| # taz.de -- Netflix-Doku über Fußballgigant Pelé: Tore für die Diktatur | |
| > In der Netflix-Doku „Pelé“ zeichnen Ben Nicholas und David Tryhorn den | |
| > Fußballgiganten als politisch ambivalente Persönlichkeit – mit tollem | |
| > Material. | |
| Bild: Zum Glück darf man auch seinem Spiel folgen in „Pelé“ | |
| Keine Frage: Die Ballkunst, die der überlebensgroße Pelé in seiner großen | |
| Zeit aufs Feld gebracht hat, wird jedem Fußballfan noch heute ein Lächeln | |
| auf die Lippen zaubern. Wegen seiner Dribblings, seines | |
| Spielverständnisses, seiner Ballbehandlung, seiner Volleyabnahmen und | |
| seiner Intuition, kurz: wegen seiner universellen Fähigkeiten auf dem Platz | |
| zählt er bis heute zu den absoluten Giganten seines Sports. Der | |
| italienische Dichter Pier Paolo Pasolini hat von einer „poetischen | |
| Spielweise“ gesprochen, als er die Seleção zu Pelés Zeiten | |
| charakterisierte. | |
| In dem derzeit auf Netflix zu sehenden Dokumentarfilm „Pelé“ darf man auch | |
| diese unwiderstehlichen Momente bewundern, mindestens genauso rückt die | |
| Produktion von Ben Nicholas und David Tryhorn aber die fragwürdige Figur | |
| Pelé jenseits des Spielfelds in den Fokus. Es geht dabei vor allem um seine | |
| Haltung gegenüber der Militärdiktatur, die von 1964 an Brasilien bestimmte | |
| und von 1968 an mit grausamster Brutalität gegen Oppositionelle vorging. | |
| Als Pelé zur Hochphase der Miltärjunta, im November 1969, das 1.000. Tor | |
| seiner Karriere schoss und damit eine Rekordmarke knackte, ließ er sich | |
| etwa von Präsident Emilio Médici feiern – dieser überreichte ihm einen | |
| goldenen Ball. Auch nach dem WM-Triumph 1970 gab es Shakehands mit dem | |
| Despoten. | |
| Das Material dieses Films ist toll: Es gibt eindrückliche Interviewpassagen | |
| mit dem heute 80-jährigen Edson Arantes do Nascimento (Pelés bürgerlicher | |
| Name). Er sitzt dabei in einem großen leeren Raum, völlig auf das Gespräch | |
| konzentriert, anfangs sieht man ihn mit einer Gehhilfe hineinkommen und | |
| sich setzen. | |
| ## Die Gelegenheit, Klartext zu reden, lässt er aus | |
| Als Pelé gefragt wird, was sich damals mit der Etablierung der | |
| Militärdikatur geändert habe, antwortet der: „Es gab keine spürbaren | |
| Veränderungen. Auf jeden Fall nicht für mich.“ Sätze wie diese, die eine | |
| gefühlte Ewigkeit im Raum stehen, wirken in dem Setting doppelt krass. Man | |
| muss dazu sagen: Nicht alle Äußerungen Pelés zu dem Thema sind derart | |
| irritierend. Aber die Gelegenheit, Klartext zu sprechen, lässt er aus. | |
| Später ist Pelé im Rollstuhl im Kreise der früheren Mitspieler seines | |
| brasilianischen Teams FC Santos zu sehen – die alten Herren erinnern sich | |
| an die großen Zeiten. Zwischendurch werden Szenen von den | |
| Weltmeisterschaften gezeigt, auch Aufnahmen vom FC Santos, damals eine | |
| Sensation des Weltfußballs. Gegengeschnitten werden die farbigen | |
| Fußballspektakel-Sequenzen gelegentlich mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom | |
| brutalen Vorgehen der Militärs im Lande. | |
| Interviewt werden unter anderem ehemalige Mitspieler wie Paulo César Lima | |
| („Nur eine Äußerung von Pelé gegen die Diktatur hätte viel bewirkt“), | |
| Pelés Schwester Maria Lucia, der [1][große Musiker Gilberto Gil] sowie | |
| Fernando Henrique Cardoso, brasilianischer Präsident von 1995 bis 2003. | |
| ## Symbol der brasilianischen Emanzipation | |
| Inhaltlich konzentriert sich der Film auf die Jahre 1958 bis 1970, die | |
| großen Karrierejahre Pelés. Recht knapp wird sein kometenhafter sportlicher | |
| Aufstieg beschrieben, vor allem seine triumphalen Auftritte bei den | |
| WM-Siegen 1958 (als 17-Jähriger) und 1970 stehen im Zentrum. Auch hier wird | |
| gut eingefangen, was Pelé und die Seleção jeweils für das Land bedeuteten. | |
| Ende der 1950er Jahre war Pelé zunächst ein „Symbol der brasilianischen | |
| Emanzipation“, wie Gilberto Gil sagt, und 1970 sorgte der WM-Titel für | |
| Ablenkung und Deeskalation, stützte aber zugleich natürlich auch das | |
| Militärregime. „Pelés Erfolge waren eng mit dem nationalen Ruhm verbunden�… | |
| sagt Ex-Präsident Cardoso treffend. „Gab es eine Diktatur, gewann sie mit | |
| ihm, gab es eine Demokratie, gewann sie genauso.“ | |
| Es ist aber wohltuend, dass diese Dokumentation sich nicht auf den | |
| politischen Aspekt beschränkt. Man erlebt hier auch den emotionalen Pelé | |
| einst und jetzt, einen Menschen, der den Fußball zweifelsohne liebt wie | |
| sonst nichts, man ist nah dran an dem Leader auf dem Feld, der in | |
| schwierigen Situationen in der Lage ist, ein Spiel an sich zu reißen. | |
| Als Typ kommt Pelé sympathisch rüber, auch wenn es wohlfeil klingt, wenn er | |
| heute sagt, er sei „immer bodenständig geblieben“. Die Widersprüchlichkeit | |
| seiner Person, die sich ja auch in seiner merkwürdig wankelmütigen Haltung | |
| gegenüber der Fifa gezeigt hat, wird insgesamt gut deutlich. Sein | |
| Liebesleben, drei Ehen und nicht wenige Affären, wird dagegen nicht allzu | |
| sehr ausgewalzt. | |
| Und dann darf man eben im Laufe der 108 Minuten zum Glück auch noch dies | |
| hier minutiös verfolgen: wie Pelé ein, zwei, drei, vier Gegenspieler | |
| aussteigen lässt und den Ball ins Netz schiebt, wie er sich zum Kopfball | |
| hochschraubt und scheinbar in der Luft steht, wie er sich die Kugel in der | |
| Mitte der eigenen Hälfte schnappt und über das Feld marschiert, wie er vier | |
| Gegner auf sich zieht, um dann den Ball zum Mitspieler abzulegen, wie er | |
| den Freistoß humorlos versenkt, wie er den Gegner überlupft, und wie er … | |
| und wie er … und wie er … | |
| 2 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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