßen werden. Mehrfach wurde Frontex-Einheiten eine | |
Beteiligung nachgewiesen. In Mitilini, der Inselhauptstadt von Lesbos, | |
fahren am Abend polnische Grenzschüzer mit ihren Jeeps über die | |
Hafenpromenade und kaufen Souvlaki. Sie sind als Teil der Frontex-Mission | |
hier. | |
Lagerchef Dimitrios Kantemnidis war bis Januar 2022 Teil der nationalen | |
Marineführung. „Ich weiß darüber nichts. Was draußen passiert, ist jensei… | |
meines Mandats“, sagt er. | |
In den USA hat er einen Master in Politikwissenschaft gemacht, am | |
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungskolleg in Brüssel, einer | |
EU-Militärakademie, promoviert er. Wie der Klimawandel Krisen und | |
Flüchtlingswellen nach sich zieht – das ist sein Forschungsthema. „Da bin | |
ich hier gleich im Feld, habe ich gedacht.“ Im Januar will er in Brüssel | |
seine Promotion verteidigen. | |
„Der Klimawandel trifft erst die Verletzlichen und dann die entwickelten | |
Länder, das ist eine unleugbare Tatsache“, sagt er. Das werde viel mehr | |
Menschen zur Flucht drängen als heute, etwa aus Ländern wie Bangladesch. | |
Die EU müsse „nicht nur reaktiv, sondern proaktiv“ damit umgehen. „Die | |
Migration muss in den Herkunftsländern reguliert werden. Es geht um den | |
Startpunkt.“ | |
Doch einstweilen ist es Griechenland, wo die EU ihr Migrationsproblem | |
regulieren will. 276 Millionen Euro gab die EU deshalb aus, um fünf so | |
genannte Closed Controlled Access Center auf den Ägäis-Inseln zu errichten. | |
Eins davon entsteht auf Lesbos. Die Baustelle liegt im Innern der Insel, | |
auf einem Berg, neben der Mülldeponie. Fast 30 Kilometer, die Hälfte davon | |
Schotterpiste, sind es von dort zur Inselhauptstadt. | |
## Nur eine Übergangslösung | |
Wenn in den kommenden Monaten das neue Lager fertig ist, wird das RIC | |
geschlossen, es diente nur als Übergangslösung. Das neue Camp dürfen die | |
Menschen nicht mehr einfach verlassen. „Gefängnisartig“ sei es, sagt | |
Amnesty International. | |
Dimitrios Kantemnidis wird auch das neue Lager leiten. | |
Funktioniert das bestehende, offene Camp nicht? | |
„Doch“, sagt Kantemnidis. „Es funktioniert gut, so wie es im Moment läuf… | |
Ich komme ja auch von hier aus Lesbos, es gibt keine Spannungen.“ | |
Warum dann zukünftig die Internierung? | |
„Das liegt jenseits meiner Entscheidung“, sagt Kantemnidis. Die Regierung | |
habe dies „mithilfe der EU entschieden“. | |
## Sogar Betten werden gefilmt | |
Hundert Kilometer südlich, auf der Ägäis-Insel Samos, ist man schon weiter. | |
Hier hat im September 2021 das erste der Closed Controlled Access Center | |
eröffnet. Es ähnelt, man kann es nicht anders sagen, Guantánamo. | |
Schnellverfahren, Zulässigkeitsprüfungen, Freiheitsentzug – das ist das | |
Programm. | |
Die NGO „Frag den Staat“ hat EU-Dokumente zum Sicherheitskonzept einsehen | |
können. Tag und Nacht patrouillieren Polizist:innen, Drohnen überwachen aus | |
der Luft das Gelände, das mit einer doppelten Reihe Nato-Draht umzäunt ist. | |
Die Kamerabilder werden in einem Lagezentrum in einer ehemaligen | |
Zigarettenfabrik in Piräus überwacht. Als das Kontrollzentrum zeitgleich | |
mit dem Camp auf Samos eröffnet wird, twittert Migrationsminister Mitarachi | |
ein Bild aus dem Inneren. Darauf ist zu sehen, dass selbst Betten in Samos | |
gefilmt werden. | |
Jetzt, ein Jahr später, ist das Camp auf Samos zu einem Drittel gefüllt. | |
Sicherheitsleute in kugelsicheren Westen sitzen auf einsamen weißen | |
Wachtürmen wie Bademeister an einem verlassenen Strand. Schatten gibt es | |
fast nirgends. Ein Lageplan am Eingang zeigt farbige Sektoren. Rot für die | |
Afrikaner, Blau für die Afghanen, Grün für die Araber. Unbegleitete | |
Minderjährige haben einen eigenen Trakt. Wer rein oder raus will, muss | |
seinen Finger auf einen Scanner halten. Wessen Asylantrag läuft, der darf | |
von 9 bis 21 Uhr raus. Wer abgelehnt wurde, für den bleibt das stählerne | |
Drehkreuz zu. | |
