# taz.de -- Politische Beziehungen zu Russland: „Russophobie führt nirgendwo… | |
> Orlando Figes ist Russland-Historiker und kein Putin-Freund. Es gebe es | |
> keine Alternative zum Dialog, sagt er dennoch. | |
Bild: Destabilisierung als traditionelle russische Politik: Ukrainische Separat… | |
taz: Herr Figes, Sie widmen einen Teil Ihres neuen Buches „Hundert Jahre | |
Revolution“ dem vorrevolutionären Russland. Die Konstellation damals | |
erinnert an heute: ein nach außen militärisch auftrumpfendes Land, das | |
innerlich fragil ist. Sehen Sie Ähnlichkeiten zu der aktuellen Situation? | |
Orlando Figes: Durchaus. Aber es gibt wesentliche Unterschiede. Russland | |
war damals eine wachsende Macht, eine sehr dynamische Gesellschaft, die auf | |
bestimmte Weise in Europa eingebunden war. Das sehe ich heute nicht. | |
Russlands Macht schrumpft, seine Wirtschaft oder Gesellschaft ist nicht | |
dynamisch, sondern das Gegenteil davon. Und es dreht Europa den Rücken zu. | |
Es nähert sich Asien an. | |
Ja, Russland scheint auf eine Eurasische Union hinzusteuern, das ist Teil | |
des Ukrainekonflikts. Ideologisch lehnt seine Führung westliche Werte ab. | |
Das ist eine Art Rückkehr zu der Sowjetära in dem Sinn, als es alles | |
ablehnt, was nach 1991 passiert ist, es plädiert für eine Rückkehr zur | |
russischen Tradition und bindet das Erbe der Sowjetzeit positiv ein. | |
Wladimir Putins Popularität erklärt sich teilweise daher, dass viele Russen | |
den Westen negativ sehen. | |
Spielt da ein Unterlegenheitsgefühl herein? | |
Nein. Indem Putin das Sowjeterbe für sich beansprucht, häuft er moralisches | |
Kapital an und ermöglicht es zugleich den Russen, sich wegen ihrer | |
Geschichte gut zu fühlen. Jeder über 40-Jährige hat eine sowjetische Schule | |
besucht. Sie haben eine positive Sicht auf diese Zeit. Sie wissen wenig | |
über das Ausmaß oder den Charakter der Massenunterdrückung. Selbst wenn sie | |
aus Familien kommen, die unter den Repressionen gelitten haben. Das ist | |
nichts, worüber viel geredet wurde. Als die Medien in den Glasnostjahren | |
anfingen, darüber zu reden, wie düster diese Geschichte ist, fühlten sich | |
viele Russen unbehaglich, wo sie doch eine positive Sicht hatten. Ihre | |
Familien hatten doch über die ganzen Entbehrungen berichtet, die | |
Repressionen und die Opfer, die sie gebracht hatten, um die Sowjetunion | |
groß zu machen. | |
Und dann brach die große Sowjetunion zusammen. | |
Was in den 1990er Jahren passiert ist, war eine Art Demütigung für sie. Der | |
Verlust eines Reichs, eines ökonomischen Systems, für viele auch der | |
sozialen Sicherheit. Und ein Verlust ihrer Geschichte in dem Sinne, dass | |
sie ja mit dieser Auffassung der sowjetischen Geschichte groß geworden | |
sind. Und dann wird diese plötzlich in Abrede gestellt – auch noch durch | |
Ausländer, die ihnen westliche Werte beibringen wollen. | |
Müssen wir denn an der Art und Weise, wie wir auf Russland schauen, etwas | |
ändern? | |
Wir wollten, dass Russland wie der Westen wird. Und viele dachten, es würde | |
wie der Westen. Das rührt daher, dass wir das politische Potenzial der | |
westlich orientierten russischen Intellektuellen überschätzt haben, und die | |
haben sich selbst überschätzt. Sie dachten, sie hätten Einfluss oder würden | |
jemanden repräsentieren, aber sie repräsentieren nur sich selbst. | |
Haben Sie als Historiker die jetzige Entwicklung und Krise vorhergesehen? | |
Der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat geschrieben, er hätte | |
in der Vergangenheit zu sehr auf Russland geschaut und die Ukraine wäre | |
quasi Terra incognita für ihn gewesen. | |
Da ist was Wahres dran. Viele Historiker, die sich mit der alten | |
Sowjetunion beschäftigt haben, haben die Macht des russischen Nationalismus | |
unterschätzt. Die Frage, was in der Ukraine passiert, war immer heikel. | |
Nicht nur wegen der geopolitischen Implikationen, sondern weil Putin nervös | |
war, dass es auch in Russland Massenproteste geben könnte, wie es sie in | |
der orangen Revolution in der Ukraine gab. Zu einem großen Teil geht es bei | |
Putins Politik darum, was in Russland geschieht. Die geopolitische | |
Situation hat er im Griff. Er hat in der Ukraine bekommen, was er wollte. | |
Ich glaube nicht, dass er viel mehr dort will. Er will die Ukraine zu einem | |
dysfunktionalen Staat machen. | |
Das ist ihm gelungen. | |
Das ist traditionelle russische Politik, mit dem Osmanischen Reich im 19. | |
Jahrhundert sind sie genauso verfahren. Möglichst schwache Nachbarn haben, | |
