# taz.de -- Mordfall Oury Jalloh: „Ich schwöre, ich wars nicht“ | |
> Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh. Wenn er sich nicht selbst getötet | |
> hat, wer dann? Die taz fragte am Einsatz beteiligte Polizisten. | |
Bild: Die Zelle 5 des Polizeireviers Dessau-Rosslau, aufgenommen 2011 | |
Einst war Udo S. Polizist, heute ist er pensioniert und lebt mit seiner | |
Frau in einer Siedlung am Waldrand im Süden Sachsen-Anhalts. Der Rasen ist | |
gepflegt, am Carport hängt ein Weihnachtsstern. Ob man mit ihm über den Tod | |
Oury Jallohs sprechen könne? „Kommen Sie rein“, ruft er zum Gartentor. | |
S. ist einer der beiden Beamten, die den Sierra Leoner [1][Oury Jalloh] am | |
7. Januar 2005, vor genau 17 Jahren, in der Dessauer Innenstadt aufgriffen, | |
auf die Polizeiwache brachten und auf einer Matratze fixierten. Und die vor | |
Gericht widersprüchliche Angaben darüber machten, wie die Stunden | |
verliefen, bis Jalloh auf dieser Matratze verbrannte. | |
Seine 73 Jahre sieht man S. nicht an. Er ist schlank, trägt | |
Rollkragenpullover und eine knallrote Hose. Jeden Morgen mache er hier im | |
Wald seine Runde, um sich fit zu halten, erzählt er. Es ist das erste Mal, | |
dass er mit der Presse über Jallohs Tod spricht. „Einmal stand RTL hier an | |
der Tür, die hab ich rausgeschmissen.“ Aber jetzt will er reden. | |
Von sich aus benennt S. viele der Merkwürdigkeiten bei Jallohs Tod: Dass | |
der Brand so heiß gewesen sei, dass man an Brandbeschleuniger denken | |
könnte. Dass das Feuerzeug, mit dem Jalloh sich selbst angezündet haben | |
soll, erst Tage später gefunden wurde. Dass es im Laufe der Zeit gleich | |
drei Todesfälle auf dem Dessauer Polizeirevier gegeben habe. Doch er | |
beharrt darauf, dass Jalloh sich selbst verbrannt habe. „Wer hätte das | |
sonst tun sollen?“ | |
## Nichts ist erledigt | |
Seit 17 Jahren wird es nicht still um den Feuertod Jallohs. Es gab | |
Gerichtsverfahren, Urteile, Gutachten, Untersuchungsberichte, private | |
Recherchen, Medienberichte, Filme. Für die Justiz in Sachsen-Anhalt ist der | |
Fall offiziell erledigt. Das letzte Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, | |
weil sich keine beweisbaren Anhaltspunkte ergeben hätten, die eine | |
Entzündung der Matratze durch Oury Jalloh „ausschließen können und die eine | |
Entzündung durch Polizeibeamte oder durch bestimmte Dritte belegen“, | |
schreibt die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg auf taz-Anfrage. | |
Für die Familie Jallohs, die Nebenkläger, ist nichts erledigt. Am heutigen | |
Freitag zeigte sie die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beim | |
Generalbundesanwalt an – wegen Strafvereitelung im Amt. Wenn es sein muss, | |
will die Familie noch bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte | |
in Straßburg klagen. | |
Genau wie sie glaubte auch der zwölf Jahre lang mit dem Fall befasste | |
Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann am Ende seiner Dienstzeit, dass | |
Jalloh getötet wurde. Doch als Bittmann in den Ruhestand ging, wurde das | |
Ermittlungsverfahren eingestellt. So lautet die offene Frage: Wenn Jalloh | |
sich nicht selbst angezündet hat – wer war es dann? | |
