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# taz.de -- Vor dem WM-Spiel Brasilien-Serbien: „Es ist ein riesengroßer Ego…
> Viele Seleção-Stars bekennen sich zum abgewählten, aber noch amtierenden
> Präsidenten Jair Bolsonaro. Aber es gibt auch andere Stimmen.
Bild: Neymar, Willian und Paulinho singen bei der WM 2018 Brasiliens Hymne
Ein junger Mann sitzt in einem Gaming-Sessel. Breites Lächeln, Silberkette.
Er wippt zur Musik und bewegt die Lippen zum Text. Mit seinen Fingern formt
er eine 22 – es ist die Wahlnummer von Präsident Jair Bolsonaro. In dem
Sessel: Fußballstar [1][Neymar].
Kurz vor der Präsidenten-Wahl ging das Tiktok-Video viral: Neymar
unterstützt Bolsonaro. Und Neymar deutete auch an, sein erstes Tor bei der
WM in Katar dem rechtsextremen Präsidenten zu widmen.
Der exzentrische Superstar ist nicht der einzige WM-Spieler Brasiliens, der
den abgewählten, aber amtierenden Präsidenten unterstützt. Auch der Kapitän
der seleção, Thiago Silva, und Abwehrspieler Dani Alves sympathisieren ganz
offen mit Bolsonaro. Die Spieler leisteten wichtige Schützenhilfe für
Bolsonaro. Denn sie sind mittlerweile eigene Marken.
Neymar hat alleine bei Instagram 180 Millionen Follower. Dort postete er
fleißig Wahlwerbung für Bolsonaro. Trotz aller Mühen verlor der
rechtsextreme Politiker Ende Oktober die Stichwahl knapp gegen den
Sozialdemokraten Luiz Inácio da Silva, besser bekannt als Lula. Bis
Jahresende ist er aber noch im Amt.
Viele Nationalspieler erklärten ihre Unterstützung für Bolsonaro, kaum
einer für Lula. Warum? „Die große Mehrheit schwimmt mit dem Strom“, sagt
Walter Casagrande. Der ehemalige Nationalspieler arbeitet heute als
bissiger TV-Kommentator. „Jedenfalls weigere ich mich zu glauben, dass sie
wirklich wissen, was Faschismus ist.“
Casagrande sieht Ähnlichkeiten in den Biografien vieler Profis: „Die große
Mehrheit der Spieler stammt aus armen Familien. Sie gehen nach Europa,
verdienen dort viel Geld und vergessen ihre Wurzeln.“ Die Spieler lebten
gut im Ausland, meint er. Für sie müsse sich in Brasilien nichts ändern.
„Es ist ein riesengroßer Egoismus.“
## Die Macht der Religion
Eine weitere Erklärung für rechtes Gedankengut unter Fußballspielern ist
die Religion. Die ultrakonservativen Pfingstkirchen haben immer mehr Zulauf
in Brasilien, sie könnten laut Berechnungen schon in zehn Jahren die größte
Religionsgemeinschaft des Landes werden. Gerade in den armen Vorstädten
sind die Kirchen aktiv – dort, wo viele Fußballspieler groß geworden sind.
Auch Neymar ist evangelikal. Ex-Kicker und Kommentator Casagrande meint:
„Sie unterstützen Bolsonaro, weil er von Gott spricht. Er benutzt den
Glauben, um die Menschen zu manipulieren.“
Bei manchen Spieler könnte es auch persönliche Gründe geben, warum sie den
Präsidenten unterstützen. Es gibt Spekulationen über einen Steuer-Deal
zwischen Neymar und Bolsonaro. Vor drei Jahren nahm der ultrarechte
Präsident Neymar öffentlich in Schutz, als Vergewaltigungsvorwürfe gegen
ihn laut wurden. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt. Der
Präsident hilft den Spielern. Und die helfen später dem Präsidenten.
Dass Politiker versuchen, den Fußball für ihre Zwecke zu nutzen, ist nicht
neu. „1970 wurde Brasilien bei der WM in Mexiko zum dritten Mal
Weltmeister. Und die Militärregierung nutzte den Titel für die eigene
Propaganda. Das passiert jetzt wieder mit Bolsonaro. Die Regierung hat die
Nationalmannschaft für ihre Zwecke missbraucht.“ Das sagt Gerd Wenzel. Der
gebürtige Deutsche lebt seit seiner Kindheit in Brasilien. Während der
Diktatur arbeitete Wenzel als Pastor, mehrfach wurde er von den Schergen
des Regimes verhaftet. Heute arbeitet der 79-Jährige als Fußballkommentator
und gilt als Stimme der Bundesliga in Brasilien. Die Militärdiktatur, unter
der Wenzel gelitten hat, wird von Bolsonaro immer wieder verherrlicht.