um die westlichen Mächte auf Abstand zu halten. Darum geht es. Diesen Kampf | |
wird Putin immer gewinnen. Weil die Nato keine Truppen in die Ukraine | |
schicken wird, und die ukrainische Armee erbärmlich schwach ist. Mit seiner | |
Angriffspolitik will er sicherstellen, dass es in Moskau keinen zweiten | |
Maidan gibt. | |
Sie haben in einer Diskussion gesagt, Europa sollte den Dialog mit Russland | |
suchen. | |
Es gibt keine Alternative dazu. | |
Wie kann man einen Dialog etablieren, der auf Augenhöhe stattfindet und | |
nicht als Schwäche ausgelegt wird? | |
Man kann der Meinung sein, dass Russland nur auf Stärke reagiert; aber das | |
dürfte die Situation weiter eskalieren lassen. Denn Putin weiß nur zu gut, | |
dass der Westen keinerlei Absicht hegt, Truppen zu entsenden. Das ist eine | |
hohle Drohgebärde und führt nur zu einem politischen, moralischen Debakel. | |
Der einzig gangbare Weg ist, zu versuchen, eine neue Form des Dialogs zu | |
etablieren – ohne dabei Prinzipien aufzugeben. Die Annexion der Krim ist in | |
jeder Hinsicht inakzeptabel. | |
Worüber soll man dann reden? | |
Es gibt andere Themen – Beispiel Krim. Die Situation der Krimtataren ist | |
besorgniserregend. Sie haben Angst vor den Repressionen der Russen, sie | |
fühlen sich im Stich gelassen von den Ukrainern und vom Westen. Man könnte | |
mit ihnen anfangen. Man sucht ein drittes Thema, über das man mit den | |
Russen diskutieren kann, so dass sie kooperieren können. | |
Wird Putin dämonisiert? Auch im Westen leben alte Muster des Kalten Krieges | |
wieder auf. | |
Ja. Ich bin bestimmt kein Freund von Putin, für mich stellt er eine | |
Bedrohung westlicher Werte dar. Aber wir tun uns keinen Gefallen, wenn man | |
Russophobie unser Verständnis von Russland, unsere Erwartungen an Russland | |
überlagern lässt. Das habe ich in meinem Buch über den Krimkrieg im 19. | |
Jahrhundert aufzugreifen versucht – die Russophobie ist älter als der Kalte | |
Krieg, sie wurde ein Teil davon, aber sie ist Teil eines europäischen | |
Diskurses, wer wir sind als Europäer. Die Russen sind Asiaten, Hunnen, | |
Dämonen, sie sind nicht wir. Die Ukrainer sind nett, die Russen schlecht. | |
Im 19. Jahrhundert waren die Polen nett, die Russen schlecht. Das ist ein | |
vereinfachender Diskurs, der nirgendwo hinführt und niemandem nützt. | |
Sie schreiben im Vorwort zu Ihrem neuen Buch, das vor 2014 entstanden ist, | |
Russland sei zwar aggressiv, aber nicht auf Expansion in Europa aus. Was | |
für eine Aggression meinen Sie damit: Selbstverteidigung? | |
Es handelt sich durchaus um Aggression, zum Teil um eine nationalistische | |
Aggression, wie man an den Freiwilligen sieht, die die Grenze zur Ukraine | |
überqueren. Das ist keine Selbstverteidigung, die Russen werden ja nicht | |
angegriffen. Es ist ein vorbeugender Krieg. Die Ukraine soll nicht Teil der | |
Nato werden. Oder Teil des Westens. Ich sehe Russland nicht als | |
expansionistische, sondern als schwache Macht, die eine wahnsinnige Angst | |
davor hat, von der Nato umzingelt zu werden. Es fühlt sich politisch | |
bedroht – von den demokratischen Bewegungen wie der orangen Revolution, die | |
eine Revolution in Moskau anstacheln könnten. | |
Sie haben in Ihrem Buch „Die Flüsterer“ über die Stalinzeit mit | |
Zeitzeugenberichten gearbeitet. Hat das Ihren Blick auf die russische | |
Gesellschaft verändert? | |
Ja, fundamental. Ich habe mich als Historiker zuerst mit der russischen | |
Bauernschaft beschäftigt. Und ich habe später Leute interviewt oder ihre | |
Berichte gelesen, die auch nicht zur russischen Intelligenzklasse gehört | |
haben. Es half, ihre Mentalität nachvollziehen: Sie waren entwurzelt, | |
unterdrückt, unfähig zu verstehen, was mit ihnen geschah, aber sie haben | |
sich völlig mit dem sowjetischen Projekt identifiziert. Das vermittelt | |
einem ein Gefühl für eine andere Kultur, das war für mein Verständnis von | |
Russland sehr wichtig. | |
Können Sie in weiterhin in Russland arbeiten? | |
Ich kann problemlos in die Archive gehen. Aber im Moment arbeite ich an | |
etwas anderem. Ich habe acht Bücher über Russland geschrieben, ich finde, | |
das ist genug. | |
Mögen Sie Russland? | |
Schon. Obwohl es ein ziemlich deprimierender Ort im Moment ist. Mein | |
Vertrauen in seine kreativen Fähigkeiten wird – wie soll ich sagen – | |
ziemlich auf die Probe gestellt. Aber ich habe große Sympathien für | |
Russland: als ein Volk, als eine Nation – nicht für das Regime von Putin. | |
Es ist eine traumatisierte Nation. | |
14 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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