Es gibt dazu konkrete Theorien. 2017 spricht Staatsanwalt Bittmann zum | |
ersten Mal offiziell von einem möglichen Mord an Jalloh. Auch die | |
Nebenklage – die Familie des Toten und die private [2][Initiative Gedenken | |
an Oury Jalloh] – glaubt daran. | |
## „Ich bin mit mir im Reinen“ | |
Als Verdächtige wurden zwischenzeitlich von der Staatsanwaltschaft Dessau | |
zwei Polizeibeamt:innen benannt, die Nebenklage hält hingegen zwei | |
andere Beamte für die Täter. Alle waren am Todestag im Dessauer Revier im | |
Dienst. Ein Beamter ist verstorben, drei leben noch. Öffentlich geäußert | |
hatte sich bislang keiner von ihnen. Warum fiel der Verdacht auf sie? Und | |
wie hat Jallohs Tod ihr Leben verändert? Die taz hat sie ausfindig gemacht | |
und zu den Anschuldigungen befragt. | |
Bei den Verdächtigen der Nebenklage handelt es sich um die Beamten Udo S. | |
und Hans-Ulrich M. Sie haben in Vernehmungen widersprüchliche Aussagen zum | |
Verlauf des fraglichen Vormittags gemacht und sich in ihren Alibis | |
gegenseitig widersprochen. M. und S. hatten Jalloh am Morgen seines | |
Todestages in der Dessauer Innenstadt in Gewahrsam genommen und auf die | |
Wache gebracht. M., heute 59, ist mittlerweile in einem anderen | |
Polizeirevier im Dienst. Udo S. ist seit 2008 im Ruhestand. | |
An einem Donnerstag Ende Dezember steht S. vor seiner Haustür und erzählt. | |
„Die Feuerwehr, das war mein Leben“, sagt er. Bis zur Wende arbeitete er | |
als Betriebsfeuerwehrmann beim VEB Gärungschemie Dessau. Nach der Wende | |
wurde der abgewickelt. Polizist sei er nicht gern geworden. Doch dort sei | |
man schnell verbeamtet worden, sagt S. Er erzählt von den vielen | |
gescheiterten Existenzen nach der Wende. „Frau weg, Job weg, aussortiert, | |
weil sie angeblich zu schlecht waren“ oder weil sie „eine zweite Lohntüte | |
hatten“ – er meint Stasi-IMs. Solche Männer habe er dann oft in der Wache | |
gehabt, zum Ausnüchtern. Doch dann seien die Drogen nach Dessau gekommen. | |
„Wir kannten nur Besoffene“, sagt er. „Aber Drogen – so was kannten wir | |
nicht. Die Leute entwickeln Kräfte, spüren keine Schmerzen mehr, da muss | |
man aufpassen.“ In Jallohs Blut wurden nach seinem Tod geringe Mengen | |
Kokain nachgewiesen. | |
Im Familienkreis sei der Fall „kein Thema“, sagt S. Doch auch 17 Jahre | |
später scheint er noch häufig daran zu denken. Bei Temperaturen um den | |
Gefrierpunkt steht er in seiner Einfahrt und hört nicht auf zu reden. „Ich | |
habe nichts gemacht. Ich schwöre“, sagt er. Und mehrfach: „Ich bin mit mir | |
im Reinen.“ Überhaupt, wer hätte Jalloh etwas antun sollen? „Hatte der da | |
Feinde? Im Revier? Hat das mal jemand recherchiert? Wer soll das getan | |
haben?“, fragt er. | |
## Widersprüchliche Aussagen | |
Udo S. erzählt von Jallohs Todestag: Wie er mit seinem Kollegen Hans-Ulrich | |
M. losgeschickt wurde. Wie sie Jalloh mitnahmen, weil der zwei | |
Straßenreinigerinnen belästigt haben soll. Bei Vernehmungen hatten die | |
Polizisten S. und M. ausgesagt, dass Jalloh um sich geschlagen habe. Udo S. | |
hielt ihn während der Fahrt im Schwitzkasten. „Ich habe nicht mit ihm | |
