# taz.de -- Hilfsarbeiterin über Flüchtlinge in Iran: „4.000 bis 5.000 Afgh… | |
> Tausende Afghanen fliehen weiter nach Iran. Was passieren muss, damit das | |
> Land die Grenze offen lässt, erklärt Laila Matar von der | |
> Hilfsorganisation NRC. | |
Bild: Geflüchtete am Grenzübergang zum Iran bei Dowqarun am 29. August 2021 | |
Frau Matar, Ihre Organisation hat Irans Politik gegenüber afghanischen | |
Geflüchteten als „eine der integrativsten Flüchtlingspolitiken der Welt“ | |
[1][gelobt]. Warum? | |
Laila Matar: Iran nimmt seit über 30 Jahren eine große Zahl von | |
Flüchtlingen auf. Fast vier Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan leben in | |
dem Land. Das geht auf die Sowjet-Ära in Afghanistan zurück, als viele | |
Afghanen nach Iran kamen, und hat sich fortgesetzt. Man hat ihnen Zugang | |
zum Gesundheits- und Bildungssystem verschafft. Viele Kinder sitzen Seite | |
an Seite mit Iranern in der Schule. | |
## Gilt das auch für die Neuankömmlinge? | |
Seit der [2][Machtübernahme der Taliban] kommen täglich 4.000 bis 5.000 | |
Afghanen nach Iran, die meisten auf informellem Weg. Daher lässt sich noch | |
nicht sagen, wie sich das entwickeln wird. | |
Die [3][Türkei baut eine Mauer im Osten], um sich vor afghanischen | |
Flüchtlingen zu schützen, die über Iran das Land erreichen. Wie sieht die | |
Grenze zwischen Afghanistan und Iran aus? | |
Sie ist relativ durchlässig. Flüchtlinge reisen zu Tausenden über | |
informelle Grenzübergänge ein. | |
Im Gegensatz zu Ihnen hat die UN-Migrationsbehörde erklärt, dass dieses | |
Jahr mehr als eine Million Afghanen aus Iran nach Afghanistan zurückgekehrt | |
seien. Die meisten seien abgeschoben worden. Allein in der letzten | |
Oktoberwoche wurden [4][mehr als 28.000 Afghanen zurückgeschickt]. Einige | |
berichteten, zuvor in überfüllten Lagern festgehalten und geschlagen worden | |
zu sein. | |
Es ist richtig, dass Hunderttausende zurückgeschickt wurden. Deshalb | |
appellieren wir an die internationale Gemeinschaft, Iran die Aufnahme | |
vieler weiterer Flüchtlinge zu ermöglichen. Wir können nicht erwarten, dass | |
Iran die Grenzen offen hält und weitere Flüchtlinge aufnimmt, wenn es | |
bereits Millionen aufgenommen hat und die Unterstützung für | |
Hilfsorganisationen in Iran so begrenzt ist. | |
Müssen Mittel für Iran nicht an Bedingungen geknüpft werden? | |
Wir fordern nicht mehr Mittel für Iran, sondern für lokale | |
Hilfsorganisationen und internationale Organisationen in Iran, die bereit | |
sind, ihre Arbeit vor Ort auszubauen. Der Iran-Anteil des UN-Aufrufs zur | |
Unterstützung der Nachbarländer ist nur zu 32 Prozent finanziert. Wir haben | |
also eine hundertprozentige Krise, die nur zu 32 Prozent finanziert ist. | |
Dabei gibt es Möglichkeiten, den Akteuren an vorderster Front, die sich | |
direkt für die Flüchtlinge einsetzen, Unterstützung zukommen zu lassen. | |
Sie haben letzte Woche die Flüchtlingslager in Iran besucht. Warum fliehen | |
die Menschen aus Afghanistan? | |
Erstens wegen des [5][völligen Wirtschaftszusammenbruchs und der | |
Liquiditätskrise]. Der Preis für Weizen hat sich seit Juni um 25 Prozent | |
verteuert, während die Löhne für Gelegenheitsarbeiter um 37 Prozent | |
zurückgegangen sind. Beschäftigte im Gesundheitswesen, Lehrer und Ärzte | |
werden nicht bezahlt. Meine eigene Organisation war nicht in der Lage, | |
unseren 1.600 Mitarbeitern im Land, von denen die meisten Afghanen sind, | |
die Gehälter zu zahlen. Als Hilfsorganisationen haben wir Mühe, Geld ins | |
Land zu bekommen, und selbst wenn das gelingt, ist es schwierig, es von den | |
Banken zu bekommen. Mehr als 50 Prozent der Afghanen sind von | |
Nahrungsunsicherheit betroffen und es droht eine Hungersnot. Afghanistan | |
ist ein Land, in dem im Winter Temperaturen unter Null herrschen. Wenn wir | |
keine Initiative ergreifen, riskieren wir fatale Folgen. Viele Regierungen | |
haben jahrelang massiv militärisch in Afghanistan investiert. Jetzt müssen | |
sie ähnliche Investitionen tätigen. | |
Und zweitens? | |
Der zweite Grund ist Diskriminierung. Viele derjenigen, die flüchten, | |
gehören der schiitischen Minderheiten der Hazara oder den Tadschiken an, | |
die in Afghanistan Gewalt und Diskriminierung erfahren haben. | |
Ist Iran Ziel oder nur Zwischenstation für geflüchtete Afghanen? | |
Beides. Früher sind viele Afghanen zwischen Afghanistan und Iran hin- und | |
hergependelt. Jetzt sind sie in Iran, um zu bleiben. Wir hören aber auch, | |
dass sich viele Familien auf den Weg nach Europa machen wollen. Deshalb | |
fordern wir drei Maßnahmen: Erstens, eine dringende Finanzspritze für Hilfe | |
in Afghanistan, zweitens Unterstützung für die Nachbarländer, um denen zu | |
helfen, die unweigerlich Millionen von Menschen aufnehmen werden, und | |
drittens muss Europa es schaffen, den wenigen Flüchtlingen an seinen | |
Grenzen Asyl zu gewähren. | |
Sie sprechen von der [6][Situation an der belarussisch-polnischen Grenze]? | |
Es ist schockierend, dass Europa nicht mit ein paar tausend Flüchtlingen | |
fertig wird, während wir von Ländern wie Iran erwarten, dass sie die | |
gleiche Anzahl jeden Tag aufnehmen. Es ist eine sehr hässliche Tatsache, | |
dass Belarus Flüchtlinge als politisches Druckmittel einsetzt. | |
Nichtsdestotrotz hat Polen internationale Verpflichtungen, denjenigen, die | |
nach internationalem Recht Anspruch darauf haben, sicheres Geleit und Asyl | |
zu gewähren. | |
15 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nrc.no/news/2021/november/humanitarian-needs-in-iran-rise-as-30… | |
[2] /Nach-dem-Abzug-aus-Afghanistan/!5805987 | |
[3] /Afghaninnen-in-der-Tuerkei/!5808996 | |
[4] https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/iran-deports-thousands-afghan-… | |
[5] /Wirtschaftliche-Lage-in-Afghanistan/!5809410 | |
[6] /Schwerpunkt-Krisenherd-Belarus/!t5719665 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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