| # taz.de -- Geflüchtetenkrise auf Lesbos: Nur ein Freispruch zählt | |
| > Eine Afghanin zündet sich in einem griechischen Geflüchtetenlager selbst | |
| > an. Das Urteil fällt mild aus – doch die Verteidigung will in Berufung | |
| > gehen. | |
| Bild: Das Flüchtlingslager Kara Tepe 2020 auf der griechischen Insel Lesbos | |
| Athen taz | Am Mittwoch wurde die heute 28-jährige Afghanin M.M. von einem | |
| Gericht auf Lesbos zu 15 Monaten Haft mit drei Jahren Bewährung verurteilt. | |
| Zuvor hatten ihr 10 Jahre Haft gedroht. Die junge Frau hatte sich am 21. | |
| Februar 2021 im Flüchtlingscamp Kara Tepe auf Lesbos in ihrem Zelt, Nummer | |
| 959, ein paar herumliegende Plastiktüten gegriffen, die Tüten mit einem | |
| Feuerzeug angezündet und sich damit selbst in Brand gesteckt, um ihrem | |
| Leben ein Ende zu setzen. | |
| Zuvor hatte sie geglaubt, ihre größte Hoffnung, die Ausreise nach | |
| Deutschland, sei geplatzt. Laut Angaben aus Athener Ministeriumskreisen war | |
| dies jedoch ein tragisches „Missverständnis“, wie Medien damals | |
| berichteten. Man habe die Frau, damals hochschwanger, nur darum gebeten, | |
| sich bis zur Geburt ihres vierten Kindes in Griechenland zu gedulden, bevor | |
| sie nach Deutschland dürfe. Fest steht: Die Frau sah wohl nur noch einen | |
| Ausweg: sterben. Sofort. | |
| Die Frau gehört zur [1][Minderheit der Hazara], die in Afghanistan von den | |
| Taliban wegen ihres schiitischen Glaubens als Ungläubige gebrandmarkt und | |
| daher chronisch verfolgt werden. Sie war mit ihrem Mann und ihren Kindern | |
| im Dezember 2019 über die Türkei nach Lesbos geflüchtet. Ein gutes halbes | |
| Jahr später erhielten sie einen positiven Asylbescheid. Doch die Familie | |
| konnte die Insel in der Ostägäis, obgleich als Flüchtlinge anerkannt, wegen | |
| des coronabedingten Reiseverbots nicht verlassen. Sie saßen – unter | |
| menschenunwürdigen Bedingungen – auf dem Eiland fest. | |
| Nach dem Feuerinferno im berüchtigten [2][„Höllen“-Camp Moria auf Lesbos] | |
| wurde M.M. und ihre Familie in das damals völlig überfüllte Lager Kara Tepe | |
| gebracht. Auch dort herrschten katastrophale Zustände: Sie hausten direkt | |
| am Meer in einem Zelt, das im Winter vor der klirrenden Kälte und dem | |
| starken Wind kaum Schutz bot. Überall herrschte Mangel: zu wenig | |
| Trinkwasser, kaum Toiletten und Duschen, kaum Ärzte oder psychologische | |
| Hilfe, dazu noch schlechtes Essen. | |
| ## „Vorsätzliche Brandstiftung“ | |
| M.M. trieb das wohl alles zur Verzweiflung – das wird zumindest über sie | |
| berichtet. Als ihr Mann ein paar Meter weiter gerade die Toilette | |
| aufsuchte, zündete sie sich an. Sie hatte Glück im Unglück. Bewohner | |
| benachbarter Zelte zogen sie aus ihrem Zelt und löschten das Feuer mit | |
| Wasserflaschen und Handtüchern, bevor die Feuerwehr eintraf. Unmittelbar | |
| danach wurde die Frau mit Brandverletzungen am ganzen Körper ins | |
| Krankenhaus gebracht. | |
| Suizidversuch hin, Verletzungen her: die griechischen Strafbehörden gingen | |
| gegen sie vor. M.M. wurde wegen „vorsätzlicher Brandstiftung, die zu einer | |
| Gefährdung anderer Personen und von Eigentum führte“ und „Beschädigung v… | |
| öffentlichem Eigentum durch Feuer“ angeklagt. Ferner versah man sie mit der | |
| Auflage, Griechenland nicht zu verlassen. | |
| Ihre Anwälte von der auf Lesbos ansässigen [3][Nichtregierungsorganisation | |
| HIAS] schafften es, das Ausreiseverbot zu kippen. Sie konnte mit ihrer | |
| Familie nach Deutschland ziehen. Einzige Bedingung: einmal im Monat beim | |
| nächstgelegenen griechischen Konsulat erscheinen. | |
| In Griechenland drohte ihr weiter eine happige Haftstrafe. Die ihr zur Last | |
| gelegte Straftat – vorsätzliche Brandstiftung mit Gefährdung von Personen �… | |
| wird laut dem Paragraphen 264b des griechischen Strafgesetzbuches mit einer | |
| Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet. | |
| ## Mandantin habe nur sich selbst Schaden wollen | |
| Im Strafprozess betonten ihre Anwälte, das Feuer habe sich nicht | |
| großflächig im Lager Kara Tepe ausgebreitet und sei leicht zu löschen | |
| gewesen, ohne andere Personen zu gefährden. Obendrein habe ihre Mandantin | |
| nicht mit böswilliger Absicht gehandelt, sondern sich nur selbst schaden | |
| wollen. | |
| Nun fällte das Gericht auf Lesbos in erster Instanz sein Urteil in dieser | |
| spektakulären Causa: 15 Monate statt zehn Jahre Haftstrafe. Sie hätten M.M. | |
| unmittelbar nach der Urteilsverkündung davon in Kenntnis gesetzt, sagten | |
| die HIAS-Anwälte Efi Dousi und Vassilis Kerasiotis am Mittwochabend, kurz | |
| nach dem Urteil, am Telefon der taz. Ihre Mandantin habe darauf | |
| „erleichtert“ reagiert. | |
| Doch die beiden HIAS-Anwälte wollen mehr, wie sie der taz gegenüber | |
| versichern: den Freispruch. Das Urteil sei zwar „ein Sieg“, weil das | |
| Gericht die schweren Vorwürfe, die Frau habe ein Verbrechen begangen, | |
| fallengelassen habe. Doch: „Ein ungerechtes Urteil ist schlimmer als eine | |
| Verurteilung“, erklären sie. „Diese Frau hat nichts Strafbares getan. Sie | |
| hat sich umbringen wollen. Dafür kann man keinen Menschen bestrafen. | |
| Deswegen gehen wir in die Berufung.“ | |
| Ihr viertes Kind brachte M.M. kurz nach ihrem Suizidversuch noch in | |
| Griechenland zur Welt. Ein Junge, er ist wohlauf. Mit ihrem Mann und ihren | |
| Kindern lebt sie heute in Berlin. Bei der griechischen Botschaft braucht | |
| sie ab sofort nicht mehr vorstellig zu werden. | |
| 9 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Hilfsarbeiterin-ueber-Fluechtlinge-in-Iran/!5815065 | |
| [2] /Migrations--und-Asylpolitik-der-EU/!5880241 | |
| [3] https://hias.org/where/greece/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ferry Batzoglou | |
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