geredet, das ging ja gar nicht“, sagt er heute. Zu aufgebracht sei Jalloh | |
gewesen. | |
Um 9.15 Uhr an jenem Morgen nimmt ein Arzt Jalloh eine Blutprobe ab. Sie | |
ergibt 2,98 Promille. Um 9.30 Uhr sind Udo S. und Hans-Jürgen M. nach ihren | |
Schilderungen vor Gericht im Gewahrsamsbereich mit Jalloh fertig gewesen. | |
Bis 10 Uhr hätten sie Anzeigen geschrieben. Danach seien sie bis zum Mittag | |
wieder Streife gefahren. M. und S. konnten bei Vernehmungen keine genauen | |
Angaben dazu machen, wo sie in dieser Zeit gewesen sind. Ihr Fahrtenbuch | |
ist aus den Akten verschwunden. | |
S. und M. wollen nach 9.30 Uhr nicht mehr in Jallohs Zelle gewesen sein, | |
hätten demnach auch den erst nach 12 Uhr ausgebrochenen Brand nicht legen | |
können. Doch ihr Kollege Torsten B. sagte vor Gericht aus, die beiden gegen | |
11.30 Uhr in der Zelle 5 angetroffen zu haben – kurz vor dem Brand, als sie | |
mit dem Streifenwagen in der Stadt gewesen sein wollen also. | |
Sie hätten Jalloh da abgetastet, sagte der Kollege Torsten B. Er habe | |
Hans-Ulrich M. zum Mittagessen abholen wollen. Doch M. habe geantwortet, | |
dass er noch zu tun habe. Torsten B. sagt, er habe daraufhin allein | |
gegessen – und die beiden nicht in der Kantine gesehen. Doch eben da wollen | |
sie danach gewesen sein. | |
M. und S. machen einander ausschließende Angaben über diese Zeit: Als das | |
Feuer ausbrach, habe er sich zusammen mit Udo S. in der Kantine | |
aufgehalten, sagt Hans-Ulrich M. bei Vernehmungen. Udo S. aber sagt: „Nein, | |
ich kann mich erinnern, dass ich alleine war. Ich habe mir was zu essen | |
geholt, aber ich habe nur ein paarmal reingebissen, dann bin ich raus. Ich | |
stand alleine da, hatte die Bockwurst noch auf der Pappe. Dann habe ich | |
Rauch gesehen“, so Udo S. laut dem Vernehmungsprotokoll. S. sagte demnach, | |
er habe „die Wurst vor Augen, aber nicht M. Ich weiß nicht, wo M. war, als | |
ich die Bockwurst in der Kantine gegessen habe.“ | |
Nach dem Brand sei schnell wieder „Normalbetrieb“ gewesen auf dem Revier, | |
sagt Udo S. beim Gespräch in seinem Garten. Er habe gern mit dem Seelsorger | |
über den Vorfall gesprochen, obwohl er nicht an Gott glaube. Und er hätte | |
gern „mit der anderen Seite“ geredet, mit der Familie des Toten. Aber das | |
sei wegen der ganzen Vorwürfe nicht möglich gewesen. Zu Hans-Ulrich M. habe | |
er seit Jahren keinen Kontakt mehr. „Der war leicht aufbrausend“, sagt S. | |
über ihn. „Aber der war es auch nicht.“ | |
## Die Zweifel | |
Dreimal wurde Oury Jallohs Tod vor Gericht verhandelt. Gegen acht Beamte | |
wurde außerdem wegen Falschaussagen vor Gericht ermittelt, darunter Udo S. | |
und Hans-Ulrich M. Diese Verfahren wurden eingestellt. | |
Grundlage der Gerichtsprozesse war stets die Annahme, dass Jalloh die | |
Matratze, auf der er gefesselt war, selbst angezündet hat. Dafür soll er | |
ein Feuerzeug benutzt haben, das Hans-Ulrich M. bei seiner Durchsuchung | |
übersehen habe. M. wurde deshalb im ersten Verfahren in Dessau wegen | |
fahrlässiger Tötung angeklagt und [3][freigesprochen]. Für ihn gilt deshalb | |
der sogenannte „Strafklageverbrauch“ – er darf für die Sache nie wieder | |
belangt werden, auch wenn es neue Erkenntnisse über den Tathergang gäbe. | |