Im Eingangsbereich sind Röntgenschleusen aufgebaut. „Eigentlich genau wie | |
am Flughafen“, sagt Dimitris Axiotis. Seine Erscheinung will nicht recht | |
zur Umgebung passen. Er trägt Jeans, rosafarbenes Polohemd, bis zum | |
untersten Knopf offen, und erinnert an den Wirt einer kleinen Taverne. Er | |
stammt aus einem Dorf in der Nähe des Inselflughafens. Genau wie sein | |
Kollege Kantemnidis auf Lesbos war auch er Armeeoffizier. 2017 ging er in | |
Pension. „Ich fühlte mich nutzlos“, sagt er. Also ließ er sich zurückhol… | |
als ein Manager für das neue Camp gesucht wurde. | |
Axiotis’ Golf-Caddie hat braune Ledersitze, ein Digitaldisplay im | |
Armaturenbrett. „Wir machen eine Tour“, sagt er. Teer und Beton sind frisch | |
und makellos. Die Container haben Klimaanlage, W-LAN und Kühlschrank. Es | |
gibt Kinderspielplätze, eine Kantine. Drinnen riecht es nach neuem Plastik | |
und Klebstoff. Keine Menschenseele ist in Sicht. „Vielleicht machen wir | |
diesen Teil nächsten Monat auf“, sagt Axiotis. | |
## Niedrige Ankunftszahlen | |
Bislang ist das nicht nötig. Die Ankunftszahlen sind niedrig. Immer mehr | |
Bootsflüchtlinge versuchen, Griechenland zu umschiffen. Die Lager haben | |
abschreckende Wirkung. Erst vergangene Woche starben bei einem | |
Schiffsunglück im Mittelmeer 94 Syrer:innen auf dem Weg von Libanon nach | |
Italien. | |
Der EU-Türkei-Deal sah vor, alle Ankommenden auf den Ägäis-Inseln | |
festzuhalten. Als Axiotis die Leitung des alten Camps auf Samos 2020 | |
übernahm, hausten dort 7.500 Menschen, nicht mal ein Viertel hatte dort | |
offiziell Platz. „Chaos und Kriminalität herrschten“, sagt Axiotis, Brände | |
drohten. „Es gab viel Müll, Ratten, Krankheiten. Jeder konnte rein und | |
raus, auch über Nacht. Es gab keine Sicherheit, vor allem für die | |
alleinstehenden Frauen nicht.“ | |
Überall sind auf Samos heute Kameras, Lautsprecher angebracht. „Wir müssen | |
sehen, ob es Kämpfe gibt.“ All das bringe „mehr Sicherheit“, sagt Axioti… | |
Das sei vor allem im Interesse der Untergebrachten. „Die müssen wir | |
schützen.“ | |
## In Beton gegossene Architektur | |
Doch die Sicherheit, die Axiotis der Verwahrlosung in den alten Camps | |
entgegensetzt, ist mit einem völligen Entzug von Autonomie erkauft. Im | |
neuen Lager ist buchstäblich alles in Beton gegossen. Wer hier sein muss, | |
verliert jeden Einfluss auf seine Lebensumstände. An die Stelle der Angst | |
vor Gewalt und Elend in den alten Lagern tritt die Angst vor einem Apparat, | |
von dessen Übermacht die Architektur hier überall kündet. | |
Kyriaki Michailidou leitet den Einsatz der NGO International Rescue | |
Committee (IRC) auf Lesbos. „Die Afghanen haben das Gefühl, im Gefängnis zu | |
leben“, sagt sie. Das Gefühl der Unfreiheit führe dazu, dass rund die | |
Hälfte der vom IRC befragten Afghanen in den Lagern auf den Ägäis-Inseln | |
„Symptome von Suizidalität“ zeigten. 97 Prozent hätten Anzeichen von | |
Depression, ausgelöst durch die Isolation. „Sie haben große Angst, was mit | |
ihnen passiert, dass sie in völlig geschlossene Zentren kommen, | |
abgeschnitten von der Außenwelt. Oder dass sie in die Türkei | |
zurückgeschickt werden.“ | |
Axiotis setzt die Tour über die nagelneue Teerstraße fort. Die Entscheidung | |
sei spätestens nach drei Monaten da, sagt er. „Dann können sie hin, wohin | |
sie wollen.“ Und die Abgelehnten? Wer abgelehnt wird, kommt in einen | |
Internierungstrakt, sagt er. Axiotis zeigt zu einem Bereich mit Containern. | |
„Alles dort ist gleich. Nur ein höherer Zaun.“ Der Internierungstrakt | |
untersteht nicht ihm, sondern direkt der Polizei. | |
Der Golf-Caddie erreicht die Südspitze des Geländes, das hoch in den Bergen | |
liegt. Der Blick reicht tief nach unten, bis aufs Meer. „Wollt ihr davon | |
nicht ein Foto machen?“, fragt er. | |
2018 hat Médicins sans Frontìères (MSF – Ärzte ohne Grenzen) seine | |
Stationen in den griechischen Lagern geschlossen – aus Protest. Zu eklatant | |
