# taz.de -- Menschen auf der Flucht: Weder Druckmittel noch Handelsware | |
> Die Flüchtenden an der belarussisch-polnischen Grenze werden als eine Art | |
> biopolitische Waffe benutzt. Die EU hat vergessen, dass sie es mit echten | |
> Menschen zu tun hat. | |
Bild: Flüchtende an der polnisch-belarussischen Grenze und ein ehrenamtlicher … | |
Flüchtende sind kein Druckmittel, mit dem man andere bedrohen kann. Wir | |
sind keine Handelsware, mit dem man seine Menschlichkeit messen kann. Die | |
Politik hat vergessen, vielleicht schon seit mehreren Jahren, dass es | |
MENSCHEN sind, die sich an den ach-so-souveränen Grenzen Europas reiben. | |
Vielleicht war die Politik sich dessen nie bewusst – wirft man einen Blick | |
auf die griechischen Inseln, liegt dieser Eindruck nahe. | |
Mit der [1][Türkei hat die EU damals einen guten Deal] für sich selbst | |
gemacht, als sie einige Milliarden Euro an Erdoğan zahlte, um uns | |
zurückzuhalten. Das hat für etwa drei oder vier Jahre funktioniert, und die | |
Mitte- und Rechtsparteien haben darüber lange Zeit gejubelt. Jetzt aber ist | |
es anders. | |
Die Art und Weise, wie die EU die wenigen Tausend Migranten behandelt, die | |
derzeit an der [2][polnisch-belarussischen Grenze] festsitzen, wirkt wie | |
eine sehr deutliche Drohung und Bedrohung. Als seien diese Migranten bis an | |
die Zähne mit kulturellen Minen und ideologischen Raketen bewaffnet, die | |
das glorreiche westliche sozioökonomische Bergmassiv erschüttern werden. | |
Polen und Deutschland rüsten ihre Grenzen auf und überwachen sie, um nicht | |
noch mehr von uns hereinzulassen. | |
Sie wollen damit einen Racheplan [3][Putins und Lukaschenkos] vereiteln. | |
Dieser Plan besteht darin, Geflüchtete in die EU zu schleusen. Als seien | |
die Kriege in Syrien, Irak, Jemen, Libyen, Afghanistan oder anderswo auf | |
der Welt schon vorbei! Als gäbe es keine Gründe mehr für Massenflucht! Sie | |
dürfen nicht vergessen, dass wir nicht verschwunden sind, nur weil Sie eine | |
Weile nichts von uns gehört haben – unsere Verhältnisse haben sich nicht | |
verändert. | |
Wenn wir nicht an euren Grenzen sterben, sterben wir anderswo unter | |
Diktatur und Hunger. Das Problem ist: Wir werden so behandelt, als wären | |
wir so oder so fast tot und die Hilfe, die uns angeboten wird, wird als | |
Großzügigkeit verstanden. Das ist aber eine weitere Ebene der | |
Entmenschlichung, die nicht einmal die Tatsache berücksichtigt, dass es | |
sich hier in erster Linie um Menschen handelt, die vor Krieg und Ausbeutung | |
geflohen sind, Menschen mit individuellen Motiven und Kämpfen. | |
## Als wären wir schon fast tot | |
Es handelt sich also um Lebewesen, die Traumata erfahren haben und nun hier | |
erneut bis in den Tod traumatisiert und gefoltert werden. Wir werden jetzt | |
nicht nur als Geflüchtete behandelt, auch nicht nur als eine wirkliche | |
Seuche, die entweder verborgen oder bekämpft werden muss, sondern als | |
biopolitische und bioökonomische Waffe, die von außen auf Europa gerichtet | |
ist. Dies hat schwerwiegende Folgen. | |
The Guardian berichtete, dass Polen den Ausnahmezustand über seine Grenzen | |
verhängt hat, ein Grenzregime, das sich schon vollständig militarisiert | |
hat, um unbewaffnete, unterernährte, schlaf-, wärme-, und hilflose, fast | |
nackte Menschen von der Einreise abzuhalten. Deutschland, nach Horst | |
Seehofer, ist völlig bereit, dabei zu sein. Es sei eine europäische | |
Pflicht, die Grenzen aufzurüsten. | |
„Natürlich nicht mit Schusswaffengebrauch, aber mit den anderen | |
Möglichkeiten, die es ja auch gibt“, sagte Seehofer. Und dann heißt es, | |
