| # taz.de -- Debatte Nationalstaat: Ein Gespenst namens Nation | |
| > Pegida ist der Ausdruck eines nationalistisch-chauvinistischen Protestes. | |
| > Aber nicht neu: Die nationale Identität wird periodisch aufgerufen. | |
| Bild: Haben alle eine Fahne. Pegida-Demonstranten in Dresden | |
| Mit der These, beim Nationalsozialismus handle es sich um eine | |
| „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, löste der Historiker Ernst Nolte | |
| 1986 vor fast dreißig Jahren den Historikerstreit aus. Natürlich gibt es | |
| gar keine Vergangenheit, die irgendetwas will. | |
| Die Vergangenheit ist so wenig ein handelndes Subjekt wie die Zukunft. | |
| Geschichte hat auch keinen Fahrplan - es sind Nachgeborene, die sich | |
| erinnern oder vergessen und verdrängen wollen, und Zeitgenossen, die die | |
| Zukunft gestalten möchten. | |
| Viele in diesem Land wollen die Nazi-Vergangenheit vergessen, aber an | |
| Nation und nationaler Identität ungebrochen festhalten. Daraus erklären | |
| sich die periodischen Wiederbelebungsversuche an Nation und | |
| Nationalbewusstsein seit der Gründung der Sozialistischen Reichspartei | |
| (1949) über die NPD (1964), die DVU (1971) bis zu den Republikanern (1983), | |
| Pro NRW (2007) und Pegida (2014). | |
| Reanimation und Rehabilitation von Nation und Nationalbewusstsein gingen | |
| auch 1989 Hand in Hand. Seither werden politische Kontroversen über | |
| Asylbewerber, Einwanderer, Flüchtlinge, Sicherheitsfragen, die | |
| demographische Entwicklung und die Finanzierung von Sozial- und | |
| Rentenversicherung, aber auch über „islamistische“ Bedrohungen immer | |
| begleitet von Debatten über Nation und „nationale Identität“. | |
| ## Anschluss vor 26 Jahren | |
| 1989 stand das Land vor der Alternative: nationalstaatliche Erweiterung | |
| durch Anschluss der DDR beziehungsweise „Wiedervereinigung“ oder | |
| staatsbürgerlich-republikanische Neugründung. Mit der Entscheidung für die | |
| erste Lösung rückte die Nation ins Zentrum, und zwar mit der widerlichen | |
| Konsequenz, dass schnell Häuser und Wohnungen von Menschen brannten, die | |
| nach dem frisch erweckten Nationalbewusstsein nicht „zu uns gehören“ - im | |
| Westen wie im Osten. | |
| Einmal mehr erwies sich auferstandenes Nationalgefühl als | |
| Brandbeschleuniger gegen Ausländer und Fremde. Pegida ist die letzte Form | |
| dieses nationalistisch-chauvinistisch imprägnierten Protests. | |
| In großen Teilen der Presse von FAZ bis Bild stieß die Sehnsucht der | |
| Pegida-Deutschen nach einer historisch unbefleckten Nation nicht auf | |
| Kritik, sondern wurde als quasi „normale“ Reaktion der von „Ausländerflu… | |
| „Terror“, „Islamisten“, „Jobverlust“ verunsicherten Bürger verharm… | |
| Intellektuelle und moralische Verbiesterung sind die Signatur der Debatten | |
| über Nation und Nationalbewusstsein seit 1989. Damals fiel eben nicht nur | |
| die Mauer, sondern mancherorts auch der Respekt davor, populäre nationale | |
| Ressentiments zu zügeln und geschichtliche Verantwortung gegenüber | |
| nationalsozialistischen Verbrechen zu pflegen. | |
| ## Verengte Interpretationen | |
| Eine staatsbürgerlich-republikanische Neugründung hätte nicht nationale | |
| Ressentiments und Phantome wiederbelebt, wie nationale Blutsverwandtschaft, | |
| geburtsrechtliche Privilegien und andere naturalistisch grundierte | |
| Ladenhüter aus dem trübe gewordenen Wortumfeld „Volk“, sondern einen | |