## „Sie haben das gelbe Trikot gekapert“
Und dann ist da noch die Sache mit den gelben Nationaltrikots. Bolsonaro
hat das Trikot in den letzten Jahren zum Symbol seiner rechtsautoritären
Bewegung gemacht. „Sie haben das Trikot gekapert“, sagt Wenzel. Besonders
schlimm wurde es in den letzten Wochen – nachdem Bolsonaro die Wahl
verloren hat. Die Anhänger*innen des Präsidenten gehen seitdem in den
gelben Fußballtrikots auf die Straße, blockieren Autobahnen, belagern
Armee-Stützpunkte. Und sie prangern einen vermeintlichen Wahlbetrug an. Es
gibt Videos von Bolsonaro-Fans, die den Hitlergruß zeigen – und dabei das
gelbe Nationaltrikot tragen.
Begonnen hat das bereits 2015. Auf Massendemonstrationen wurde der
damaligen Präsidentin Dilma Rousseff Korruption vorgeworfen – und auch dem
Ex-Präsidenten Lula. Beweise gab es kaum. Doch die Welle der Empörung gegen
„die da oben“ war ins Rollen gekommen. Und die Nationalfahne und das gelbe
Trikot wurden zum Symbol dieser Empörung. Mit Bolsonaro an der Spitze.
Heute, kurz vor der WM in Katar, versucht der brasilianische Fußballverband
CBF, etwas von diesem Schaden wieder zu reparieren. Das gelbe Trikot soll
mit einer [2][Imagekampagne] „entpolitisiert“ werden. Ob das Erfolg haben
wird, ist fraglich.
## Die linke Tradition des brasilianischen Fußballs
Es gibt aber auch eine linke Tradition im brasilianischen Fußball. Beim
Fußballclub Corinthians aus São Paulo wurde 1982 die „democracia
corinthiana“, die Corinthians-Demokratie, eingeführt. Es war ein
basisdemokratisches Experiment, alles wurde fortan kollektiv entschieden.
Jeder hatte eine Stimme, vom einfachsten Angestellten bis zum Superstar.
Und der Verein wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition.
Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschaften gegen die
Diktatur. „Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie“, lautete ihr
Leitspruch. Der selbstverwaltete Verein gewann im Jahr 1982 überraschend
die Meisterschaft. Einer der Köpfe der Bewegung: Walter Casagrande, auch
Superstar [3][Sócrates] war dabei. „Unser Engagement hatte ein weltweites
Echo“, sagt Casagrande. „Aber wir wurden verfolgt.“
Deshalb ist es für Casagrande schwer zu ertragen, dass einige Spieler heute
einen Präsidenten unterstützen, der die Verbrechen der Militärdiktatur ganz
offen verherrlicht.
Aber nicht alle Nationalspieler der WM-Elf unterstützen Bolsonaro. Der
Tottenham-Stürmer Richarlison kritisierte den Präsidenten indirekt in den
sozialen Medien. Außerdem engagiert er sich gegen Rassismus, für den
Umweltschutz. Und er spendet 10 Prozent seines Gehalts für soziale
Projekte. Während der WM wird sich aber auch Richarlison wahrscheinlich
nicht äußern.
Trotz aller Kritik wird der ehemalige Nationalspieler Walter Casagrande die
WM im Fernsehen verfolgen. Er verspüre keine Liebe für diese
Nationalmannschaft, finde sie unsympathisch. „Aber ich hoffe trotzdem, dass
Brasilien den Titel gewinnt.“
27 Nov 2022
## LINKS
[1] /!5882782/
[2] https://www1.folha.uol.com.br/esporte/2022/11/cbf-realiza-campanha-para-des…
[3] /Socrates-ist-tot/!210456/
## AUTOREN
Niklas Franzen
Carsten Wolf
## TAGS
Fußball-WM
Brasilien
Seleçao
Dokumentarfilm
Viertelfinale WM 2018
Frauen-WM 2019
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