Belarus solle aufhören, das Leben von Menschen in Gefahr zu bringen? Ist | |
das ernst gemeint? Diejenigen, die Menschen in Not die Durchreise gewähren, | |
bringen ihr Leben in Gefahr? Nicht diejenigen, die sie draußen sterben | |
lassen? Auch nicht diejenigen, die sie zu geschlossenen Grenzen drängen? | |
Dann muss sich die EU wirklich als eine unmenschliche Institution begreifen | |
– oder man kann das auch anders verstehen: Wer sich in einem | |
Ausnahmezustand befindet, wird entmenschlicht—in diesem Fall, wer nicht | |
Europäer:in ist (was das auch immer bedeuten soll), ist kein Mensch und | |
daher unwürdig. So ist es, ob es uns komplett bewusst ist oder nicht: Mit | |
diesen Tatsachen lebt jede*r Flüchtende. | |
[4][Mbembe] nannte das Nekropolitik, und dies ist eines ihrer | |
unverblümtesten Gesichter. Die Nekropolitik ist die Ausübung der höchsten | |
Befugnisse, über die ein souveränes Land oder eine Union verfügt. Sie | |
bedeutet, dass Deals und Geschäfte über die Verletzlichkeit und | |
Sterblichkeit von Menschen, die in einen Ausnahmezustand versetzt werden, | |
gemacht werden dürfen. | |
Für einen geflüchteten Menschen beginnt der Ausnahmezustand oft schon in | |
ihren Heimatländern, da der Ausnahmezustand das beste politische Mittel für | |
eine Regierung ist, ohne Rechenschaftspflicht zu handeln und alle Arten von | |
Gräueltaten zu begehen. In Syrien zum Beispiel bedeutet das willkürliche | |
Verhaftung und gewaltsames Verschwindenlassen von normalen Bürgern aus | |
ihrem Alltag. | |
In Polen bedeutet das eine erzwungene Rückführung von Einreisenden, ohne | |
sie über ihr Ziel zu informieren sowie ein Blackout der Medien. Ausgenommen | |
aus der Sphäre der Menschenrechte zu sein bedeutet, dass es keine Regierung | |
oder offizielle Behörde gibt, die für den geflüchteten Menschen kämpft. | |
Wenn er oder sie getötet oder ausgebeutet wird, wird diese Tötung und | |
Misshandlung problemlos legal. | |
## Missbrauch als biopolitische Waffe | |
Das hört nicht auf, wenn eine Grenze überschritten wird, es endet nicht mit | |
einem Antrag oder einem Dach über dem Kopf. Wir bleiben darin, bis wir | |
sterben oder eine andere Staatsangehörigkeit erhalten. Dennoch, innerhalb | |
dieses ganzen Spektrums der Sterblichkeit, in dem wir leben, ist das, was | |
die EU jetzt vorschlägt, die hässlichste Seite und die näheste zum vollen | |
Tod. | |
Ich weiß nicht, was schlimmer ist – die Tatsache, dass wir als | |
biopolitische und bioökonomische Waffe gegen die EU eingesetzt werden; dass | |
die EU lieber Ressourcen spart, um uns draußen zu halten, anstatt uns als | |
Menschen zu behandeln; oder dass wir nirgendwo anders legal hin dürfen. Das | |
Problem ist immer vielfach. Jetzt ist es noch komplizierter geworden: Wenn | |
man als bioökonomische Waffe benutzt wird, infiziert das den ganzen Diskurs | |
darüber. | |
Aktivist*innen werden zu Verbrecher*innen, Helfer*innen werden zum | |
Menschenhändler*innen, Geflüchtete herein zu lassen wird zu einem Anschlag | |
oder einer Gefahr – einer Gefahr, für die Europa bereit zu sein scheint, in | |
einen Krieg zu ziehen, jetzt, nachdem sie nochmal ihre souveränen Muskeln | |
spielen lässt. Sind Sie bereit, in einen Krieg zu ziehen? Wenn nicht, | |
erheben Sie bitte die Stimme und schreien: KEIN DRUCKMITTEL! KEINE | |
HANDELSWARE! | |
15 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gespraeche-der-EU-mit-Erdogan/!5235291 | |
[2] /Belarussisch-polnische-Grenze/!5810742 | |
[3] /Belarus-die-Gefluechteten-und-die-EU/!5812777 | |
[4] /Essai-dAchille-Mbembe/!5684629 | |
## AUTOREN | |
Sam Zamrik | |
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