Bis heute hält die Justiz an der Annahme fest, dass Jalloh sich selbst | |
getötet hat. Die private Initiative Gedenken an Oury Jalloh hat dies schon | |
sehr früh für einen Irrtum gehalten – und über die Jahre viele Belege daf�… | |
vorgelegt. | |
Nach 12 Jahren kamen auch dem Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann | |
Zweifel. Im April 2017 schreibt er in einem Vermerk, er gehe davon aus, | |
dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers „mindestens handlungsunfähig | |
oder sogar schon tot“ war. Vermutlich sei er mit Brandbeschleuniger | |
besprüht und angezündet worden. | |
## Anfangsverdacht: Mord durch Polizeibeamte | |
Grundlage für Bittmanns Sinneswandel war ein Treffen von Gutachtern, das | |
Bittmann zuvor im rechtsmedizinischen Institut der Uni Würzburg anberaumt | |
hatte. Anwesend waren Brandexperten, Toxikologen, Rechtsmediziner und | |
Chemiker. Alle waren über Jahre mit dem Fall befasst. Am Ende sagte der | |
Toxikologie-Professor Gerold Kauert: „Das Würzburger | |
Sachverständigengremium kam zu dem Ergebnis, dass die Theorie der | |
Selbstentzündung nicht zu halten war.“ | |
Bittmann leitet ein Ermittlungsverfahren zur Klärung der Todesursache ein. | |
Er schreibt in einem Aktenvermerk vom „Anfangsverdacht eines Mordes“ durch | |
Polizeibeamte. Bittmann formuliert eine Theorie zum Motiv: „Bei einer | |
Zellenkontrolle könnten Polizeibeamte auf die Ohnmacht Oury Jallohs | |
aufmerksam und sich daraufhin bewusst geworden sein, dass schwere | |
Verletzungen oder gar das Versterben eines weiteren Häftlings neuerliche | |
Untersuchungen auslösen würden.“ | |
Jalloh – ein „weiterer“ toter Häftling? In Jallohs Zelle starb bereits 2… | |
Mario Bichtemann an einem Schädelbasisbruch. Woher dieser rührte, ist | |
unklar. Und auch Hans-Jürgen Rose, den die Polizei 1997 aufgegriffen hatte, | |
weil er betrunken Auto fuhr, wurde direkt nachdem er in Polizeigewahrsam | |
war leblos auf der Straße gefunden. Er starb an schweren inneren | |
Verletzungen. | |
Es gibt Parallelen zum Tod Jallohs. 2018 stellte ein Rechtsmediziner und | |
Radiologe von der Uniklinik Frankfurt fest, dass Jallohs Schädeldach, | |
Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen waren. Das spricht für | |
die Annahme des Staatsanwalts Bittmann. Der eröffnet im April 2017 ein | |
Ermittlungsverfahren wegen schwerer Brandstiftung gegen die | |
Polizeiobermeisterin Beate H., heute 53 Jahre alt, sowie gegen ihren | |
damaligen Kollegen Hartmut Sch., der damals mit ihr in Jallohs Zelle war. | |
Sch. starb im Februar 2017 im Alter von 63 Jahren. Der offenbar einzige | |
Grund für den Verdacht gegen die beiden: Sie haben Jalloh offiziell als | |
letzte lebend gesehen. | |
## Zeugin Beate H. | |
Beate H. ist an Jallohs Todestag als sogenannte Streifeneinsatzführerin im | |
Dienst. Zweimal kontrolliert sie Jallohs Zelle. Beim zweiten Mal wird sie | |
von Hartmut Sch. begleitet. Später geben beide an, Jalloh lebend auf der | |
Matratze fixiert angetroffen zu haben. Er habe eine halb heruntergezogene | |
Jeanshose getragen, auch andere Zeugen sprachen von einer blauen Jeans. Die | |