waren die Menschenrechtsverstöße. An diesem Morgen aber ist eine mobile | |
Klinik von MSF im Lager in Samos in Betrieb. Menschen stehen Schlange, | |
warten auf eine Untersuchung. „Seit dem 24. Februar gibt es keinen Arzt | |
mehr im Lager von Samos“, sagt eine Sprecherin von MSF Griechenland. | |
„Deshalb haben wir entschieden, dreimal pro Woche ein Team in das Camp zu | |
schicken.“ | |
43 Millionen Euro hat die EU allein für das Lager in Samos ausgegeben. Für | |
einen Arzt hat es offenbar nicht gereicht. | |
## Nach Herkunftsregion getrennt | |
Axiotis verabschiedet sich. „Tom wird euch weiter führen“, sagt er. Tom | |
heißt sein Assistent. Er trägt eine Uniform mit einem Polohemd des | |
Migratonsministeriums und grüßt sehr freundlich. „Was wollt ihr sehen?“ | |
Dann schlendert er zwischen den Containern umher. „Derzeit haben wir hier | |
keine Flüchtlinge“, sagt er. „Die, die kommen, kommen wegen Geld. Wegen der | |
Arbeit. Die suchen ein besseres Leben.“ Was er meint: Es seien | |
Wirtschaftsmigrant:innen. Aus Gambia kämen gerade viele. Es habe Kämpfe im | |
Lager gegeben. Um diese zu verhindern, lebten die Flüchtlinge nach | |
Herkunftsregion getrennt. „Aber für uns sind trotzdem alle gleich. Wir sind | |
alle Menschen.“ | |
Man hat ja gesehen, wie es in den alten Lagern aussah, sagt Tom. Die 2019 | |
ins Amt gekommene konservative Regierung habe „ein neues 2015“ gefürchtet | |
und darauf besser vorbereitet sein wollen. Deshalb, glaubt Tom, gebe es die | |
neuen Lager. „Die Türkei hat Millionen Menschen aufgenommen und sie schickt | |
uns welche, wenn sie mehr Geld von der EU will.“ | |
Er bittet eine junge Mitarbeiterin, einen Bewohner zu suchen, der zu einem | |
Gespräch bereit ist. Sie klopft am Container B105. Tom und sie bleiben | |
draußen, die Tür offen. Drinnen sitzt Assef Chaker, 53, ein Palästinenser | |
aus dem Libanon. Am 27. Juni ist er aus der Türkei gekommen. Manchmal helfe | |
er beim Übersetzen. „Ich habe hier ein Bett und kann zum Arzt gehen, aber | |
das Leben besteht aus Rumsitzen.“ Der Bus in die acht Kilometer entfernte | |
Stadt kostet 3,20 Euro. Das könne er nicht bezahlen. | |
75 Euro stehen ihm während des Asylverfahrens pro Monat zu, das erste Mal | |
habe er das Geld nach fast drei Monaten ausgezahlt gekriegt. Über den Sinn | |
der extremen Sicherheitsmaßnahmen könne er nur mutmaßen. Es sei „etwas | |
belastend, aber vielleicht müssen sie das machen. Wenn sie es nicht machen, | |
gibt es vielleicht keinen Frieden. Man darf keine Messer reinbringen, das | |
ist sehr gut. Sonst gibt es vielleicht Messerstechereien. Es ist eine gute | |
und gleichzeitig etwas schlechte Idee.“ | |
Tom kommt herein. Chaker sieht ihn an und sagt, dass ein syrischer Freund | |
ihm von Moria berichtet habe. Keine Klimaanlage, keine Heizung, schlafen im | |
Wald. Im Vergleich dazu sei „dieses Camp das Paradies“. Entspannt müsste | |
man hier sein, meint Chaker. „Es sind ja nur ein paar Monate.“ | |
„Wir tun unser Bestes“, sagt Tom. | |
„Und Griechenland ist ein armes Land“, sagt Chaker und nimmt einen Schluck | |
Tee. Dann schweigt er. | |
„Entschuldigung, dass ich euch unterbrochen habe“, sagt Tom und legt Chaker | |
die Hand auf die Schulter. Dann geht er wieder vor die Tür. | |
„Ich glaube, sie tun das Beste, was sie tun können“, sagt Chaker. | |
Er will in Griechenland bleiben, wenn er Arbeit findet. „Das Wetter ist | |
schön hier, nicht wie in Finnland, da ist es immer kalt.“ | |
Anfang August hatte er sein Asyl-Interview. Über Lautsprecher wurde er | |
gerufen, per Video befragt, von einem Asyl-Entscheider auf der Nachbarinsel | |
Chios. Fünf Stunden hat es gedauert. | |
Es gibt ein Terminal, wo die Flüchtlinge ihre Karten einscannen können. | |
„Dann sieht man, ob es eine Entscheidung gibt“, sagt Chaker. Irgendwann | |
demnächst wird es so weit sein. | |
28 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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