| rechtlich und kulturell begründeten Patriotismus, wie ihn etwa der aus | |
| Palästina stammende Berliner SPD-Politiker Raed Saleh vertritt. | |
| Frei nach Gustav Heinemann verdient nicht Deutschland oder der Staat unsere | |
| Liebe oder Anerkennung, sondern unsere Rechtsordnung, die „ein entspanntes | |
| demokratisches Miteinander von Religion und Staat“ (Saleh) garantiert sowie | |
| das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft. | |
| In diesem Sinne plädiert Saleh für Stolz auf einen rechtspolitischen | |
| Fortschritt sondergleichen - die Anerkennung der doppelten | |
| Staatsbürgerschaft durch die rot-grüne Regierung. Trotzdem möchte Saleh am | |
| Begriff „nationale Identität“ festhalten und sie „nicht durch Ausgrenzun… | |
| sondern positiv“ definieren. Wie das funktionieren soll, verriet er nicht. | |
| Das nahm der Historiker Peter Brandt zum Anlass für ebenso bemerkenswerte | |
| wie grundsätzliche Hinweise. Er beschäftigt sich seit den 80er Jahren mit | |
| Problemen der Nation und des Nationalstaats und rückte dabei vom | |
| hermetischen, nur verengende Interpretationen befördernden Begriff | |
| „nationale Identität“ mit guten Gründen ab. | |
| ## Rettungsringe für Nationen | |
| Brandt spricht - als linker Sozialdemokrat - vom „nationalen | |
| Selbstverständnis eines schwierigen Vaterlandes“ und sieht sich deshalb | |
| seit Jahren von politisch verwirrten, sektiererischen Linken als „Vertreter | |
| nationalrevolutionären Denkens“ und verkappter „Völkischer“ diffamiert. | |
| Die 1989 verpasste staatsbürgerlich-republikanische Neugründung des Landes | |
| auf der Basis eines Grundgesetzes, das den realen sozialen Verhältnissen | |
| entsprochen hätte, ist 26 Jahre danach nicht nachzuholen. Brandt sieht in | |
| den Nationalstaaten europäischen Typs weder Rettungsringe für Nationen noch | |
| Bremsklötze gegen die voranschreitende politische und soziale Integration | |
| Europas. | |
| Nationalstaaten und EU sind wechselseitig aufeinander angewiesen. | |
| Nationalstaatliche Alleingänge führen in imperiale Abgründe oder - in einer | |
| weitgehend globalisierten Wirtschaft - in wirtschaftliche Verelendung. | |
| ## Demokratisierung der EU | |
| Aus vielen Gründen, vor allem historischen und kulturellen, ist eine | |
| „Nation Europa“ beziehungsweise ein homogenisiertes europäisches Volk, das | |
| sich nach US-amerikanischem Vorbild als Bundesstaat verkleiden würde, weder | |
| absehbar noch erwünscht. Aber die europäische Integration ist angewiesen | |
| auf zivilisierte, also national abgerüstete „National“-Staaten, die sich | |
| als Fundamente von realen und nicht von eingebildeten „Kommunikations-, | |
| Kultur- und Bewusstseinsgemeinschaften“ (Brandt) verstehen. | |
| Deren damit verbundenen Souveränitätsverluste müssen allerdings kompensiert | |
| werden durch eine Parlamentarisierung und Demokratisierung der | |
| EU-Institutionen, wenn diese bei den Citoyens als legitim und nicht als | |
| bevormundende Bürokratie gelten wollen. | |
| Es ist genau diese nüchterne, aufgeklärt-kritische Sicht auf abgerüstete | |
| „Nationalstaaten“, die die Pegida-Deutschen provoziert und ihr | |
| besinnungsloses, nationales Gestammel erzeugt. Die abstrakt-negatorische | |
| Polemik gegen alles Nationalstaatliche von links ist nur das Spiegelbild | |
| dieses Gestammels von rechts. | |
| 16 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Walther | |
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