verbrannte Leiche allerdings trug eine Cordhose. Etwa 20 Minuten nach der | |
Zellenkontrolle bricht das Feuer aus. Der Alarm geht an. H. hört Jalloh | |
über die Gegensprechanlage nach Hilfe rufen. Doch die kommt nicht mehr | |
rechtzeitig. | |
Beate H. ist eine der wichtigsten Zeug:innen. Sie wird mehrfach von Polizei | |
und Staatsanwaltschaft vernommen. H. sagt zunächst aus, über die | |
Gegensprechanlage etwa eine halbe Stunde vor dem Alarm Geräusche wie von | |
einem klappernden Schlüsselbund aus Jallohs Zelle gehört zu haben. Niemand | |
hat einen zu dieser Angabe passenden Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch | |
eingetragen. H. belastet ihren Vorgesetzten, den angeklagten | |
Dienstgruppenleiter Andreas Sch., schwer. Der habe den Feueralarm aus | |
Jallohs Zelle ignoriert. Nach Recherchen der Hörfunk-Journalistin Margot | |
Overath wird Beate H. kurz nach Jallohs Tod in eine andere Dienststelle | |
versetzt. Fünf Wochen später lässt sie sich wegen psychischer Probleme | |
krankschreiben und begibt sich in Behandlung. Sie muss starke Medikamente | |
nehmen. Eine Kollegin habe sie jeden Tag weinen sehen. Mehr als zwei Monate | |
bleibt sie dem Dienst fern. Es gibt ein Gespräch zwischen Beate H., ihrem | |
Dienstgruppenleiter Andreas Sch. und dessen Anwälten. Danach zieht H. ihre | |
Aussage zurück. Vor Gericht entlastet sie ihren Vorgesetzten. Sie begründet | |
das damit, dass sie ihre früheren Aussagen nur so „herausgesprudelt“ habe | |
und erst später „die innere Kraft gehabt“ habe, die Protokolle ihrer | |
Aussagen zu prüfen. Sie habe unter Schock gestanden und „zunächst nicht | |
geahnt, dass ihr Zeugnis so wichtig“ werden könne. So notiert es ein | |
Prozessbeobachter. | |
Beate H.s Widersprüche werfen kein gutes Licht auf sie. Sie waren ein Grund | |
dafür, dass der Vorsitzende Richter den ersten Prozess eine „Schande für | |
den Rechtsstaat“ nannte. Auch gegen H. wurde wegen Falschaussage ermittelt. | |
Aber: Ihre mutmaßlichen Lügen deuten nicht darauf hin, dass sie selbst | |
Jalloh getötet haben könnte. In all den Jahren, in denen die Vorgänge in | |
der Zelle Nummer 5 immer genauer ausgeleuchtet wurden, kam vieles zutage – | |
aber kein mögliches Motiv von Beate H. und Hartmut Sch. Zudem hatten die | |
beiden praktisch keine Gelegenheit, einen Brand zu legen. | |
Erst 18 Monate, nachdem Beate H. der Brandstiftung beschuldigt wurde, wird | |
sie das erste Mal in der Sache vernommen. Sie verweigert die Aussage. Die | |
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg stellt das Verfahren gegen sie ein. | |
Doch warum zog Beate H. einst ihre ursprünglichen, so wichtigen Aussagen | |
vor Gericht zurück? Und warum sagt sie nichts zu dem Vorwurf, selbst den | |
Brand gelegt zu haben? H. lebt heute in einem kleinen Haus in einer | |
Neubausiedlung in Sachsen-Anhalt. Sie öffnet die Tür einen Spalt breit, ihr | |
Kopf bleibt hinter der Tür. Sie sagt sofort „Nein“ und schließt die Tür | |
direkt wieder. | |
## Einstellung des Verfahrens | |
Der Staatsanwalt Bittmann wollte das [4][Mordermittlungsverfahren] an den | |
Generalbundesanwalt übergeben. Doch der lehnt ab. Der Fall wird Bittmann | |
entzogen und an die Staatsanwaltschaft Halle übergeben. Bittmann geht in | |
Pension, seine Hallenser Kollegin Heike Geyer stellt das Verfahren ein. | |
Bald darauf wird Geyer Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg und | |
damit oberste Strafverfolgerin Sachsen-Anhalts. | |
Was bewog Bittmann, nach über zwölf Jahren plötzlich von einem Mord | |
auszugehen? Warum fiel sein Verdacht auf Beate H. und nicht auf Udo S. und | |
Hans-Ulrich M., die sich vor Gericht in wichtigen Punkten so stark | |
widersprochen hatten? | |
Bittmann arbeitet heute für eine große Kölner Wirtschaftskanzlei als | |
Anwalt. Auf Fragen zum Fall Jalloh will er nicht antworten. Die | |
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg sei zuständig, schreibt er und leitet | |
den Fragenkatalog der taz dorthin weiter. | |
Weil alle Ermittlungsverfahren „bestandskräftig eingestellt“ seien, | |
verbiete es sich, Auskünfte zu vormaligen Beschuldigten und Beteiligten zu | |
erteilen, schreibt diese. Die Persönlichkeitsrechte der „als unschuldig | |
geltenden Personen“ stünden dem entgegen. Ganz allgemein könne ein | |
Tatverdacht „niemals aus dem Umstand hergeleitet werden, dass jemand kein | |
Alibi gehabt hat oder womöglich über ein Motiv verfügte“. Auf bloße | |
Vermutungen hin lasse sich ein Tatverdacht nicht begründen, schreibt die | |
Strafverfolgungsbehörde. „Jedwede strafprozessuale Maßnahmen dienen nicht | |
der Herbeiführung eines Tatverdachts, sie setzen das Vorhandensein eines | |
solchen stets voraus.“ | |
Das soll heißen: Es sei juristisch korrekt gewesen, dass sich das | |
Mordermittlungsverfahren nicht gegen M. und S. gerichtet habe. | |
## Die falschen Verdächtigen? | |
Für die Initiative Gedenken an Oury Jalloh hingegen ist klar: Die | |
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg hätte die Akte nicht zuklappen dürfen, | |
sondern gegen Udo S. ermitteln müssen – Hans-Ulrich M. ist wegen des | |
„Strafklageverbrauchs“ nicht mehr zu belangen. Deshalb zeigt sie nun die | |
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beim Generalbundesanwalt an. | |
Die Initiative glaubt, dass Staatsanwalt Bittmann die richtigen Schlüsse | |
gezogen, aber die falschen Verdächtigen benannt hat. Bereits im Dezember | |
2017 hatte die Initiative deshalb Udo S. – erfolglos – beim | |
Generalbundesanwalt angezeigt: S. und Hans-Ulrich M. seien „gewalttätig | |
gegen Oury Jalloh vorgegangen“, heißt es in der Anzeige. Sie hätten | |
gewusst, dass Jalloh dadurch Verletzungen am Kopf und im Nasenbereich | |
davongetragen habe und dies vertuschen wollen. | |
Das klingt ähnlich wie die vom Staatsanwalt Bittmann vermutete Sorge | |
möglicher Täter über „neuerliche Untersuchungen“ zu „schweren Verletzu… | |
oder gar das Versterben“ weiterer Häftlinge. | |
Hans-Ulrich M. hatte am 8. Dezember 1997 Dienst, als Hans-Jürgen Rose kurz | |
nach Verlassen des Dessauer Reviers an inneren Verletzungen stirbt. Udo S. | |
wiederum war am 29. Oktober 2002 im Dienst, als Mario Bichtemann mit einem | |
Schädelbasisbruch tot in der Zelle 5 aufgefunden wurde. Allerdings: Es gibt | |
keine Hinweise darauf, dass S. oder M. etwas mit dem jeweiligen Tod zu tun | |
haben. | |
## Die Verdächtigen treffen sich – „ganz zufällig“ | |
Hans-Ulrich M. wohnt heute nicht mehr in Dessau. Als es an seiner Tür | |
klingelt, ist er nicht überrascht. Er trägt eine Polizei-Jogginghose, | |
öffnet schnell das Gartentor. Auch er nimmt sich Zeit, um zu erzählen. | |
„Dass ich das Feuerzeug übersehen habe, werfe ich mir immer noch vor“, sagt | |
er. Von der Mordtheorie hält er nichts: „Wie soll ein Polizist da fünf | |
Liter Benzin oder Grillanzünder reingeschafft haben?“ | |
M. arbeitet schon lange nicht mehr auf dem Revier in Dessau. Er habe dort | |
bleiben wollen, aber seine Vorgesetzten hätten ihn nach dem Tod von Jalloh | |
versetzt, um ihn „aus der Schusslinie“ zu nehmen, sagt er. | |
Mit seinem Kollegen Udo S. habe er seit vielen Jahren keinen Kontakt gehabt | |
– bis zur letzten Woche. Da habe er Udo in einem Dessauer Restaurant | |
getroffen, „ganz zufällig“, wie er behauptet. Der habe ihm dann auch | |
gesagt, dass Journalisten bei ihm gewesen seien. | |
Er redet weiter. Das übersehene Feuerzeug sei „menschliches Versagen“ | |
gewesen. Es gebe „nicht ein einziges Anzeichen, dass einer von meinen | |
Kollegen, die dabei waren, irgendwie rassistisch war“. Tatsächlich konnten | |
rassistische Einstellungen im gesamten Prozessverlauf bislang keinem der | |
angeklagten Beamt:innen nachgewiesen werden. | |
Dass bei Jalloh Brüche festgestellt wurden, weiß M. „Aber der wurde nicht | |
geschlagen von uns.“ Jalloh selbst habe seinen Kopf im Revier „auf den | |
Tisch geknallt“. | |
## Nicht abgeschlossen | |
M. sagt dasselbe wie früher: Dass er mit S. den Vormittag im Streifenwagen | |
unterwegs und nicht mehr in Jallohs Zelle war. Wie erklärt er, dass sein | |
Kollege Torsten B. dem widersprochen und mehrfach ausgesagt hat, die beiden | |
kurz vor dem Brand dort angetroffen zu haben? | |
„Der Torsten hat ja seine Aussage auch wieder zurückgezogen und gesagt, | |
dass es doch nicht am Mittag war. Wenn Sie so beschäftigt sind, gucken Sie | |
nicht auf die Uhr. Aber Mittag war das nicht mehr.“ So ähnlich sei es auch | |
mit seinem Essen mit Udo S. zur Brandzeit in der Kantine gewesen, an das S. | |
sich nicht erinnern konnte: Er, M., sei da kurz rauchen gewesen, danach sei | |
S. schon fertig gewesen mit seiner Bockwurst. | |
Richtig abgeschlossen sei die Sache für ihn nicht. „Das wäre sie nur, wenn | |
man nachvollziehen könnte, wo das Feuerzeug herkam, war es in seinem | |
Besitz, hat man es übersehen?“, sagt M. „Dann kann ich auch für mich sage… | |
Das ist mein Fehler, hab’ ich übersehen. Und so gibt es immer diese | |
Spekulation. Gab’s da noch einen Dritten oder sonst was? Andere Personen, | |
die mit der Gewahrsamsnahme zu tun hatten, sind ja gar nicht befragt | |
worden.“ Welche anderen das gewesen sein könnten, das wisse er auch nicht. | |
In diesem Jahr wird auch Hans-Ulrich M. in den Ruhestand gehen. Bis vor | |
Kurzem hatte er noch 2.500 Seiten Akten zum Tod von Oury Jalloh bei sich zu | |
Hause. | |
Von jedem Schriftsatz hatte sein Anwalt ihm eine Kopie zugeschickt. Gerade | |
habe er alles, was damit zu tun gehabt habe, vernichtet, sagt M. Er wolle | |
das Kapitel beenden. | |
7 Jan 2022 | |
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